Unter dem Kriegsminister Wannowskij hat das russische Heer verhältnismäßig außerordentliche Fortschritte gemacht; namentlich in Bezug auf die Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht, die Uebungen des Beurlaubtenstandes, die Stämme für Reserveformationen, die Friedensunterbringung und die taktische Ausbildung aller Waffen.
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Hand in Hand hiermit gingen Neubauten wichtiger strategischer Eisenbahnen und Straßen, endlich ein nun zum Abschluß gekommenes Befestigungsystem an der ganzen Westgrenze. Der große Kriegsminister (Portrãt) erzielte diese völlige Verwandlung des militärischen Rußlands in Uebereinstimmung und im Einverständnis mit dem ebenso thätigen, wie kriegslustigen ehemaligen Generalstabschef Obrutscheff. Die damaligen russischen Veränderungen und, wie es in der Presse immer lautete, Rüstungen erregten bekanntlich viel politische Unruhe; östlich und westlich von uns wurde der Krieg gegen Deutschland erörtert, man sprach über die Aufmärsche der Armeen, über ihre Stärke und die höheren Generale jahrelang mit einem Freimut, als ob die Mobilmachungspläne der Presse zur Benutzung übergeben worden seien, und hierbei wurden natürlich auch die Persönlichkeiten genannt und charakterisiert, die als Führer der Armee galten. Von diesen ist inzwischen der General Gurko (Porträt) gestorben, von dem es hieß, er sei zum Befehlshaber der gegen Deutschland bestimmten Armee ausersehen.
Mit dem Jahr 1898 gingen die Stellen des Kriegsministers und des Generalstabschefs in andere Hände über, und von dem alten „Kriegsring“ Wannowskij, Obrutscheff, Gurko, Dragomiroff blieb nur die letzte Persönlichkeit in ihrer sehr einflußreichen Stellung. Neben diesem ist der jetzige Kriegsminister Alexei Nikolajewitsch Kuropatkin (Porträt ) in Rußland und außerhalb dieses Landes die bekannteste militärische Persönlichkeit des Zarenreiches. Wie der General Dragomiroff hat Kuropatkin sehr lange dem Generalstab angehört und ist ein hervorragender Schriftsteller. Seine „Kritischen Rückblicke auf den russisch-türtischen Krieg 1877-78“ erschienen noch zu den Lebzeiten der meisten uns bekannten Führer, sind aber mit einem in westlichen Armeen seltenen Freimut geschrieben und haben auch außerhalb Rußlands einen großen Leserkreis gefunden, da sie meines Wissens ins Deutsche und Französische übersetzt sind – ins Deutsche vom jetzigen General Krabmer. Kuropatkin hat auch sonst in Rußland sehr segensreich gewirkt und ist noch verhältnismäßig jung, denn er steht erst im 54. Lebensjahr. Er besuchte die Generalstabsakademie anfangs der siebziger Jahre, nachdem er vorher an den Feldzügen des Generals Kaufmann in Turkestan von 1867 – 1868 teilgenommen hatte. Mitte der siebziger Jahre wurde er vom Kriegsministerium nach Algier zur Beobachtung der Bekämpfung des dortigen Aufstandes geschickt. Darauf nahm er an den Kämpfen in Turkestan, Kokand und Samarkand teil, wurde verwundet und lernte den 1877/78 berühmt gewordenen General Skobeleff kennen, dessen Generalstabschef er während dieses Krieges wurde. Abermals verwundet, erhielt Kuropatkin später den Befehl über die turkestanische Schützenbrigade, mit ihr machte er den bekannten Marsch von Taschkent bis Geoktepe und führte bei der Erstürmung von Geoktepe unter General Skobeleff eine Sturmkolonne. Den Vorstellungen Skobeleffs verdankte Kuropatkin wohl hauptsächlich seine außerordentlich frühe Beförderung zum General. Nach Erreichung dieses Grades mit 34 Jahren wurde er dem Hauptstab in Petersburg zugeteilt und galt in Rußland allgemein seitdem als der selbstverständliche Nachfolger Obrutscheffs. Das ist nun anders gekommen, allein man zählt doch nach wie vor in Rußland den General Kuropatkin zu den Generalen, die im Kriegsfall den Befehl über eine Armee zu führen haben werden. Trotz seiner glänzenden Laufbahn ist der schweigsame General Kuropatkin in der russischen Armee nicht populär; er lebt zurückgezogen, hält sich von den Gesellschaften fern und hat niemals eine politische Rolle spielen wollen. Er gehört auch nicht zu den wütenden Deutschenhassern im Sinn von Obrutscheff und Dragomiroff, übertrifft aber beide an Kenntnissen und wahrscheinlich auch an Urteil. Daß ein so hervorragender und erfahrungsreicher Mann an der Spitze einer Armee, namentlich mit seiner Machtvollkommenheit, ein ungewöhnliches Glück ist, braucht nicht erst gesagt zu werden.
