Das nordafrikanische Soldatenreservoir

Karte von Afrika

Militärische Betrachtungen von Generalleutnant z. D. Metzler.
Da die Besitzergreifung Marokkos durch Frankreich nur eine Frage der Zeit ist, so drängt sich dem Militär-Politiker die Frage auf, wie sich durch diesen Zuwachs das militärische Machtverhältnis Frankreichs zum Ausland, insbesondere zu Deutschland, stellen wird. Die nachstehenden Betrachtungen werden ergeben – im voraus sei dies gesagt -, daß durch den Zuwachs Marokkos das von den Franzosen so heiß ersehnte Réservoir d’hommes vergrößert werden wird, daß aber die Schwierigkeiten wachsen, mit denen Frankreich in Nordafrika zu kämpfen hat. Eine etwas größere Soldatenzahl kann Frankreich nach dem noch zu sichernden Besitz Marokkos gegen den Feind in Europa führen, als jetzt mit der bereits in Szene gesetzten Hinzuziehung der braunen und schwarzen Elemente. Das militärische Kraftverhältnis Frankreichs zu Deutschland wird, in Zahlen ausgedrückt, etwas zugunsten des ersteren verschoben werden.

Das jetzige Vorgehen Frankreichs gegen Marokko erinnert lebhaft an das einstige Vorgehen gegen Algier, das den Grundstock zu dem nordafrikanischen mächtigen Kolonialreich legte. Verschieden waren die Gründe, die die beiden Unternehmungen veranlaßten, verschieden waren die Umstände, unter denen sie stattfanden. 1827 erließ der französische Minister des Äußeren, Fürst Polignac, ein Rundschreiben, in dem er die uneigennützigen Absichten Frankreichs betonte und erklärte, man verfolge mit der Expedition keinen anderen Zweck, als der Sklaverei und der Seeräuberei ein Ende zu machen und die Südküste des Mittelmeers dem freien Verkehr zu eröffnen. Und selbst gegen den Willen Englands wurde das Unternehmen durchgesetzt! Heute aber ist die Veranlassung, die zur Eroberung Marokkos führt und die den Schlußstein zu einem großartigen französischen Kolonialreich in Nordafrika legt, das Gegenteil einer selbstlosen Tat. Eine Börsengruppe treibt die Regierung, und diese ist bestrebt, andere Völler auszuschalten. Gleichzeitig will man durch die Eroberung des Landes Menschen zu europäischen Kriegszwecken erwerben. Und die Umstände, unter denen das gewaltsame Vorgehen Frankreichs ohne jedwelche Rücksicht auf die Interessen anderer Nationen stattfindet, sind im Blick auf England gerade umgekehrt. Frankreich handelt jetzt im Einverständnis und unter der Protektion Englands! Dies allerdings nicht lediglich Frankreich zuliebe. Viel Geld, viel Blut hat die Eroberung Algeriens gekostet. Was Marokko den Franzosen kosten wird, das liegt in der Zukunft Schoß, und Herr Deleassé scheint zu weit zu gehen, wenn er für die im Entstehen begriffene, zur Verwendung in Europa bestimmte braune und schwarze Schar schon jetzt vorschlägt, die allgemeine Wehrpflicht auf das noch gar nicht ganz eroberte Marokko auszudehnen. Bis jetzt besteht diese seit 1882 nur in Tunis. In Algier hat man nach reiflicher Überlegung von ihr Abstand genommen, weil sie dem nomadischen Teil der Bevölkerung gegenüber fruchtlos wäre, auch weil man in der militärischen allgemeinen Ausbildung der Araber eine Gefahr für das Mutterland erblickt. Nur Söldner aus dem algerischen Besitztum trennen sich von der Masse der Bevölkerung los und stellen sich als gutes Material unter die französischen Fahnen, so daß Frankreich aus Tunis und Algier mit einem jährlichen Ersatz von etwa 3000 Mann rechnen kann. Sie bilden ein Heer von 26 000 Mann, das in späterer Zeit durch marokkanische Söldner vergrößert werden kann. Sollten sich in Marokko mit seinen 7 Millionen Einwohnern später die Verhältnisse ebenso gestalten, wie sie in Algier (5 Millionen) jetzt sind, so kann Frankreich auf ein aus braunen freiwilligen Heer von 50 000 Mann rechnen.

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Gesetzentwürfe zur Ausdehnung der Wehrpflicht auf Algier sind in Vorbereitung, ein Recrutement á l’amiable für die Schwarzen (Aushebung nach gegenseitiger Übereinkunft) steht in Aussicht. Die hochgespannten Hoffnungen der Anhänger Messimys, durch braune Elemente (Araber, Berber, Kabylen) 100 000 Mann, und die der Anhänger Mangins, durch Schwarze (Senegalesen, Kongoneger) ebenfalls 100 000 Mann einstellen zu können, werden aber kaum in absehbarer Zeit in Erfüllung gehen. Doch sicher ist es, daß der Grundgedanke der Pläne zur Schaffung eines Réservoir d´hommes in Nord- und Westafrika verwirklicht wird. Dann kann die sinkende Heeresstärke des Mutterlandes ausgeglichen werden.

