Das Ganze Halt!

Manöverbetrachtungen von Richard Schott. Viele Stunden lang hat das Gefecht hin und her gewogt. Seit Morgengrauen sind die Truppen auf den Beinen, und jetzt hat die Sonne ihren Höhepunkt längst überschritten.

Das war wieder ein Gelaufe heute! Erst fünf Stunden Chaussee und nicht die geringste Fühlung mit dem Feind. – Endlich ein paar Schüsse drüben am Waldrand. Aha! Jetzt geht’s los. Wenn man nur erst drin ist im Knallen, dann macht es Spaß. Dann ist es auch abzusehen; denn wo wir eingreifen, da platzt die Bombe bald. – Richtig!

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„Kompagniekolonne formieren!“ ruft der Bataillonsadjutant im Vorüberjagen. Es wird ausgeschwärmt. Langsam, aber sicher geht die Schützenlinie vor. „In den Graben! Nieder!“ ertönen die Kommandorufe. „Auf die feindliche Schützenlinie vor dem Wald! 400 Meter! Kleine Klappe! Ruhig zielen!“

Husaren im Lager

Eine Weile geht nun das Geschieße – hinüber, herüber. Es ist eine Wonne, endlich einmal ein paar Minuten zu liegen mit dem schweren Tornister auf dem Buckel. Aber das Vergnügen hält nicht lange vor. „Auf! – Marsch! Marsch!“ befiehlt der Kompagniechef wieder. – Und vorwärts geht es über Sturzacker, durch Kartoffeln und Rüben. Von hinten her donnern die Geschütze Hurra! – Das Gehölz ist genommen Der Sieg ist unser! – – Aber was ist das? – Ein Schiedsrichter kommt herangesprengt. „Das Bataillon hinter den Wald zurück!“ ruft er dem Major zu. Also war es nichts mit dem Sieg ? – Nein! Gewiß haben die unsrigen an anderer Stelle nicht so viel Schneid entwickelt, denn sonst – – –

Das Gelaufe beginnt aufs neue. Zurück und vor, wieder zurück und wieder vor, bis die beiderseitigen Kolonnen durch Verschiebungen und Flügelmärsche sich so ineinander verbissen haben, daß es zur Entscheidung kommen muß.

Auf Vorposten

Aus den fünf Stunden, die man unterwegs war, sind inzwischen zehn geworden, und die Sonnenglut hat mittlerweile auch nicht abgenommen. Von dem Thee in der Feldflasche ist längst kein Tropfen mehr vorhanden, die Zunge klebt am ausgetrockneten Gaumen, und der Magen fängt auch bedenklich an zu knurren. Aber noch immer donnern von den Höhen rings umher die Geschütze, noch immer knattern die Maschinengewehre, noch immer erklingt von allen Seiten der dumpfe Klang der Trommeln, die zum Angriff schlagen.

Da erscheint endlich am Signalballon der Manöverleitung das langersehnte Zeichen. Mit Jubel.

nehmen es die Hornisten und Trompeter auf, und bald ist bis in das äußerste Winkelchen des weiten Manöverfeldes die Freudenbotschaft gedrungen, die alle Mienen heiter werden läßt: „Das Ganze halt!“

Sofort werden nun die Gewehre zusammengesetzt, und während der Kommandeurruf die Herren Offiziere zur Kritik bescheidet, dürfen sich die Mannschaften zum erstenmal an diesem heißen Tag für ein Stündchen der wohlverdienten Ruhe überlassen, und sie machen von dieser Erlaubnis ausgiebigen Gebrauch.

Bei der Kritik

Dann heißt es noch einmal: „Das Gewehr über! – Bataillon ohne Tritt marsch!“ Nun aber weiß man, daß es nicht mehr lange dauern kann. Wenn man nicht gerade das Pech hat, auf Vorposten zu kommen, geht es in die Quartiere, falls solche vorgesehen oder zu haben sind, oder wenigstens doch ins Biwak.

Auch dort giebt es ja noch mancherlei zu thun. Die Kochlöcher müssen gegraben, die Manöverbedürfnisse empfangen und verteilt und die Zelte aufgeschlagen werden. Die berittenen Waffen haben überdies noch für ihre Pferde zu sorgen: eine nicht geringe Mühe, die von den nichtberittenen und müdegelaufenen Vaterlandsverteidigern immer sehr wohlthuend als gerechter Ausgleich empfunden wird. Im Vergleich zu den Strapazen, die man hinter sich hat, sind das alles aber nur Kleinigkeiten. Wenn man überdies etwas Vernünftiges im Magen hat, verschmerzt man schnell alle Mühsal und Beschwerden, sieht man die Welt mit ganz andern Augen an, und bald entfaltet sich nun das bunte, fröhliche Treiben des Lagerlebens.