Eine sehr volkstümliche Persönlichkeit ist trotz seiner mannigfachen Eigenarten und starken Absonderlichkeiten der General Michael Iwanowitsch Dragomiroff. Er gehört heute noch zur Kriegspartei in Rußland, als deren Seele er sogar betrachtet wird, steht aber im siebzigsten Lebensjahr; überdies ist sein Körper durch seine Neigung zum Trunk zerrüttet. Dragomiroff ist ein großer Franzosenfreund und ebensogroßer Deutschenhasser. Am Feldzug 1866 nahm er bei der 2. preußischen Armee teil und veröffentlichte seine Eindrücke über die Preußen, die nicht besonders günstig lauteten. Die russische Armee ist in seinen Augen jeder andern überlegen. Dragomiroff war lange Lehrer der Taktik, darauf viele Jahre im Hauptstab und schließlich Generalstabschef im Militärbezirk Kiew, an dessen Spitze er jetzt im zweiten Jahrzehnt steht. Im Kriege 1877/78 überschritt er mit der 14. Division zuerst die Donau, wurde aber bald darauf am Schipkapaß schwer verwundet und kehrte nicht mehr in das Feld zurück. Sonach hat Dragomiroff sich im Krieg weder persönlich besonders bethätigen, noch sich in einer höheren Führerstelle bewähren können, allein die eigenartige Persönlichkeit mit ihrem stark impulsiven Wesen, ihrem guten und vielseitigen Wissen, ihren rücksichtslosen und oft drastischen Kritiken, ihrem freien Verkehr, selbst mit den jüngsten Offizieren, haben Dragomiroff im Heer eine Stellung und einen Einfluß verschafft, der beinah an Suworoff erinnert. Auch politisch ist Dragomiroff absonderlich. Er ist nicht nur Panslawist, sondern auch Republikaner. Durch seine langjährige Stellung als Direktor der Kriegsakademie hat er auf sehr weite Kreise der Offiziere, die auch vielfach seine politische Gesinnung hegen, einen großen Einfluß ausgeübt. Er überragt geistig bei weitem den verstorbenen General Gurko und hat an kritischem Verstand kaum seinesgleichen. Allein obgleich seine Meinung bei den großen Truppenübungen als ausschlaggebend gilt, so sind in Rußland selbst die Ansichten über Dragomiroff als Armeeführer sehr geteilt. Dragomiroff war dem Kaiser Alexander III. durchaus unsympathisch, und selbst Zar Nikolaus hat über die Extravaganzen Dragomiroffs häufig die Augen zugedrückt, weil der beliebte General in Ruhland geradezu eine politische Macht ist, mit der der Zar es wohl nicht verderben mag.
