Die Stadterweiterung von Wesel

Unter den rheinischen Städten ist die alte, an der Mündung der Lippe in den Rhein gelegene feste Stadt Wesel wohl diejenige, welche durch den engen Ring von Wällen und Gräben am empfindlichsten in der natürlichen Entwickelung gehemmt worden ist. Obwohl zu der günstigen Lage an den beiden Flüssen die Eigenschaft als Knotenpunkt von sechs Eisenbahnstrahlen nach Köln, Münster, Bocholt, Arnheim, Bocholt und Venlo hinzu tritt, vermochten sich der Wohlstand und die Einwohnerzahl der Stadt in den letzten Jahren verhältnissmässig nur wenig zu heben.

Wesel zählte ohne Militär in 1860 rd. 13 500, in 1870 rd. 14 800, in 1880 rd. 16 800 Seelen, während gegenwärtig die bürgerliche Bevölkerung sich auf etwa 17 100 beziffert. Die Jahreszunahme ‚ betrug sonach in den angegebenen drei Jahrzehnten 0,9 %, 1,4 % und 0,2 %, oder durchschnittlich 0,8 %, während bei anderen, zum Vergleich geeigneten, Mittelstädten am Niederrhein und im benachbarten Westfalen ein Zuwachs von 4 % und mehr zu beobachten, war. Grossgewerbe und Kleingewerbe konnten sich wenig entwickeln, selbst Schiffahrt, Schiffbau und Handel hielten sich nur mit Mühe auf der früheren Höhe; auch die Landwirthschaft war von geringem Belang. Hielt der Festungs-Gürtel die Stadt nach aussen eng umklammert, so bildet andererseits die heute auf ungefähr 4000 Köpfen angewachsene Besatzung fast die wesentlichste Quelle des inneren wirthschaftlichen Lebens. Mit gemischten Gefühlen verglich die Weseler Bürgerschaft die Verhältnisse ihrer Stadt mit dem raschen Aufblühen der Nachbarorte – und gross war die Freude, als es dem rührigen Bürgermeister Baur, unterstützt von dem Wohlwollen militärischer Behörden, zu Anfang dieses Jahres gelang, unter annehmbaren Bedingungen die ganze westliche, nördliche und östliche Stadtumwallung, mit Ausnahme einiger Theile, frei von Baubeschränkungen für die Stadt zu erwerben.

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Die dem Militärfiskus des Deutschen Reiches vorbehaltenen Flächen sind im wesentlichen die Citadelle mit der Esplanade an der Südseite der Stadt, die beiden Lünetten an der nordwestlichen und nordöstlichen Ecke des Weichbildes, ein ziemlich rechteckiges Gelände an der Nordseite der Stadt, anstossend an die. Artillerie-Kaserne und das Offizier-Kasino, ein polygonal geformtes Gelände an der Ostseite im Anschluss an die Infanterie-Kaserne No. 2 und endlich ein kleineres, bogenförmiges Grundstück an der Infanterie-Kaserne No. 3 neben dem Berliner Thore. Die letztgenannten drei Grundflächen wurden zwar von den Festungs-Beschränkungen befreit, aber für militärische Bauzwecke bestimmt.

Nach Abrechnung alles Militärischen beträgt die für die Stadt gewonnene Erweiterungsfläche 62,5 ha, während das bisherige, vom Festungsring umschlossene Weichbild 38 ha und die sog. Vorstadt am Hafen und Rheinufer 4,5 ha enthält. Es ergiebt sich somit für die Stadt eine Vergrösserung um rd. 147 % welche bei der zu erhoffenden Jahreszunahme von 3 % bei vollständiger, zunächst nicht beabsichtigter Bebauung und gleich bleibender Wohnungs-Dichtigkeit für ungefähr 30 Jahre und für eine Steigerung der bürgerlichen Bevölkerung auf 42 200 Seelen ausreichen würde.

Die Stadterweiterung von Wesel

Dem vom Unterzeichneten verfassten, von den städtischen Behörden im wesentlichen zum Beschluss erhobenen Bebauungsplan liegen die Höhenmessungen des Stadtbaumeisters, Oberstlieutenant a. D. Ohevalier und die durch Besprechungen mit dem Bürgermeister Baur und den Mitgliedern der städtischen Baukommission gewonnene Kenntniss der örtlichen Bedürfnisse zugrunde.

Das Erweiterungsgebiet lässt sich zweckmälssig eintheilen in drei Hauptabschnitte nach den verschiedenen Stadtfronten, und zwar in einen Ost-, Nord- und West-Abschnitt. Jedem dieser Theile entspricht ein Hauptzweig der geplanten grossen Ringstrasse, nämlich der Ost-, Nord- und Westring. Der Ring wird, wenn auch unvollkommen, geschlossen durch die den Fussgängern frei gegebenen, baumbesetzten Verkehrswege auf der Esplanade. Noch wichtiger für den Verkehr und den Anbau sind die Hauptradialstrassen der Stadt, welche dem Berliner, Brüner, Klever und Rheinthor entsprachen.

