Von Wilhelm Boölsche (Friedrichshagen). Es gibt ein altes Schiffermärchen. Seefahrer landen an einer unbekannten Insel im Weltmeer. Sie nehmen sie feierlich für ihre Nation in Besitz, halten Gottesdienst und zünden ein Feuer an. Aber plötzlich beginnen die Hügel sich zu verschieben, der Boden sinkt. Denn die vermeintliche Insel ist der Rücken eines ungeheuren Kraken, der, als es ihm gut scheint, ruhig wieder in die Tiefe geht und dabei alles mit sich in den Abgrund reißt.
In dieser Geschichte liegt ein tiefer Sinn. Unsere ganze Erde hat etwas von solchem Kraken. Ich habe daran denken müssen, als neulich die Kunde von dem großen magnetischen Sturm kam. Wir alle sitzen auf unserer Erdeninsel im uferlosen Ozean des „Raums“, auch wir nehmen Besitz, glauben und vertrauen – und auch wir zünden Feuer an. Unsere ganze Technik ist nichts anderes als ein solches großen Feuer anzünden. Wir nehmen Naturkräfte als Helfer in Dienst, als Neustes die Elektrizität. Unser Kraken aber geht seinen Weg. Er ist ein Koloß, der nicht mit unsern Entfernungen zwischen zwei Punkten auf einem Krakenrücken, mit unsern Telegraphenlinien, rechnet. Er reagiert auf Sonnensignale. Ueber zwanzig Millionen Meilen Entfernung fort stellt diese Sonne sich mit einem Fleckenzeichen zu ihm ein, und er reagiert – er schüttelt sich. An dem Nachmittag bleiben alle unsere telegraphischen Apparate stehen, der Verkehr stockt. Nur einen Ruck hat er getan, der Krake. Wenn er nun ganz tauchte . ..
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Wohin soll er aber tauchen? Wir sind so stolz auf unsere größte Denkerrungenschaft: aus Nichts wird Nichts und in das Nichts fällt Nichts. Wenn wir an das Grausigste denken, was geschehen könnte, so träumen wir vom Zusammenbruch unseres Sternsystems, von Karambolagen im himmlischen Billardspiel, von Planeten, die durch Stoß aneinander explodieren. Immer schwebt uns die Welt da draußen dabei vor dem Blick, die Welt der Gravitation, die Welt, wo Sternkörper wandeln in verschlungenen Bahnen. Und doch gibt es noch einen andern Ozean, in den der Krake verschwinden könnte, und er liegt allerorten dicht unter uns. Es ist der große, tiefe Ozean des ganz Unbekannten, des Unberechenbaren. Wenn wir nun eines Morgens an unsere Apparate träten und das ganze Gebiet der engeren elektrischen Erscheinungen wäre fort! Nichts funktionierte mehr, was wir darauf gebaut. Nicht auf ein paar Stunden, nicht für ein einzelnes Land, für die ganze Erde und nach Menschenmaß für eine Ewigkeit. Wie fortgehext!
Aber es gibt doch keine Hexerei. Nein, es gibt keine. Aber es gibt unsere Unkenntnis und in ihr das Unberechenbare. Eine Naturkraft kann doch nicht plötzlich aufhören. Gewiß nicht; aber sie kann periodischen Wandlungen unterliegen, die sie nicht ins Nichts, aber plötzlich in ein Minimum für unsere Sphäre führen können. Nehmen wir die Schwerkraft, die wir äußerlich so gut kennen. Ein schwerer Korper nähert sich. Enorme Wirkungen treten plötzlich ein. Ein Ozean wird vom Mond zur Flut emporgehoben. Aber die Bahn jenes Körpers führt wieder fort. Allgemach gehen alle Wirkungen wieder herab, eilen einem Minimum zu, als schlinge ein Abgrund sie ein. Es kann eine riesige Bahn sein über alle Rechnung der Beobachter hinaus. In dieser Zeit wäre es, als sei die ganze Kraft zu nichts zerstoben. Was hemmt uns, anzunehmen, daß auch die elektrischen Erscheinungen solchen periodischen Abhängigkeiten unterlägen? Wenn nun, jetzt freilich bildlich gesprochen, auch dort ein Kraftzentrum, ein regierender Weltkörper sich plötzlich von uns entfernte, in seiner Bahn ausböge, so daß alle Wirkungen abflauten, ebbten bis zum scheinbaren Nichts. Wir sehen doch nichts von solchen elektrischen und magnetischen Weltkörpern, wo sollten sie, auch nur im Bild, sich ballen, sich bewegen, Bahnen beschreiben! Ich sage aber: was sehen wir denn überhaupt vom Ozean, vom Weltraum der elektrischen und magnetischen Erscheinungen? Nichts sehen wir. Alles ist möglich.