Dragomiroff ist der Vertreter der offensiven Kriegsführung und hat während seines ganzen Lebens der Psychologie in der Ausbildung des Soldaten und in der Taktik den ersten Platz eingeräumt. Sein Soldatenbuch hat Weltberühmtheit erlangt, und selbst seine Gegner können nicht leugnen, daß die Soldatenpsychologie Dragomiroffs maßgehend für die Erziehung und Ausbildung geworden ist. Man geht aber auch viel zu weit, in dem General einen Trinker zu erblicken; er liebt allerdings den Becher, allein ein Trinker hätte unmöglich fast vier Jahrzehnte eine so hervorragende geistige Thätigkeit entwickeln können wie Dragomiroff. Man wirft ihm selbst in Rußland vor, er überschätze aus Vorliebe für die Franzosen die französische Armee und namentlich den französischen Soldaten und unterschätze sehr die deutsche Armee. In dieser Beziehung unterscheidet der ebengenannte Kriegsminister Kuropatkin sich wesentlich von Dragomiroff, der, wenn er auch kein Deutschenfreund ist, die deutsche Armee und ihre Einrichtungen vorurteilsfrei beurteilt. In der Objektivität des Urteils überragt Kuropatkin Dragomiroff, dem die Russen selbst vielfach nachsagen, daß er sich bei seinen Handlungen und bei seinen Wertschätzungen mehr durch seine Neigungen und sein Gemüt als durch seinen Verstand bestimmen lasse, bedeutend. Für uns Deutsche liegt die Wertschätzung Dragomiroffs hauptsächlich in seiner unablässigen Pflege des kriegerischen Geistes, und wir werden deshalb niemals die moralische und wissenschaftliche Kraft der russischen Armee unterschätzen dürfen, an deren Entfaltung Dragomiroff sein ganzes Leben und mit Erfolg gearbeitet hat. Die Figur dieses Generals mag uns nicht sympathisch sein, gewiß ist aber General Dragomiroff eine bedeutende Persönlichkeit, ein besonderer Typus, der sich nicht schematisieren und modeln läßt und deshalb sich auch außerhalb seines Militärbezirks in Rußland eines ungewöhnlichen Anhanges erfreut.
Der jetzige Generalstabschef der russischen Armee, Generalleutnant Sacharoff (Porträt), steht im dreiundfünfzigsten Lebensjahr und ist aus der Infanterie hervorgegangen. Er war vorher Stabschef des Militärbezirks Odessa, und der Ruf, den er sich in dieser Stellung erworben hat, soll bei seiner Ernennung zum Chef des Hauptstabes entscheidend gewesen sein. Näheres ist über den General wenig bekannt; er gilt in der russischen Armee als ein ruhiger und fleißiger Mann von tüchtiger Gesundheit und jederzeitiger Arbeitsbereitschaft. Dies sind für einen Generalstabschef wünschenswerte Eigenschaften. Seine beiden Gehilfen im Hauptstabe, die Generalleutnants Froloff und Ussakowskij, die unsern Oberquartiermeistern entsprechen, sind ebenfalls aus der Infanterie hervorgegangen, ersterer aus der Garde. Beide stehen im fünfzigsten Lebensjahr und waren viele Jahre im Hauptstab, der erstere war überdies Chef des Stabes im zehnten Armeekorps in Charkow.
Der General der Infanterie Trotzkij (Porträt) steht im sechsundsechzigsten Lebensjahr und ist seit 1895 Oberkommandierender der Truppen des Militärbezirk Wilna, seit 1897 Generalgouverneur von Wilna, Rowno und Grodno. Trotzkij ist ein Gesinnungsgenosse des eingehender geschilderten Generals Dragomiroff, und man sagt von ihm, er suche dem General Dragomiroff im Panslawismus, Franzosenverehrung und Deutschenhaß nachzueifern, ohne aber in der Oeffentlichkeit hervorzutreten. Trotzkij gilt als ein tüchtiger Generalstabsoffizier ist schroff und hart, doch ohne besondere Eigenschaften eines großen Führers, gleichwohl soll er, wie Gurko es war, zur Führung einer Armee bestimmt sein.
Dieser Artikel erschien zuerst 1901 in Die Woche, er war gekennzeichnet mit „Miles.“