An diesen Thoren bilden sich die vier Haupt-Anbaugebiete, von welchen dasjenige am Berliner Thor, weil zwischen der Altstadt und dem Bahnhof gelegen, jetzt und in Zukunft den lebhaftesten Verkehr besitzt und deshalb auch die schnellste Entwickelung verspricht. Ausserhalb des bisherigen Glacisweges bleiben die Baubeschränkungen des Festungs-Rayons in Kraft.

Das Berliner Thor wurde 1718 – 1722 vom General Bodt erbaut. Es ist eine an der engsten Stelle 3,5 m weite, ansteigende Poterne unter dem Stadtwalle mit eigenartigen Ziegelsteingewölben und zwei Thorfassaden von bemerkenswerther Architektur; die äussere Thoröffnung ist von zwei grossen Statuen, Herkules und Minerva darstellend, flankirt. Die Stadt hat sich bereit gefunden, die kunstwerthen Bautheile dauernd zu erhalten, was nach Abtragung des Walles vermuthlich nicht ohne Herstellung eines neuen Verbindungsbaues zwischen den Thorfronten ausführbar sein wird. Der bezügliche Entwurf steht zwar noch nicht fest; die Abmessungen des für die Freilegung des Thores und für den um dasselbe zu führenden Fahrverkehr erforderlichen Platzes konnten indess ohne Bedenken schon jetzt festgelegt werden. Für das Erweiterungs-Grundstück der Inf.-Kaserne No. 3 ergab sich dabei eine vortheilhafte Umgestaltung.

Das Berliner Thor und das Empfangs-Gebäude des Bahnhofes sind in dem Entwurfe durch eine gerade Linie verbunden, welche die Axe der neuen 30 m breiten, Berliner Strasse bildet. Da, wo dieselbe die Bahnhofsgrenze trifft, ist eine Vorhalle geplant, in welcher, ähnlich wie am Ende der Ringstrasse zu Krefeld, eine Doppeltreppe in einen Tunnel hinab führt, welcher die Verbindung zu den Bahnsteigen herstellt, während das Fuhrwerk wie bisher die Münster’sche Landstrasse benutzen soll, um zum Empfangsgebäude zu gelangen. Eine Höherlegung des ganzen Bahnhofs ist vorläufig nicht zu erwarten, da das ganze, die bisherige Stadtumwallung umgebende Gelände, wie bereits angegeben, nach wie vor den Festungs-Rayon bildet.

Die vor der gedachten Bahnhofs-Vorhalle geplante, geräumige Schmuck-Anlage soll den einladenden Eintrittsplatz der Stadt bilden; er ist zum Theil mit alten Bäumen des Festungsglacis bestanden und mit einem Springbrunnen geziert in dessen Axe nach Nordosten der 36 m breite Ostring sich ansetzt, während nach Westen das zu erhaltende Hafen-Anschlussgleis in eine 20 m breite zur Esplanade führende Strasse fällt.

Der Ostring erhält die Form eines flachen Bogens unter geringer Grenzveränderung des bei der Inf.-Kaserne No. 2 vorbehaltenen militärfiskalischen Geländes. Eine 52 m breite, bepflanzte, mit Ruhesitzen und Kinderspielflächen ausgestattete Platzanlage bezeichnet die Richtung zur Landstrasse nach Münster, hält somit eine alte, beim Bahnhofsbau geopferte Haupt-Verkehrsrichtung für die Zukunft offen.

Die kleine Parkanlage an der Lünette XIX vermittelt den Anschluss des Ostrings an die geradlinige Richtung des Nordrings. Der Plan zeigt hier die Anordnung eines Marktplatzes am alten Brüner Thor, die Bildung eines Kirchplatzes, eines Blocks für ein Konzerthaus mit Garten und einer freundlichen Vorgartenstrasse zwischen dem Ring und der Altstadt. Für die Strassenzüge ergab sich ein fast reines Dreiecksystem. Das Brüner Thorgebäude hat ebenso wenig wie die Bauwerke des Klever, Fischer- und Rheinthors künstlerischen oder geschichtlichen Werth und verfällt deshalb wie jene dem Abbruch.

Die südliche Fluchtlinie des Nordrings bedingt eine mässige Umformung des mit dem Offizier-Kasino zusammen hängenden Militär-Grundstücks; die nördliche Fluchtlinie ist nur zum Theil zur Bebauung bestimmt, während im übrigen ein Theil der Glacis-Bepflanzung erhalten bleibt und den Blick in die Landschaft frei hält.

Entwurf zur Stadterweiterung von Wesel

Am Klever Thor bildet sich eine dreieckige SchmuckAnlage. Das Vorland der Lünette XX, welches an den bestehenden Viehmarkt anstösst und mit der Eisenbahn unschwer verbunden werden kann, ist als Bauplatz des neuen Schlachthofs bestimmt.