Das ist ja das Wunderbare, daß wir jetzt schon ganze Riesengebiete unserer Technik praktisch auf Dinge der Natur aufgebaut haben, von denen wir nicht einmal im vagsten Bild etwas Unmittelbares anschaulich wissen. Gewiß, wir kennen, streng genommen, von gar keiner Naturkraft etwas „Innerliches“, etwas Festes. Aber es ist doch noch ein Unterschied. Seidem wir in der Technik angefangen haben, mit Elektrizität und Magnetismus in stets wachsendem Maß zu arbeiten, haben wir uns auf einem dunklen Kraftozean hinausgewagt über die Grenzen unserer Sinnesorgane hinaus. Wir haben praktisch angefangen, mit dem im direkten Sinn „Unfaßbaren“ zu arbeiten. Unsern Körper mit seinen Sinnesorganen haben wir nicht gemacht, wir haben ihn mitbekommen. Dieser Körper reagiert direkt offenbar nur auf einen ganz bestimmten Ausschnitt der Dinge. Denken wir uns die Welt als eine unermeßliche Skala, symbolisch als eine Art unendlich auf- und absteigender Thermometerlinie so faßt das unmittelbare Reich unserer Sinne davon ein paar Strichelchen. Alles, was darüber hinaausliegt, muß in die Sprache dieser paar Skalastrichelchen übersetzt werden, sonst fassen wir es überhaupt nicht. In uns, um uns, an jedem Fleck Himmels und der Erden liegt dieser nachtschwarze Ozean des Ungefaßten, Unübersetzten, Unübersehtzbaren mit uns da in der Welt. Er rauscht, er grollt, er hat seine Stürme, seine Fluten und Ebben – alles existiert für uns als solches sichtbar, faßbar nur, wenn es jene paar Strichelchen der großen Skala schneidet und sich dort üersetzen läßt. Schon das, was für gewöhnlich und seit alters innerhalb unserer Striche liegt, ist nur ein Ausschnitt. Mokroskop, Teleskop, Spektralapparat haben uns beispielsweise hinlänglich aufgeklärt, wie schwach unser einfaches natürliches Mittelmaß des Sehens war. Nun haben wir aber eben in solchen Gebieten wie Elektrizität und Magnetismus angefangen, uns technisch auch gerade auf solche Teile der Skala zu verlegen, die wir nur in Uebersetzungen überhaupt lesen können, und deren Mittelfläche offenbar bereits in uns liegt, wenn auch die oberen Wellenkämme noch beständig unsern Pegelstand netzen mögen. Wir besitzen kein eigentliches elektrisches und magnetisches Sinnesorgan mehr. Allerdings wissen wir heute dank besonders der großen Tätigkeit von Hertz, welch intimer Zusammenhang besteht zwischen Elektrizität und Licht. Es hat seine gute Berechtigung wenn man sagt: in gewissem Sinn haben wir ein echtes elektrische Sinnesorgan schon eben in unserm Auge, insofern dieses wenigstens den Teil der elektrischen Erscheinungen faßt, den eine alles umgreifende Theorie im Hertzschen Sinn dort als Licht unterordnet. Aber in der Praxis wird man doch stets wieder ein engeres Gebiet auch für das Wort Elektrizität abgrenzen müssen, und es bleibt dabei, daß wir dafür so wenig ein Sinnesorgan besitzen, wie wir es etwa für „Musik“ haben würden, die von sausenden Planeten durch „Schallwellen im Aether“ erzeugt werden könnte. Gleichwohl ist Faktum, daß es uns geglückt ist, auf dieses Terrain in der Praxis eine kolossale Technik aufzubauen durch ein raffiniertes Aufpassen auf die kleinen, noch eben übersetzbaren Wellenschläge aus dem Unbekannten. Recht besehen, sind wir ja auch darin nur einer Linie nachgegangen, die die Natur weit unter uns angesponnen. Schon der elektrische Fisch, der Zitteraal, Zitterwels und Zitterroche, haben ein aktives elektrisches