Das „Rote Kreuz“ im fernen Osten

1904 – Die Schrecken des Krieges trägt der elektrische Funken täglich bis in die entferntesten Winkel der Kultur, wo Menschen das Schicksal zweier kämpfenden Rassen mit Interesse und Eifer verfolgen. Industrie und Technik haben die modernen Vernichtungswerkzeuge zu ungeahnter Vollkommenheit geführt, und die übrig Gebliebenen sind so erschöpft und bis zu Tode ermattet von der übermäßigen Körper- und Nervenanspannung, daß sie jegliche Kraft und jegliches Gefühl für fremde Leiden verlieren.

Sanitätszelt zur Aufnahme von Verwundeten

Den Jammer des Krieges müssen jene stillen, die in ihrer Selbstlosigkeit und Nächstenliebe den Kämpfenden folgen, um ihnen nahe zu sein, wenn dem Arm die Waffe entfällt.

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Das „Rote Kreuz“ ist in Rußland musterhaft organisiert und mit den größten Mitteln ausgerüstet, die sich tagtäglich mehren. Moskau, die alte Zarenstadt, hat allein aus Privatmitteln zehn Millionen Mark während der Kriegszeit aufgebracht. An der Spitze dieser segensreichen Einrichtung steht die Kaiserinmutter Maria Feodorowna, während Graf Woronzow-Daschkow der Präsident ist. Sobald der Krieg ausbrach, stellte eine Anzahl hervorragender Männer ihre Arbeitskraft und Erfahrung in den Dienst des „Roten Kreuzes“ und half zunächst vier Hauptabteilungen einrichten. Kammerherr Alexandrowski begab sich mit der Kontrollstation sofort nach Charbin, während Senator von Kaufmann. Fürst Tscherbatow und Fürst Wassiltschikow an den drei andern Abteilungen mit größtem Erfolg wirken. Von Charbin aus wurden sofort umfangreiche Maßnahmen für Einrichtung von Hospitälern auf der Hauptbasis, nämlich Liaujang, ergriffen. Mukden als Hauptstadt der Mandschurei wurde natürlich ebenfalls in den Kreis des „Roten Kreuzes“ eingeschlossen. Hier arbeitet besonders das Hospital, das unter dem Namen der jungen Zarin Alexandra Feodorowna eingerichtet ist. Mehr als 200 Betten sind in musterhaftester Ordnung, die sich im Notfall noch bedeutend an Zahl vermehren lassen. Im Westen und Osten der Eisenbahnlinie ist eine ganze Anzahl Hospitäler eingerichtet, in die die Verwundeten auf besonders eingerichteten Eisenbahnzügen bequem geschafft werden können. Von den Hauptzentren werden die „fliegenden“ Abteilungen abgesandt, die sich jedem Truppenteil anschließen.

Zelt für verwundete Offiziere

Die eine folgte dem General Mischtschenko, die andere dem General Kondrahowitsch, und so geht es fort, wo nur Not und Elend zu stillen sind. Und mit welch einem heiligen Eifer wirken jene Menschen für die edle Sache! Hunderte von Aerzten haben ihre Privatpraxis aufgegeben, um sich in den Dienst des Kriegs zu stellen. Studenten des letzten Kursus drängten sich dazu, mitzugehen. Die Begeisterung jener Frauen und Mädchen, die Tag und Nacht in stummer Ergebenheit die schweren Pflichten einer Krankenpflegerin ausüben, ist beinah fanatisch. Aus den allerersten Gesellschaftskreisen liefen unzählige Meldungen ein. Allmählich bildete sich sogar eine regelrechte Reserve von Aerzten, Studenten, barmherzigen Schwestern, die sich nach dem Kriegsschauplatz begeben, ohne vorläufig gleich beschäftigt zu werden.

Ein Lazarettgebäude in der Manschurei

Die Feldlazarette, jetzt bereits in großer Anzahl vorhanden, sind mit den neusten praktischen Erfindungen ausgestattet. Leicht transportable Zelte, leichte, doch bequeme Betten. Zwischen je zweien steht eine Kiste, die sich im Nu in einen Nachtisch verwandelt mit allem Zubehör sowie Wäsche und Verbandzeug. Ganz musterhaft ist n dieser Beziehung das „Evangelische Feldlazarett“, gestiftet von den evangelischen Gemeinden in Petersburg. In kürzester Zeit vollzog sich seine ganze Ausrüstung, so daß es schon seit mehreren Monaten segensreich im Feld tätig ist.

Operationszimmer in einem russischen Sanitätszug

Unter den barmherzigen Schwestern gibt es fast nur Damen der intelligenten und priviligierten Stände. Keine scheut sich, die niedrigste Arbeit zu verrichten, wenn Bedienung nicht gleich zur Hand ist. Die einzige Tochter des Admirals Roschdschestwenski befindet sich auch unter den barmherzigen Schwestern, läuft selbst mit einem Wassereimer zum Brunnen und hat schon so manche Diele sauber gescheuert, wie sie stolz ihren Eltern berichtet. In Port Arthur arbeitete bis vor kurzem noch die Frau des Kommandeurs der „Diana“, Fürstin Lieven, in den Baracken und Hospitälern in der bescheidenen Tracht einer barmherzigen Schwester. Täglich führt der Schienenstrang neue Kräfte heran, denn alle halbwegs wohlhabenden Landschaften haben damit begonnen, ihre eigenen Hospitäler auf dem Kriegsschauplatz einzurichten. Die weiblichen Mitglieder des Zarenhauses haben eigene Sanitätszüge ausgerüstet. Sowohl die junge Zarin Alexandra Feodorowna wie die Zarinmutter Maria Feodorowna, ebenso die Großfürstin Wladimir, Maria Pawlowna. Die weißlackierten Waggons glichen in ihrem Innern musterhaften Hospitälern mit überraschendem Komfort: Apotheken, Badezimmer, Wohnräume für Aerzte und Sanitätspersonal, Küche – alles war vorhanden.

Inneres eines für Sanitätszwecke eingerichteten Gepäckwagens

Zahlreich aus allen Teilen des Zarenreichs sind die Spenden an Verbandszeug, Wäsche und bequeme Kleidung für Kranke und Verwundete. Sobald der Krieg ausbrach, regten sich Hunderttausende flinker Frauenhände aller Konfessionen, um ihr Scherflein auf den Altar des Vaterlandes niederzulegen.

Russischer Sanitätszug mit Schwestern vom Roten Kreuz

In Palästen und Hütten wird noch bis jetzt ununterbrochen gearbeitet. Das schönste Beispiel gab die junge Zarin, die täglich stundenlang im Winterpalais unter den zahlreichen wohltätigen Damen und Mädchen mitarbeitete. Die Aristokratinnen waren nicht wenig erstaunt über die Hausfrauenkenntnisse der ersten Frau Rußlands.

Dieser Artikel von U. von Aurich erschien zuerst 1904 in „Die Woche“. Die Bilder wurden nachcoloriert.