Karte von Afrika
Karte von Afrika

Die Wehrkraft ist in Frankreich bereits in allerschärfster, in geradezu rücksichtsloser Weise angespannt. Kommen ihr braune und schwarze Elemente nicht zu Hilfe, so läßt sich seine im Hinstarren auf Deutschland zu übergroßen Dimensionen emporgearbeitete Heeresorganisation mit weißen Mannschaften nicht mehr ausfüllen. Im Lande selbst will man aber die braunen und schwarzen Männer nicht haben. Man erinnert sich der schlechten Erfahrungen, die gemacht wurden, als 1863 ein Turko-Bataillon und eine Spahi-Eskadron nach Paris verlegt wurden. Man will sie in Afrika belassen und das Mutterland nur durch geringe Entsendungen weißer Mannschaften nach Afrika entlasten, im Kriege aber afrikanische Divisionen am 18. Mobilmachungstage bei Bordeaux und Marseille landen, um baldmöglichst über den Rhein zu marschieren. Sollte es hierzu nicht sofort kommen, so hofft man doch auf eine weit umfangreichere Verwendung afrikanischer Truppen, als eine solche 1870 stattfand. Damals wurden vom 16. Juli 1870 ab, also einen Tag nach der Kriegserklärung Frankreichs, 4 Zuaven-, 3 algerische Tirailleur- und 4 Chasseur d’Afrique-Regimenter eingeschifft. Auf den Zeitpunkt kommt es an, wann wieder der Krieg ausbricht, und auf das Ergebnis des Schöpfens aus dem sich bildenden Réservoir d’hommes, wie hoch dann die Truppenstärke ist, die gegen Deutschland zu Felde ziehen wird, und ob auch schon Marokkaner dabei sind. Flößen afrikanische Truppen dem Feind auch keinen größeren Respekt ein, wie man dies in Frankreich erwartet, so sind sie immerhin eine beachtenswerte Macht. Dies bezeugen die deutschen Soldaten, die ihnen entgegenstanden, und ferner wird dies erhärtet durch die einwandfreien kriegsgeschichtlichen Darstellungen des Major Kunz über die Schlacht bei Wörth.

Es gehen jetzt jährlich 6580 Franzosen nach Afrika als Ersatz ab. Durch Heranziehung von Afrikanern können diese erspart werden und zu der Armee im Mutterlande hinzutreten. Da überdies nach dem Berichte Waddingtons die Zahl der Rekruten für den Dienst mit der Waffe am 1. Januar 1911 um 4000 Mann höher war als am 1. Januar 1910, so könnte eigentlich Frankreich sich mit einem jährlichen Mehr an Rekruten in Höhe von 6580 + 4000 Mann begnügen. Das liegt aber nicht im Sinne der „Patrioten“. Nicht stille stehen wollen sie mit ihrer in Szene gesetzten Rage du nombre, mittels der sie es fertig gebracht haben, daß zurzeit 4 874 000 für den Krieg vorbereitete Franzosen 4 750 000 Deutschen auf dem Papier gegenüberstehen; die Rage du nombre soll mit Hilfe des Reservoir d´hommes, das „nichts anderes wünscht, als von uns erschlossen zu werden“, wie Oberst Mangin berichtet, wieder neu aufflammen. Selbst Marokko wird für Rekrutierungszwecke schon jetzt in Aussicht genommen!

Trotz alledem liegt für Deutschland bis jetzt keine Veranlassung zu Gegenmaßregeln vor. Blicken wir auf 1870/71 zurück, da von der Gesamtstärke der deutschen Truppen in Höhe von 1 200 000 Mann (dabei vier Landwehrdivisionen) nur 500 000 Mann das eigentliche Feldheer bildeten, und nehmen wir an, daß dies letztere, wenn es noch führungsfähig sein soll, von einer halben Million auf eine Million im Zukunftskrieg anwachsen wird, so bleiben noch genug militärisch ausgebildete Deutsche übrig, um im Rücken der Kampfarmee und zu Hilfszwecken eintreten zu können. Das Vorgehen Frankreichs wird uns nicht zur Einstellung einer größeren Rekrutenzahl zwingen, wenn auch unser Rekrutenreservoir dies reichlich gestattete. An eine Vergrößerung der jetzt schon fast unlenkbaren Massenheere brauchen wir nicht zu denken, wohl aber an eine Erhöhung der Qualität der Wehrkraft, einschließlich des mit der Waffe ausgebildeten Menschenreservoirs. Die sistierte Ausbildung der Ersatzreserve mit der Waffe muß wieder eingeführt werden. Schrankenlos muß aus unserem Menschenreservoir das beste, vorgebildete Material geschöpft werden können, denn wir müssen auch mit anderen, weniger glücklichen Kriegslagen als im Feldzug von 1870 rechnen.

Das unter dem Schutze Englands begonnene, rücksichtslose Vorgehen Frankreichs gegen Marokko drängt uns von neuem das Gebot auf, den Zwei-Mächte-Standard zu Land einzunehmen und in der Flottenrüstung nicht zu erlahmen. Dies ist die wichtigste Lehre, die wir aus der Marokkoaffäre zu ziehen haben. Eine braune, sogar schwarze Macht ist im Entstehen begriffen. Beizeiten von uns getroffene Maßnahmen gestatten uns, diese Macht zu keiner Gefahr anwachsen zu lassen.

Dieser Artikel erschien zuerst in Reclams Universum Weltrundschau, Heft 1, 1911. Der originale Artikel war nicht bebildert. Das Bild stammt aus Reclams Universum Weltrundschau 1912 S. 304a.