Von Friedrich Freiherrn von Dincklage-Campe. Deutsche Schiffahrt und deutscher Schiffbau! Das sind die Gebiete, auf denen der Fortschritt deutscher Kultur und deutschen Könnens nach der endlichen Einigung unseres größeren Vaterlandes vielleicht deutlicher und anschaulicher zur Geltung kommt als auf irgendeinem andern Felde.
Noch vor dreißig Jahren gab es in Deutschland keine Werft, die imstande gewesen wäre, den Anforderungen zu entsprechen, die sich gerade damals in allen den Industriezweigen erhöhten, die beim Bau von größeren Schiffen – Handels-, wie Kriegsschiffen – zur Mitwirkung kamen. Wenn eine Rhederei eines neuen größeren Schiffes bedurfte, das an Schnelligkeit und Komfort nicht hinter englischen transatlantischen Dampfern zurückbleiben sollte, so bestellte sie bei einer englischen Werft. Wurde aber ein solches Schiff auf heimischer Helling erbaut, dann mußten zum mindestens verschiedene Maschinenteile aus dem Ausland bezogen werden. Das ist nun anders geworden. Mit Deutschlands Macht wuchsen der Unternehmungsgeist, das Zutrauen. Der überseeische Handel nahm einen ungeahnten Aufschwung, und mit dem Handel, mit der Ausdehnung der Schiffe wuchs in gleichem Maß das Bedürfnis nach derjenigen Industrie, die bislang im vielteiligen Reich brachgelegen hatte.
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Unter den Werften, die besonders dazu beigetragen haben, unsern Schiffbau vom Ausland unabhängig zu machen, steht die der Stettiner Maschinenbauaktiengesellschaft „Vulkan“ gleichsam als Bahnbrecherin. Die Hamburg-Amerika-Paketfahrtaktiengesellschaft hatte den Mut, das erste größere Doppelschraubenschiff für den Passagierverkehr nach „drüben“ beim Vulkan in Lieferung zu geben. Die Auguste Viktoria übertraf alle bislang den Ozean kreuzenden Schiffe nicht nur an Schnelligkeit, sondern auch an Eleganz – englische transatlantische Schiffe nicht ausgenommen.
Inzwischen hat die größte und bedeutendste Rhederei der Welt, die „Hamburg-Amerika-Paketfahrtaktiengesellschaft“ eine ganze Reihe von Passagierdampfern vom Vulkan bezogen, und was an Neuerfindungen, Verbesserungen und Verschönerungen geschaffen werden konnte, das findet der Kajütspassagier wie auch der Zwischendecker auf diesen Schiffen vertreten.
Mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts – am 10. Januar – ist im Beisein des Kaisers, des Reichskanzlers und des Grafen Bülow, der die Taufrede hielt, auf der Vulkanwerft ein Schiff für die Hamburger Gesellschaft vom Stapel gelassen: der Doppelschraubenschnelldampfer „Deutschland“, das schnellste und zweitgrößte Schiff der Welt. Nicht ein Stück des mächtigen Fahrzeuges und aller der Maschinen und Einrichtungen, die es birgt, entstammt dem Ausland.
Der Vordersteven, das Vorderteil des Eisenkolosses, ist scharf wie ein Pfeil. Die Tiefe des Schiffes beträgt bis zum Oberdeck 13,41 Meter oder 44 Fuß, während es eine Länge über Deck von 208,5 Metern (= 684 Fuß) und eine Breite von 20,42 Metern (= 67 Fuß) aufweist.
Das Schiff ist um 11 Meter länger als der im vorigen Jahr für den Bremer Lloyd erbaute Schnelldampfer „Kaiser Wilhelm der Große“ und übertrifft diesen an Deplacement. um etwa 2500 Tonnen (je 20 Zentner), da die Wasserverdrängung 23 200 Tonnen beträgt.
Steigen wir jetzt hinab zum Kiel des Schiffes, den unsere Abbildung veranschaulicht. An dem mächtigen Eisenbau entlanggehend bemerken wir auf einen Meter Länge, gerade in der Rundung des Schiffkörpers angelascht, eine über fußbreite starke Eisenschiene. Das ist der sogenannte Schlingerkiel, eine Einrichtung, die das Schaukeln (Schlingern) im Seegang verhindern soll.
Die über meterlangen Zylinder zu jeder Seite des Schiffs ragen nach achter hinaus bis in die Nähe des Achterstevens.