Organ, eine elektrische Waffe in ihrem Leib ausgebildet. Bekanntlich sind unsere Werkzeuge durchweg nur vervollkommnete Weiterführungen natürlicher Organe, und so sehen wir da bereits im Tier eine „elektrische Maschine“, und zwar sehen wir sie gerade wie bei uns gleichzeitig mit einem Nervensystem, das für elektrische und magnetische Reize keinerlei eigenes Sinnesorgan besitzt. Unsere Technik ist ja tatsächlich auch da noch viel weiter gegangen. Sie hat versucht, auch das fehlende Sinnesorgan äußerlich ersetzen, zu konstruieren. Der Kompaß, dieses unendlich wichtige Instrument für die Ausbreitung der Menschheitskultur auf der Erde, war der erste große Schritt auf diesem Weg – der Schritt, uns ein magnetisches Sinnesorgan zu schaffen, das wir, wenn nicht im Leib, so doch in der Tasche jederzeit mit uns herumtragen könnten. Die Magnetnadel ist dann ihrerseits wieder der Ausgangspunkt, das erste Alphabet gleichsam geworden für alle weiteren Uebersetzungsversuche aus dem Dunkelgebiet, sie hat die Rolle für uns gespielt wie der erste fest gedeutete Königsname auf den Inschriften für unsere Entzifferung der Keilschrift. Immerhin nicht uninteressant ist es auch, bei dieser Gelegenheit an die äußerst merkwürdigen Experimente sich zu erinnern, die von der Natur selbst auf früheren Entwicklungsstufen im Bereich der Sinnesorgane gemacht worden sind. Wenn wir auch von einem Anlauf etwa zu einem magnetischen Sinnesorgan selbst nichts wissen, so kennen wir doch andere rätselhafte Versuchsstellen, die irgendetwas „mehr“ bezweckt zu haben scheinen. Der offenbar großartigste Versuch war das sogenannte dritte Auge oder Scheitelauge, das bei den urweltlichen Sauriern von der Grenze des Amphibien- und Reptiliengeschlechts lange Zeit eine entschiedene Rolle gespielt hat. Der Schädel hatte hier auf dem Scheitel ein großes Loch, und in diesem Loch saß ein regelrechtes Zyklopenauge, ein „drittes Auge“, denn die beiden normalen Augen waren außerdem noch vorhanden. Voch heute läßt sich bei einzelnen lebenden Reptilien ein Rest dieses „Himmelsauges“ nachweisen, ja wir selbst tragen unter der fest verschlossenen Wölbung unseres Schädels in der sogenannten Zirbeldrüse unseres Gehirns ein letztes Ueberbleibsel, einen Stumpf mit uns herum von dem Nervenstamm, der zu einem solchen Scheitelauge leiten sollte. Wie die Anatomie der heute noch mit jenem Rest deutlich versehenen Reptilien erweist, handelte es sich aber nicht bloß um ein einfaches Auge, es ist noch irgendein besonderer Sinnesapparat verbunden gewesen, dessen äußere Schale wir noch sehen, von dessen Leistung wir uns aber gar keine Vorstellung mehr machen könnnen.Praktisch bewäht hat sich die Sache, was es nun gewesen sei, jedenfalls nicht, denn sie ist ist mit fortschreitender Entwicklung wieder abgeschafft worden.
Unsere Situation bleibt troß allem die gleiche. Wir fußen auf diesem ganzen Terrain immer nur unt er den Bedingungen wie jene alten Seefahrer auf dem Kraken, solange sie ihn für eine echte Insel hielten. Im Angenblick da sich die Uebersetzung „Insel“ für „Kraken als falsch erwies, ging alles in die Tiefe. Notwendig müssen wir uns den Blick dafür frei halten, daß die Eroberungszüge unserer Technik seit geraumer Zeit schon über Dunkelfelder traben, wo die kleine Rechnung von Schritt zu Schritt zwar immer sicherer wird, dafür im großen aber die Gefahr des „Unberechenbaren“ ständig zunimmt.
