1905, von Professor Wilhelm Kübler. Die Eleltrotechnik gilt im allgemeinen für interessant; das Interesse beruht aber doch bei sehr vielen Menschen lediglich auf der Erinnerung an irgendwelche glänzenden Experimente mit viel Funkengeknatter, blendenden Lichterscheinungen und Vorgängen, die so etwas ans Wunderbare streifen.
Hin und wieder und dem natürlichen Verlauf der Dinge nach in steigendem Maß ergeben sich aus der Unentbehrlichkeit gewisser Einrichtungen auch wohl Fragen nüchterner Art, wie zum Beispiel die nach der Gefährlichkeit oder Ungefährlichkeit elektrischer Einrichtungen; aber selten findet sich bei Laien die Neigung, diese Fragen durch ein wirkliches Eingehen auf die Sache verstehen zu lernen. Allmählich wird es indessen Zeit, daß es anders wird. An Angehörige aller Berufsarten treten durch Vorkommnisse, die zu den alltäglichen gerechnet werden müssen, Fragen technischer Art heran, und wenn man auch niemals von ihnen deren fachmännische Beantwortung verlangen wird, so muß man es doch als unbedingt notwendig bezeichnen, daß das Verständnis der Grundlagen erstrebt und erreicht wird. Sonst kommt es dahin, daß an entscheidender Stelle statt sachlicher Erwägung ein Operieren mit Schlagwörtern stattfindet.
Darin liegt dann eine doppelte Gefahr, einmal für die Sache, die verhandelt und eventuell in ganz falsche Gleise gelenkt wird, und dann für die Person, die sich dabei der Kritik, zum wenigsten der der Fachwelt preisgeben muß. Wenn sich solche Zustände unter andern Verhältnissen fanden, so hat man von ihnen mit Recht und in wirksamer Weise für die Ausschmückung von Possenrollen Gebrauch gemacht. Und wenn heute ein Dichter für seinen Charlatanhelden noch ein neues, recht schönes Schlagwort wissen wollte, so würde ich ihm die fachmännische Bezeichnung „vagabondierende“ Ströme zur Beachtung empfehlen, die ja durch ihren romantischen Klang schon an sich etwas Theatralisches hat. Und doch ist es mit den vagabondierenden Strömen natürlich wie mit allen technischen Vorgängen von praktischer Bedeutung eine wichtige Sache.
Wie andere Vagabonden haben die elektrischen manch interessante und daher für den Forscher reizvolle Eigenschaft. Aber sie haben allerdings auch Neigungen bedenklichster Art, in deren Ausübung sie mit den menschlichen Interessen stark in Widerspruch geraten, zum Beispiel die, in fremdes Eigentum einzudringen und allerlei Wertvolles zu entwenden. Will man das Unwesen dieser Bande beseitigen – und dazu haben die Ingenieure natürlicherweise die Pflicht und glücklicherweise auch ausreichende Mittel – so wird man zuerst feststellen müssen, wo die Gesellen herkommen, und wo sie hingehen. Der Kriminalist geht in gewissem Sinn immer historisch vor; wenn wir es ihm nachmachen, so erfahren wir, daß die ersten Meldungen von bedenklichen Taten der vagabondierenden Ströme aus Amerika kamen, als dort, nachdem durch die Versuche von Werner Siemens in Berlin die Möglichkeit elektrischer Eisenbahnen nachgewiesen war, die Straßenbahnen anfingen, sich der neuen Betriebsweise in größerem Maßstab zu bedienen. Dabei wandte man schon allgemein das bis heute gebräuchlichste System der Stromzuleitung zum Fahrzeug an, das darin besteht, daß man über der Bahn einen kräftigen Hartkupferdraht ausspannt, ihn mit dem einen Pol der Dynamomaschinen im Kraftwerk verbindet und von ihm durch eine Rolle oder einen Bügel den Strom an das Fahrzeug abgibt, während als zweite Leitung die Fahrschienen unter Vermittlung der Laufräder dienen. Zwei Leitungen braucht man ja bekanntlich unbedingt, weil, gerade wie man bei einer mechanischen Uebertragung mittels eines Seils oder eines Riemens immer ein hin und ein herlaufendes Stück Seil hat, der Strom in einer Leitung zum Fahrzeug hin, in der andern zur Stromquelle zurückfließen muß. Entsprechend der Auffassung vom Hin- und Zurückfließen des Stroms hat man sich in der Bahntechnik das Wort „Schienerückleitung“ gebildet.
