Am 27. April d. J., Morgens früh 5 ¼ Uhr, ist bei Bouzey, einem kleinen französischen Orte in der Nähe von Epinal, der Bruch einer Thalsperre erfolgt, wodurch mehr als 100 Menschenleben, eine grosse Anzahl von Wohnstätten und Werthe im Betrage von mehren Mill. Frcs. im Laufe von höchstens ½ Stunde zerstört worden sind.
Der Fall gehört zu den schwersten dieser Art, welche bisher vorgekommen sind und erinnert einigermaassen an den aus den 80er Jahren bekannten Bruch einer Thalsperre bei Johnstown in Amerika. Wie hier, so scheint auch bei dem Fall von Bouzey Sorglosigkeit die Hauptursache gewesen zu sein. Es liegen aber beide Fälle insofern ungleich, als in Johnstown ein wolkenbruchartiger Regenfall die unmittelbare Veranlassung zur Zerstörung der Sperre bildete, während bei Bouzey von der Mitwirkung eines derartigen Faktors nichts Näheres verlautet hat.
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Französische Ingenieure haben yon jeher vielfache Gelegenheiten gehabt, Thalsperren zu bauen, die daher auf dem Boden ihres Landes in grosser Zahl anzutreffen sind. Dementsprechend verfügen die französischen Techniker über reiche Erfahrungen mit und an solchen Bauwerken und es hat sich auch bei ihnen zuerst eine eigentliche „Theorie“ solcher Konstruktionen herausgebildet. Auf der von den Franzosen entwickelten Theorie fusst alles dasjenige, was später von anderen (englischen und deutschen Forschern) an weiteren Beiträgen zur Sache geliefert worden ist. Beachtet sein will endlich der Umstand, dass die Sperrmauer von Bouzey bei weitem nicht zu den bedeutendsten Bauwerken dieser Art zählt, da sie, was ihre Höhe betrifft – die in diesem Punkte das am meisten entscheidende Merkmal abgiebt – von zahlreichen anderen Sperren um das Doppelte und mehr übertroffen wird. Durch alle diese Umstände wird die Katastrophe von Bouzey um so unverständlicher, wird das Gewicht der Vorwürfe, die man den betheiligten Personen mit Recht machen darf, um so schwerer. Um aber nicht Missverständnisse hervorzurufen, sei von vorn herein bemerkt, dass die Sperre von Bouzey mit theoretischen sowohl als praktischen Anforderungen in einem nicht aufgeklärten Widerspruche stand, und zwar nach mehren Richtungen hin, wie in Folgendem erwiesen werden soll.
Die Thalsperre von Bouzey ist in den Jahren 1879-1882 von den Ingenieuren Thon & Cahen erbaut worden. Ihr Zweck war die Aufspeicherung von rd. 7 000 000 cbm Wasser für die Speisung des grossen Ost-Grenzkanals, der bekanntlich nach dem Kriege von 1870/71 zum Ersatz der verlorenen elsass-lothringischen Wasserwege angelegt ist. Die Wassermenge wird durch Aufstau des Flüsschens Avière gewonnen und es ist mittels des Baues der 432 m langen Sperrmauer ein künstlicher See von 128 ha Wasserfläche geschaffen worden, dessen Längenerstreckung mehre Kilometer betrug. Die Sperre erreichte vom Grunde des Beckens an gerechnet ihre grösste Höhe mit 16 m; einschl. der Gründungstiefe von 13,3 m war in der Thalsohle eine Mauerhöhe von fast 30 m vorhanden. Der Wasserablass zum Kanal war an dem einen Ende der Sperre angelegt; über Lage und Konstruktionsweise eines Grundablasses – der jedenfalls vorhanden gewesen sein wird – ist bisher nichts näheres bekannt geworden. Etwas seltsam berührt die Lage der Sperre zum
Dorfe Bouzey, indem sich letzteres fast unmittelbar bis zur Rückseite der Sperre in dem nur wenig tief eingeschnittenen Thale ausbreitet; um ein geringes Stück weiter abwärts überschreitet der aus dem Becken gespeiste Ost-Grenzkanal das Thal.