Der Westring hat die Gestalt einer leicht gebogenen Schlangenlinie; er soll auf der doppelseitig bebauten Strecke 30 m breit werden, eine Mittelallee und zwei Fahrwege erhalten. Der äussere Fahrweg fällt auf der einseitig zu bebauenden Strecke fort, so dass die Allee unmittelbar an die grosse Parkwiese anstösst, deren Hintergrund die prächtige alte Glacispflanzung bildet. Das alte Fischerthor war bisher nur ein Durchgang von der herrlichen, spätgothischen Willibrodi-Kirche zum Festungswall; in Zukunft zu einer Fahrstrasse verbreitert, soll es zugleich mittels einer Diagonal-Strasse mit dem Rheinwerft verbunden werden.

Die geplante Bebauung am Rheinthor stützt sich auf die Absicht des Verfassers, die aus dem Jahre 1604 stammende, den sehr breiten Festungsgraben überschreitende Brücke möglichst zu erhalten. Sie soll in Zukunft über eine tief liegende, auch in einen Schlittschuhteich umzuwandelnde Spielwiese führen, welche rings von Neubauten eingefasst wird. Südlich von Block 29 ist ein Garten-Cafe angeordnet, weil hier die Grenzlinie des massiven Bauens nur einen geringen Theil des Blocks zu bebauen gestattet.

Zum Anfangspunkt dieser Ortsbeschreibung zurück kehrend, ist nachzuholen, dass auf der einen Seite des grossen Bahnhofsvorplatzes der Neubau des kaiserlichen Postamts, auf der anderen Seite der Neubau des königlichen Eisenbahn-Betriebsamts sich erheben soll, letzteres in unmittelbarer Verbindung mit dem Bahnhofe.

Die Grösse der Baublöcke ist eine verschiedene, so dass Grundstücke von wechselnden Tiefen, besonders von 20 bis 40 m Tiefe, sich heraus schneiden lassen. Den Baugrundstücken im nördlichen Theile des Blocks 6 sowie im Block 7 ist eine bedeutend grössere Tiefe gegeben worden (50 bis 70 m und mehr), um hier die Errichtung gewerblicher Anstalten mit Eisenbahn-Anschluss zu begünstigen. Drei Schulgrundstücke sind im Plane an geeigneten Stellen eingezeichnet; das eine derselben, im Block 24, hält zugleich die Möglichkeit eines Strassendurchbruchs zur Johannisstrasse offen.

Die Querschnitte der bedeutenderen Strassen sind am Rande des Entwurfs angegeben. Es würde zu weit führen, auf eine nähere Begründung derselben und auf die Längenprofile einzugehen. Grundsätzlich wurden konvexe Gradienten und geringere Gefälle als 1: 300 vermieden und eine Hebung über die Hochwasser-Ordinate überall vorgesehen. Uebrigens betragen die Höhen-Unterschiede der Strassenkronen im ganzen Erweiterungsfelde nicht mehr als 5 m.

Die unterirdische Entwässerung ist vorbereitet durch den in der Lünette XIX in die Stadt eintretenden, bisher nur die Festungsgräben durchspülenden Isselkanal, eine künstliche Ableitung des Isselflusses. Derselbe wird, da er sich in der Pflanzung an der Lünette XIX in einen südlichen und nördlichen Zweig theilt, die neuen Stadttheile in voller Länge in geeigneten Strassenzügen als eiförmiges Siel von 120 zu 180 m Weite durchfliessen und liegt überall so tief, dass ein vortrefflicher Sammler für die Schwemm-Kanalisation gegeben ist.

Die im X. Jahrhundert schon bestehende Stadt Wesel war ursprünglich auf den südlichen Theil der jetzigen Altstadt beschränkt. Später siedelten sich 3 grössere Vorstädte an, nämlich Averdorp, Matena und Steinweg. Die Vorstadt Averdorp lag da, wo jetzt die Citadelle sich befindet und ist im Jahre 1586 im Interesse der Vertheidigung gegen die Spanier zerstört worden. Die Matena ist seit dem 14. Jahrhundert allmählich ausserhalb der Altstadt entstanden und in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts in die Festung einbezogen worden. Wo jetzt das Berliner Thor steht, befand sich früher die „Dämm’sche Post“. Die Vorstadt Steinweg lag an der nordwestlichen Seite der Stadt vor dem jetzigen Klever (früher Stein-) Thor; sie war seit 1582 mit Wall und Graben befestigt, wurde aber zu Anfang des vorigen Jahrhunderts gänzlich niedergelegt und in die damals erbauten neuen Festungswerke eingezogen.

Fasst man die Einbeziehung der Matena und des „Steinwegs“ als eine zusammen gehörige erste Erweiterung auf, so kann die nunmehrige abermalige Stadterweiterung als die zweite bezeichnet werden. Möge dieselbe der lange zurück gehaltenen, nun aber jugendlich aufstrebenden alten Vesalia zum dauernden Segen gereichen!

Köln, im November 1890. J. Stübben.

Dieser Artikel erschiebn zuerst 1891 in der Deutschen Bauzeitung.