Beim Abkochen

Der Marketender ist auch gerade rechtzeitig herangekommen. Ein Fäßchen nach dem andern wird angezapft und ergießt seinen Inhalt in die durstigen Kehlen. Vergessen sind die Mühen des Tages. Das junge Soldatenblut ist bald aufgefrischt. schon mit dem Zauberruf „Das Ganze halt!“ hat der Auffrischungsprozeß begonnen. Es wird gescherzt, geplaudert und gesungen,

Drei Lilijen, drei Lilijen,
Die pflanzt ich auf mein Grab.
Da kam ein schönes Mä ädchen
Und pflückt – sie – ab.“

Wer kennt nicht dieses schöne Lied, dessen tiefsinnigen Inhalt noch niemand ergründet hat und das sich doch von Generation zu Generation ebenso treu fortpflanzt wie der Stolz auf die Regimentsnummer, und wie all die andern schönen Lieder, die nun mit ungeschwächter Lungenkraft hinausgeschmettert werden in die Abendluft, nicht immer zum Vergnügen der Einwohner.

Nur die Vorgesetzten haben meist noch keine Zeit, sich der Erholung hinzugeben. Der weise Kommandeur sucht sich auf dem Laufenden zu erhalten. Er kann sich nicht mit gutem Gewissen zur Ruhe legen, bevor er nicht weiß, was rings um ihn her vorgeht, um daraus schließen zu können, was morgen passieren wird und wessen er sich zu versehen hat. Bis in die Vorpostenkette schickt er nötigenfalls seine Offiziere vor, um auch über die Bewegungen und Vorkehrungen des Feindes nach Möglichkeit unterrichtet zu sein. Ebenso eifrig ist auch der Herr Kompagniechef noch am Werk. An irgendeinem stillen Plätzchen versammelt er seine Offiziere und Unteroffiziere um sich, um mit ihnen die Vorkommnisse des Tages zu besprechen, zu belehren, zu ermahnen und neue Befehle und Verhaltungsmaßregeln zu geben, denn er fühlt die Last der Verantwortlichkeit schwer auf seinen Schultern ruhen.

Endlich aber hat auch der Vorgesetzte sein Tagewerk vollbracht, und wenn dann der Zapfenstreich verklungen, das Gebet gesprochen ist, zieht alles sich zum Schlummer zurück, von dem man ja nie wissen kann, wie bald er durch Alarmsignale unterbrochen werden wird. Bald nach neun Uhr ruhen Freund und Feind unter dem Schutz des Frieden gebietenden „Das Ganze halt!“, das ja leider nur das Manöver kennt, nicht auch der wirkliche Krieg.

Infantrie im Manöverlager

Noch bedeutungsvoller, noch heißer herbeigesehnt, mit noch größerem Jubel begrüßt ist das die Uebung unterbrechende Signal am letzten Manövertag. Heißt es doch für viele diesmal noch im weiteren Sinn: „Das Ganze halt!“ – Deine Dienstzeit ist nun vorüber. In wenigen Stunden sitzest du in dem Zug, der dich in die Heimat bringt.

Ob aber auch in bessere, angenehmere Verhältnisse ? Das ist vielen doch sehr fraglich, denn sie wissen, daß zu Hause schwere Arbeit ihrer harrt, vielleicht auch knappe Kost, bei der sie oft noch an die gutgefüllten Schüsseln der Mannschaftsküche werden denken müssen.

An diesem Tag wartet man mit dem Singen nicht, bis die Konservenbüchsen geleert, die Fässer beim Marketender angesteckt sind. Kaum haben alle das Zeichen oben am Signalballon erkannt, so braust es auch schon los bei Freund und Feind, bei Grenadier und Kanonier, bei Jäger und Husar:

Reserve hat Ruhe,
Reserve hat Ruh,
Und wenn Reserve Ruhe hat,
Dann hat Reserve Ruh!“

Zwei Jahre lang haben sie mit Ehren des Königs Rock getragen. Er hat nicht immer ganz bequem gesessen. Aber – Hand aufs Herz – schön war’s doch!

– Der Gedanke an das Vaterhaus und an die Lieben daheim ist aber doch noch viel, viel schöner, und man kann es den wackeren Burschen nicht verdenken, wenn sie am letzten Manövertag voll Sehnsucht oft nach dem Signalballon ausschauen, ob das Zeichen denn noch immer nicht erscheinen will? „Das Ganze halt!“

Dieser Artikel erschien zuerst am 06.09.1902 in Die Woche.