Die Sperre, deren ursprünglich – grösstes – Profil in Abb. 1 dargestellt ist, hat folgende Stärke: in der Krone 4 m, in halber Höhe (11 m abwärts) 5,5 m, im Fundament (22 m abwärts) 13,3 m; es beträgt daher die Stärke in halber Höhe genau nur die Hälfte dieser Höhe, ein Maass, das für diese Stelle von vorn herein etwas stutzig machen muss, Das umsomehr, als das Profil eine Formgebung zeigt, welche von französischen Ingenieuren öfter angewendet wird, der gewisse Aenderungen aber von wesentlichem Vortheil sein würden; diese Aenderungen beziehen sich auf die wasserseitige Gestalt des Profils. Dasselbe ist hier senkrecht begrenzt und zwar bis zur Fundamentsohle hinab, während in den meisten Fällen wenigstens im unteren Theile dem Profil ein geringer Anlauf gegeben wird und gewöhnlich auch noch eine kleine Fussverbreiterung erfolgt. Die gut begründete Anordnung des Anlaufs hat den Zweck, eine gewisse Wasserdruckgrösse für den Widerstand der Mauer gegen Umkippen nutzbar zu machen, während durch die Fussverbreiterung eine Verminderung des spezifischen Sohlendrucks erzielt werden soll. Auf beide Zwecke ist bei der Sperre von Bouzey verzichtet worden aus Gründen, die hier gleichgiltig sind; es muss aber bemerkt werden, dass beide Unterlassungen bei der stattgefundenen Zerstörung der Mauer einen klar ersichtlichen Einfluss nicht geäussert haben. Denn der Grund derselben ist hauptsächlich darin zu sehen, dass bei der durchgehends ungenügenden Profilstärke der Mauer die Drucklinie für gefüllten Zustand der Sperre fast auf die ganze Höhe der Mauer ausserhalb des mittleren Drittels fällt, wie in Abbildg. 1 angegeben; der grösste Ausschlag der Drucklinie findet im mittleren Theil der Höhe statt. Bei dieser Lage der Drucklinie erlitt das Mauerwerk an der wasserseitigen Begrenzung Zugspannung und an der hinterseitigen hohe spezifische Pressungen ; die unter gewissen Voraussetzungen ermittelten Pressungszahlen sind der Fipur eingeschrieben. Diese Zahlen bleiben hinter den wirklich erreichten jedenfalls noch zurück. Beim Mauerwerk der Thalsperre müssen aber aus erkennbaren Gründen Zugspannungen so gut wie ausgeschlossen sein.
Ungeachtet der Fehler, die bei der Profilbestimmung vorgekommen sind, hätte die Sperre vermöge der hohen Sicherheits-Koeffizienten, welche bei Mörtel- und Steinfestigkeiten allgemein angewendet werden, ihre Standfestigkeit vielleicht bewahren können, wenn nicht ein grober Fehler auch bei ihrer Gründung vorgekommen wäre. Der Boden zeigt an der Stelle der Sperre wechselnde Schichtung und ist überhaupt nicht von günstiger Beschaffenheit. Zu oberst liegt eine 3,3 m starke Lage von Alluvium, darunter 2,8 m hoch Schiefer, darnach folgend weicher und zerklüfteter Buntsandstein, in welchem noch dazu eine Thonschicht eingebettet liegt. Erst in etwa 10 m Tiefe geht der weiche Buntsandstein in festes Gestein über. Bei dieser Zusammensetzung des Bodens wäre es unbedingt nothwendig gewesen, mit der Fundamentsohle etwas mehr als 10 m tief hinabzugehen. Vermuthlich aus falsch angewendeter Sparsamkeit hat man dies unterlassen, vielmehr die Fundamentsohle in den oberen Theil der weichen und undichten Buntsandsteinschicht gelegt. Aber nicht nur das, sondern es ist der weitere Fehler begangen worden, die Fundamentsohle in grosse Nähe der eingelagerten Thonschicht zu bringen. Als Mittel gegen das Durchsickern von Wasser unter der Sohle ist bei den französischen Ingenieuren die Anlage einer kleinen sogen. Dichtungsmauer am vorderen Fuss der Sperre beliebt; dieselbe ist nach Abbildg. 1 auch bei der Sperre von Bouzey ausgeführt.
Die Folgen der geschilderten fehlerhaften Gründungsweise haben sich bald gezeigt. Als am 15. März 1884 das Becken bis auf 3 m unter Normalspiegel (also 13 m hoch) gefüllt war, trat eine Verschiebung des mittleren Stücks der Sperre in der Länge von 120 m ein, bei der nicht nur die Krone, sondern auch die Basis um 30 cm (nach anderen Nachrichten sogar um 37 cm) aus der Linie rückte; das war der Pfeil des Bogens, nach welchem sich die Verschiebung vollzog. Selbstverständlich entstanden dabei grössere Risse in den Mauern und zeigten sich auch bedeutende Durchsickerungen des Wassers an der Fundamentsohle, da eine Trennung der Sperre von der Dichtungsmauer eingetreten war; die Durchsickerungen sollen sehr grosse gewesen sein.
