„Ein Töchterchen!“ raunte ein Petersburger dem andern vor vier Jahren zu.
„Ach! – Na, nächstes Jahr.“
Kanonendonner von der Peter Paulsfestung verkündete ein Jahr darauf abermals ein freudiges Ereignis am Zarenhof.
„Wieder ein Töchterchen!“
Und ein Jahr später hieß es zum drittenmal: „Noch ein Töchterchen!“ Die Troika ist nun vollständig, das hohe Elternpaar und mit ihm das ganze große Zarenreich erwarten jetzt sehnsüchtig deren Lenker.
In der Kinderstube der kleinen Zarentöchter merkt man nichts von „wieder“ und „noch eine Tochter“. Das Elternpaar ist glücklich im Besitz seiner reizenden Töchterchen. Der Zar besucht seine Kleinen verschiedenemal am Tage, und die beiden Aeltesten kneifen oft ganz regelrecht aus, um gleich andern Menschenknöspchen ihren Papa zu besuchen. Wohlweislich wird dabei stets die Zeit gewählt, wenn die „großen“ Onkel mit den vielen bunten Schärpen und prächtigen Sternen nicht mehr da sind.
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Das schönste und herrlichste Amüsement, die rechte Stimmung in die Kinderstube, bringt allemal Mamas Besuch hinein. Die Zarin Alexandra Feodorowna wird meist als zurückhaltend und unnahbar von der Menge bezeichnet. Ihr ernstes, ruhiges Wesen giebt Veranlassung zu jener Annahme. Wer jedoch das Glück hat, öfter in ihrer Nähe zu weilen, weiß, daß die junge schöne Zarin fast mädchenhaft schüchtern ist. Das Bewußtsein, Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit zu sein, treibt ihr nur zu oft das Blut in die Wangen, und glücklich und erleichter atmet sie auf, wenn jene Zeremonien vorüber sind. Darin gleicht sie übrigens ihrem hohen Gemahl, dem nichts peinlicher ist, als sich beobachtet zu wissen.
Unter ihren Kindern wird Alexandra Feodorowna mit zum Kinde. Olga und Tata (Tat-jana) wollen sich über die Drolligkeiten der Mama oft vor Lachen ausschütten, und „Baby“, das leider noch nicht mithalten kann, jauchzt auf dem Arm der Pflegerin, daß es nur so eine Freude ist. Ein Lager auf dem weichen Smyrnateppich, wobei „mother“ gerupft und gezupft werden darf, bildet gewöhnlich den clou aller Belustigungen, dabei machen die kleinen Prinzeßchen auf Mamas Rücken die ersten Reitversuche.
Die kleinen Zarentöchter werden sehr abgehärtet und ganz englisch erzogen. Sommer und Winter tragen sie weiße englische Kleidchen mit kleinen Bauschärmelchen, die Beinchen stecken beständig in kleinen Söckchen und weißen kleinen Schuhen.
Die älteste Prinzessin Olga ist dem Vater sehr ähnlich, während Tatjanas Gesicht mehr das feine Profil der Mutter verrät. Vom „Baby“ läßt sich noch keine besondere Aehnlichkeit bestimmen. Es gleicht vorläufig meist einem Bündelchen echter Spitzen. Wenn sich die beiden ältesten Schwestern an Mamas Kleid klammern, voltigiert „Klein-Manja“ schnell auf deren Arm hinüber, und nun beginnt ein Rundgang durch die große Kinderstube, wobei alte und neue Kinderlieder zu Gehör gebracht werden.
Die älteste Zarentochter zeigt bereits ein recht respektables Gedächtnis und scheint auch das musikalische Talent ihrer jungen Mutter geerbt zu haben. Zwar rühmt man auch dem Zaren nach, daß er sehr musikalisch sei; er selbst behauptet jedoch das Gegenteil. Daß er sogar über einen schönen Tenor verfügen soll, hat ihn selbst in die heiterste Laune versetzt. Die Zarin spricht mit ihren Kindern nur englisch, der Vater dagegen bedient sich häufig der russischen Sprache, in der auch das Abend- und Morgengebet beständig verrichtet wird.
Der letzte Sommer brachte den kleinen Prinzessinnen eines Morgens eine ungeahnte Ueberraschung. Da sie durchaus einmal hoch zu Roß erscheinen wollten, stand plötzlich vor ihrem Fenster ein wohlgesatteltes Langohr. Da gab’s kein Halten mehr und, langsam von Dienern geführt, ging der Ritt durch den grünen Park von Zarskoje Sjelo. Dieses märchenhaft schone Schloß, in dem die Zarentöchter in sicherer Hut ihre Jugend verleben, ist von der Kaiserin Katharina I erbaut und von Katharina II mit den herrlichsten Kunstwerken geschmückt. Eine direkte Eisenbahn, die älteste im ganzen russischen Reich, verbindet es mit Petersburg, so daß der Zar sofort von den Regierungsgeschäften in die Arme seiner Kinder eilen kann.
Durch zahlreiche und kostbare Spielsachen werden die Zarentöchter nicht verwöhnt im Gegenteil, die geistreiche Mutter erweckt schon zeitig bei ihren Lieblingen das Gefühl für Einfachheit. Großmama Viktorias schöne Puppen kommen nur an besonderen Festtagen in Gebrauch, sonst müssen Blumen und Ballspiele die Zeit ausfüllen.
Die Bewohner von Zarkoje Sjelo, die am häufigsten Gelegenheit haben, die kaiserlichen Kinder zu sehen, da sie täglich im dortigen Park ihre Spazierfahrten machen, können sich nicht genug erfreuen an den gesunden lieblichen Prinzessinnen, die den Vorübergehenden oft herzliche Kußhändchen zuwerfen.
Den Lesern der „Woche“ seien sie beifolgend in unsern intimen Bildern vorgestellt.
Unna von Aurich
Dieser Artikel erschien zuerst 1900 in Die Woche.