Da wir nicht offen in die Karten der magnetischen Welt hineinschauen, wissen wir das für uns Entscheidenste nicht von ihr. Wir kennen nicht den Grad ihrer harmonische Einstellung, ihrer Solidität, wir kennen, um es ganz menschlich auszudrücken, ihren Kredit nicht. Der Welt der Gravitation, den im Gleichgewicht kreisenden Planeten, Monden, Sonnen gegenüber haben wir doch ein gewisses Gefühl des Kredits. Die ganzen Himmelssysteme, in denen auch unsere Erdbahn hängt, geben bis zu gewissen kleinen Schwankungsgrenzen doch den Eindruck von Stabilität. Sie stellen ein Harmonieprodukt dar, höchstwahrscheinlich eine Harmonieauslese, die nach unendlichen Kämpfen sich herausgesiebt hat, jetzt aber für absehbare Zeit in der Balance ist. Diese Harmoniebalance, die beispielsweise die Erde jetzt in so und so viel Millionen Jahren offenklar nicht aus ihrer Sonnenbahn hat fallen lassen, hat uns Zeit gelassen, uns überhaupt zu entwickeln. Und es steht nach aller Analogie nichts im Wege, in ihr Zeit zu finden auch noch für Jahrmillionen aufs kühnste losschreitender Fortentwicklung unserer Kultur. Daß wir überhaupt sind, muß jedem, der an natürliche Entwicklung glaubt, eine gewisse Garantie dafür geben, daß wir uns nach der Gravitationsseite, im Bereich großerer kosmischer Körperkatastrophen, in einem Weltstadium wenigstens relativer Ruhe, glatter Auflösung, periodisch geregelter Harmonie befinden. Für die Welt aber, aus der jetzt der magnetische Sturm kam, wissen wir darüber nichts. Es scheint allerdings, daß die Sonnenflecken und damit gewisse magnetische Sturmerscheinungen der Erde an eine bestimmte mehrjährige Periode gebunden sind. Das wäre denn ein erster Anhaltspunkt für die Annahme doch auch einer gewissen harmonischen Ordnung. Aber es ist eben nur ein Anhaltspunkt. Eine Beziehung zu den andern bekannten Harmonien haben wir darin noch nicht. Es ist vorläufig ebenso möglich, daß die magnetischen Vorgänge des Alls und enger die unseres Systems sich auf einer ganz andern Stufe ihrer Entwicklung, ihrer Ordnung befinden. Es kann hier noch das unruhigste, in jedem Betracht unberechenbarste Vorstadium lebhafter, abrupt disharmonischer Gesamtbewegungen walten, ein wildes Fluten der Dinge. Es hat sogar eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß die Sonnenflecken, die auf alle Fälle irgendwie mit in der Rechnung sind, akute Aeußerungen einer sehr rapid vorschreitenden Entwicklung sind. Das kann durchaus gut zu jähen Steigerungen, zu Ueberraschungen aller Art führen. Gewiß: schwerlich zu solchen, die unsere irdische Existenz im ganzen bedrohen. Dagegen spricht wieder die Analogie der verflossenen Jahrmillionen, in denen das Leben sich entwickeln konnte, ohne durch elektrische Katastrophen vernichtet zu werden. War doch der Einfluß von dorther offenbar nicht einmal so stark, daß dieses Leben sich ein Sinnesorgan für diese Eindrücke eingerichtet hätte! Völlig kann natürlich auch das nicht beruhigen, denn es muß offen bleiben, daß die Sonne als Glutball im kalten Raum eben auch eigenen Entwicklungen unterliegen muß, die irgendeinmal im Gegensatz zu allen früheren sich geltend machen könnten. Hängen die Sonneflecken mit ihnen zusammen, wie oft vermutet worden ist, so ist auch da ein altes Kreditkonto abgelaufen und über ein neues noch nichts bekannt. Immerhin: auch von lebensbedrohenden Katastrophen völlig abgesehen – wir müssen uns klar bleiben, daß unsere Technik Stößen des unbekannten Meeres ausgesetzt bleibt, die uns ungeheuren Kulturschaden zufügen können. Auch der Krake, über den bloß ein Schauer läuft, von dem bildlich gesprochen, alle Telegraphenstangen umfallen, ist ein ungemütlicher Kulturboden.
Wenn die Stöße des Unberechenbaren über die Erde zittern, wenn die Nadeln der Apparate taumeln und all unsere Kunst auf Stunden sich beugen muß wie ein Kornfeld, in das der Sturm schlägt – wenn die rote Strahelnkrone der Nordlichter um den magnetischen Pol flammt wie ein großes Freudenfeuer der Weltallsdämonen über die Unwissenheit des Alleswissers Mensch – in solcher Stunde der Geister und der Stürme geht doch auch Trost um. Der Trost, wie tief die Welt ist, in Tiefen hinab, zu denen noch kein geistiges Senklot reicht. Und das zu wissen, is doch auch gut. Unsere Zeit leidet allerorten etwas an zu kurzen Senkloten. Es wäre jammerschade, wenn wir in unserer Naturbetrachtung an all den seichten Stellen, wo heute gern halt gemacht wird, wirklich schon auf dem großen Grund wären.
Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 48/1903. Das Artikelbild Beispielbild von Petra auf Pixabay