Was zunächst zur Abhilfe dieser Schäden geschah, scheint nur unzulängliches Stückwerk gewesen zu sein. Zu einer mehr gründlichen Abhilfe der Schäden schritt man erst in den Jahren 1888 und 1889 und dieselbe bestand ausser Dichtungsarbeiten an der Fundamentsohle in der Aufführung einer Verstärkung am Fusse der Rückseite der Sperre; diese Verstärkung ist in Abbildg. 2 angegeben. Desgleichen wurde eine besondere Dichtung von der Form eines Kreissektors am Fusse der Vorderseite der Mauer ausgeführt.
Die Verstärkung hat sich gegen Verschieben der Mauer auf der Fundamentsohle als ausreichend erwiesen. Denn die Zerstörung der Sperre ist nicht durch einen etwaigen weiteren Fortgang der Verschiebung, die im Jahre 1884 vorgekommen war, erfolgt, vielmehr durch Abbrechen der Mauer im mittleren Theil der Höhe (oberhalb der Verstärkung) und theilweises unmittelbares Umkippen des abgebrochenen Theils. Das herausgerissene Mauerstück hat 171 m Länge und im Durchschnitt 9,70 m Tiefe. Wenn man sich 1888/89 bei den Rekonstruktions-Arbeiten nicht so eng begrenzt, sondern die Verstärkung des Fusses um 4-5 m weiter nach oben fortgesetzt hätte, wäre die Katastrophe muthmaasslich vermieden worden. Sie trat übrigens ein, in dem Augenblicke, als am 27. April die Füllung des Beckens sich dem normalen Spiegelstande näherte, unter dem sie nur 8 cm zurückblieb. Es ist nicht bekannt, ob dieser Füllungszustand schon einmal zuvor, oder am verhängnissvollen Tage zum ersten mal erreicht worden ist. Doch scheint allen Nachrichten zufolge letzteres der Fall gewesen zu sein. Die Sperre enthielt zurzeit des Unfalls 7 000 000 cbm Wasser, welche bis auf einen geringen Theil entwichen.
Von der zerstörenden Gewalt des Durchbruchs des Wassers giebt die Thatsache ein Bild, dass die Wassermassen im Laufe von nur ½ Stunde einen 20 km abwärts gelegenen Ort erreicht haben, also mit der durchschnittlichen Geschwindigkeit von 11 m in 1 Sek. dahin gebraust sind.
Aus der vorstehenden Darlegung der Thatsachen wird man entnehmen, dass es sich bei der Katastrophe von Bouzey um das Nacheinander-Wirken mehrer Ursachen handelt. Die Ursachen No. 1 und 2 bestanden in Fehlern bei der Formgebung des Profils und der Gründung der Mauer. Als Ursachen No. 3 und 4 wirkten Aufschub und schliessliche mangelhafte Ausführung der Reparatur und als Ursache Nr. 5 (die dem Betriebe aufs Konto zu setzen ist) mag man schliesslich Leichtsinn bei der Füllung annehmen. Denn die Schwäche der Sperre war bekannt; es musste daher ausgeschlossen sein, dieselben bis aufs äusserste Maass des Zulässigen in Anspruch zu nehmen.
Als ein weiterer Grund für das Unglück ist auch der angeführt worden, dass die Sperre gegen das Thal in gerader Richtung, statt in geschwungener Form, die konvexe Seite dem Wasser zugekehrt, geführt war. Der Grund ist nicht ganz von der Hand zu weisen; doch tritt seine Bedeutung derjenigen der anderen gegenüber u. E. stark zurück. Dies zu erweisen, würde ein weiteres Eingehen auf die theoretische Seite des Gegenstandes erfordern, die nicht in der Absicht des Verfassers lag. Wer sich nach dieser Richtung etwas näher zu unterrichten wünscht, sei auf eine bezügl. Arbeit von Bühler (Centralbl. d. Bauverwaltg.) verwiesen. Doch mag nicht unterlassen werden, hinzuzufügen, dass eine genaue Untersuchung sich nicht auf die rein statische Seite der Aufgabe beschränken darf, sondern manche andere Momente (auch solche rechnerischer Art) inbetracht ziehen muss, welche mehr oder weniger grossen Einfluss üben, deren Hereinziehung aber die Aufgabe der vollständigen theoretischen Untersuchung einer Sperrmauer zu einer kaum lösbaren Aufgabe macht.
Dieser Artikel erschien zuerst am 03.07.1895 in der Deutschen Bauzeitung, er war gekennzeichnet mit „-B.-„