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Diese Art der Stromversorgung bewährte sich an sich ganz ausgezeichnet; nur dem einen Umstand hatte man zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, daß nämlich die Schienenrückleitung in den Erdboden ohne weiteres eingebettet war, und daß der Erdboden gerade wie die Schienen in der Lage ist elektrische Ströme fortzuleiten wenn auch in geringerem Maß, weil sein „Widerstand“ im allgemeinen ein größerer ist. Man schuf eine elektrische Leitung, die etwa so wirken mußte, als hätte man in einem Land aus Löschpapier einen Graben angelegt und ihn nun für Wasserleitungszwecke in Benutzung genommen.
Wenn man schon hiernach hätte erwarten müssen, daß das die Schienen umgebende Erdreich sich elektrisch vollsaugen würde, so kam noch erschwerend hinzu, daß man im Land der unbegrenzten Möglichkeiten keinen Anstoß an der Tatsache genommen hatte, daß die Schienen ja doch kein unmittelbar zusammenhängendes Ganze bilden, sondern aus Stücken zusammengesetzt und an den sogenannten Stößen lediglich durch Laschen verschraubt sind. Diese Stöße bildeten aber Stellen von erheblich geringerer Leitfähigkeit als die übrigen Gleisteile und erhöhten daher den Widerstand der beabsichtigten Schienenrückleitung beträchtlich. Die Folge war, daß das Austreten „vagabondierender Ströme“ in das Erdreich speziell an den Stößen begünstigt wurde.
Mit dem ersten Schritt vom Weg begannen sich nun die schlechten Eigenschaften der vagabondierenden Ströme zu zeigen. Zunächst beobachtete man die bei solchem Volk ja nicht verwunderliche Neigung zu grobem Unfug.
Die vagabondierenden Ströme suchten fremde Leitungen auf, in die sie eindrangen, zum Beispiel Fernsprechleitungen, zu denen ihnen die im Telephonbetrieb früher überall üblichen Erdplatten Eingang verschafften; sie warfen die Klappen des Vermitttlungsamts heraus, störten durch unerträgliches Mitplappern die Gespräche usw.
Diesem Unwesen wurde dadurch gesteuert, daß man die in Frage kommenden Erdplatten aus dem Bereich der Bahnen entfernte. Dann machten sich vagabondierende Ströme in der Weise unbeliebt, daß sie die Gelehrten in den physikalischen Laboratorien durch allerlei auf ihren magnetischen Eigenschaften beruhende Wirkungen belästigten. Hier half man sich teilweise durch Veränderung der Instrumente, die man so bauen lernte, daß die Fernwirkungen des elektrischen Bummlervolkes ihnen gegenüber wirkungslos wurden, und nur ein kleiner Teil der Arbeiten der Physiker blieb übrig, der in der Nähe elektrischer Bahnen nun nicht mehr möglich war.
Ihm zuliebe hat man sich entschließen müssen, in der Nähe physikalischer Institute von der Verwendung der Schienenrückleitung abzusehen oder die in Frage kommenden Versuche zur Nachtzeit zu machen, wenn die Bahnen nicht fahren. Also auch da ist man zur erfolgreichen Beseitigung jeder Gefährdung gekommen.