In diesen Zylindern laufen die Schraubenwellen, aus den Essener Werken stammend, und an den Enden dieser Wellen sind die Propeller, die Schiffsschrauben, verschraubt. Welche Ausdehnung die je vier bronzenen Flügel haben, das sieht man auf unserm Bild im Vergleich zu dem Werftarbeiter, der unten Aufstellung nahm. Zwischen den beiden Schrauben ist der Achtersteven erkennbar, der schwere eiserne Balken, an dem die Oefen angebracht wurden, in die die „Fingerlinge“ des Ruders eingehakt werden. Das Ruder (Steuer) tritt aber mit seinem Kopf in den nasenartigen Ausbau hinein, den unser Bild zeigt. Innerhalb dieses Ausbaus wird sich die Steuervorrichtung befinden. Da nun diese Teile sämtlich unterhalb der Wasserlinie liegen, so ist wenigstens die Steuerung des Schiffes gegen feindliche Geschosse geschützt. „Ja, ist denn das nicht ein Handels-, ein Passagierschiff ?“ mag man fragen. Ganz recht, aber auch diese Schiffe werden für den Fall der Not für Kriegszwecke gechartert, und bei allen Neubauten wird auch Rücksicht in Stärke der Deckbalken auf etwaiges Placement von Geschützen genommen.
Wir haben das Heck des „Deutschland“ umgangen. Da erblicken wir seitwärts, auf einer riesigen Stahlplatte, Arbeiter damit beschäftigt, diese Platte mit einem Gußstahlrahmen zusammenzunieten, der an der einen Seite einen Meter starken Stahlbalken trägt, an dem wiederum stählerne, messingüberzogene Haken angebracht sind. Das ist das Ruder, das zukünftige Steuer des „Deutschland“.
Auf breiter Treppe steigen wir nun hinauf auf das Deck – etwa so hoch wie die zweite Etage eines Berliner Hauses. Wir bemerken, von oben durch die Lucks hinabsehend, daß das Schiff durch eine Reihe von eisernen Querwänden in ebensoviele Abschnitte geteilt wird. Das sind die wasserdichten Schotten, deren jeder volllaufen kann, ohne daß das Schiff zum Sinken oder Kentern käme.
Noch ist der ungeheure Maschinenraum leer, die Maschinen werden erst eingesetzt, wenn das Schiff schwimmt. Diese Maschinen, die noch im Schuppen stehen, werden eine Kraft von 35 000 ind. Pferdekräften auf die Schrauben übertragen, und nur vergleichsweise sei erwähnt, daß unsere stärksten Kriegsschiffmaschinen – auf Kaiser Wilhelm II. – 13000 Pferdekräfte zur Geltung bringen. S. M. S. „Hohenzollern“ hat Maschinen von 9000 Pferdekräften. Außer diesen beiden Maschinen, die dem Schiff die Lebenskraft geben sollen, werden noch an 40 andere Dampfmaschinen in Thätigkeit treten – von der Eismaschine bis zu den Dampfdynamos, deren es fünf geben wird, drei von 700 und zwei von 400 Ampère, die mit 110 Volt arbeiten. Riesenhaft wie alles an dem Schiff sind auch die Schornsteine, von denen unser Bild eine Anschauung giebt.
Und nun noch etwas über den Zweck des schlanken Ungeheuers, die Unterbringung der Passagiere. Für 467 Passagiere I. Klasse wird in 263 Kammern Raum geschaffen werden. 300 Passagiere II. Klasse werden in 99 Kammern wohnen, und für 296 Passagiere III. Klasse wird bequem Unterkunft im hohen Zwischendeck eingerichtet. Die Schiffsbesatzung wird aus 525 Köpfen bestehen.
Speisesäle, Rauchzimmer, Damensalons – das alles soll auf das eleganteste ausgestattet werden, 2000 elektrische Lampen werden allabendlich glänzen.
Bei schlechtem Wetter wandelt der Passagier behaglich auf dem überdachten Promenadendeck, und giebt’s einmal Gefahr – nun, dann sind die 20 Rettungsboote auf dem Bootsdeck oder in den Davids imstande, allen an Bord Befindlichen Unterkunft zu bieten.
Vier Dampfmaschinen sind dazu bestimmt, die Boote schnell und sicher zu Wasser zu bringen.
Dieser Artikel erschien zuerst 1900 in Die Woche.