Aber nach alledem blieb noch eine große Schwierigkeit: die vagabondierenden Ströme stehen unter der Einwirkung eines mächtig zwingenden Heimwehs; es treibt sie mit unwiderstehlicher Gewalt, zur Stromquelle auf dem am besten leitenden und kürzesten Weg zurückzukehren; sind sie einmal aus den Schienen herausgedrängt, so suchen sie sich den nächsten metallischen Leiter, der sie ein Stück weiter zur Stromquelle hin mitnehmen kann, und solche Leiter bieten sich ihnen im Straßengrund in den dort liegenden verschiedenen Rohrnetzen, auch wohl in der Bleiumhüllung von Kabeln von Telegraphenleitungen, Lichtleitungen usw. Und hierbei tritt der Rang zum Stehlen hervor. Das kommt so. Wenn man in ein Medium wie feuchtes Erdreich oder dergleichen zwei Metallkörper einbettet und den einen mit dem einen, den andern mit dem andern Pol einer elektrischen Stromquelle verbindet, so geht der Strom von dem einen Metallkörper zur Erde und von der Erde zum andern Metallkörper über; dabei werden beide Metallkörper verändert; der eine wird teilweise aufgelöst, und das aufgelöste Material wird vom Strom zum andern Körper transportiert und auf ihm niedergeschlagen. Man nennt diesen Vorgang bekanntlich Elektrolyse. Welcher von den beiden Körpern angegriffen wird, das hängt in dem Fall lediglich von der Stromrichtung ab. Nun ist es klar, daß, wenn die vagabondierenden Ströme eine solche Richtung haben, daß sie Metall von den Röhren stehlen und zu den Schienen transportieren, eine sehr große Gefahr besteht, daß einmal die großen, in den Rohrnetzen investierten Werte zerstört und dann unter Umständen durch Rohrbrüche, die eintreten, wenn die Rohrwandungen durch den andauernden Angriff genügend geschwächt sind, schwere Unfälle herbeigeführt werden.
Hier handelt es sich also um eine sehr ernste Frage. Als die ersten Beobachtungen über Rohranfressungen aus Amerika her bekannt wurden, war man in der Tat sehr besorgt; indessen ergab sich sehr bald die Möglichkeit, den Metalldieben das Handwerk mit Erfolg zu legen. Vor allem sah man sofort ein, daß besser als sonst etwas die mögliche Verhinderung oder Einschränkung des Austritts vagabondierender Ströme aus den Schienen sein mußte. Waren keine Diebe da, so konnte auch nicht gestohlen werden. Infolgedessen macht man gegenwärtig den Widerstand der durch sorgfältige Behandlung der Schienenstöße und Anbringung gut leitender Ueberbrückungen (sogenannter Schienenverbinder) so gering als irgend möglich. Weiter ordnet man besondere Kabel und Maschinen an, die eine Art von Absaugung des Stromes ermöglichen, und dann fanden sich auch noch andere Hilfsmittel, deren Erörterung hier aber zu weit führen würde. Als Resultat kann heute festgestellt werden, daß ernstliche Schwierigkeiten durch vagabondierende Ströme nicht vorgekommen sind; vereinzelte Beschädigungen von Rohren wurden allerdings beobachtet, waren aber immer nur auf kleinere Stellen beschränkt. Immerhin muß aber natürlich doch dauernd aufgepaßt werden, und dafür ist bestens gesorgt. Sowohl die Straßenbahnen, als auch die Besitzer der Rohrleitungen haben ja ein recht großes Interesse daran, aufmerksam zu bleiben; jene müssen sich hüten, daß ihnen Schadenersatzverpflichtungen erwachsen, diese haben sich gegen Betriebsstörungen zu schützen.
Das Kapitel der vagabondierenden Ströme gibt für den Leser also, wenn man alles zusammenfaßt, ein Beispiel dafür, daß unsern Ingenieuren die verantwortliche Sorge für Vorgänge auferlegt werden muß, von denen die Allgemeinheit bei der Ausnützung der ihr gebotenen technischen Errungenschaften kaum etwas ahnt.
Es lehrt weiter für sein Teil, daß lediglich gewissenhaftes Beobachten aller Vorkommnisse durch den Sachverständigen die Sicherheit eines technischen Betriebes ausmacht, und daß es von großer Wichtigkeit für alle ist, daß die technische Wissenschaft dauernd ihr Werkzeug für die Anwendung auf solche Beobachtungen im praktischen Leben gerüstet hält. Daß man vagabondierende Ströme nicht durch Gesetz verbieten oder vom Tisch aus bekämpfen kann, ist selbstverständlich; solche Maßregeln würden zum Erfolg des Hausherrn führen er im Finstern die Katzen verscheuchen wollte und dabei die Wirtschaft zerstörte. „Blinder Eifer schadet nur!“
Dieser Artikel erschien zuerst 1905 in Die Woche.