Von Paris bis Peking

Der Zug in Eis und Schnee

Eine Skizze aus dem internationalen Postverkehr von A. Oskar Klaußmann.

Es ist Mittwochabend. Die Uhr des Pariser Vordbahnhofs zeigt 9 Uhr 50 Minuten an. Der Paris-Berliner Schnellzug steht zur Abfahrt fertig. Mit lautem, sonorem Klang arbeiten die Pumpen, die aus dem Tender der großen Lokomotive Wasser in den Kessel treiben. Aus allen Ventilen der Lokomotive zischt der Dampf.

Da nahen in eiligem Lauf zwei Pariser Postbeamte, die einen Postsack tragen. Sie stürmen auf den Eisenbahnpostwagen zu, die Türen springen noch einmal auf, der Beutel fliegt in den Wagen hinein, und unmittelbar darauf jagt der Zug nach Norden, auf St. Denis zu, aus dem Bahnhof.

Dies ist ein historischer Text, welcher nicht geändert wurde, um seine Authentizität nicht zu gefährden. Bitte beachten Sie, dass z. B. technische, wissenschaftliche oder juristische Aussagen überholt sein können. Farbige Bilder sind i. d. R. Beispielbilder oder nachcolorierte Bilder, welche ursprünglich in schwarz/weiß vorlagen. Bei diesen Bildern kann nicht von einer historisch korrekten Farbechtheit ausgegangen werden. Darüber hinaus gibt der Artikel die Sprache seiner Zeit wieder, unabhängig davon, ob diese heute als politisch oder inhaltlich korrekt eingestuft würde. Lokalgeschichte.de gibt die Texte (zu denen i. d. R. auch die Bildunterschriften gehören) unverändert wieder. Das bedeutet jedoch nicht, dass die darin erklärten Aussagen oder Ausdruckweisen von Lokalgeschichte.de inhaltlich geteilt werden.

„Das war noch zur rechten Zeit!“ sagt einer der Postbeamten, sich den Schweiß von der Stirn wischend, „die chinesische Post kam sonst nicht mehr mit.“

Dieses Schauspiel vollzieht sich jeden Abend. Der Zug von Havre-Rouen kommt auf dem Bahnhof St. Lazare 9 Uhr 35 Minuten abends an, und soll die chinesische Ueberlandpost aus dem Nordwesten Frankreichs noch den täglichen Anschluß erreichen, so muß sie eben bis 9 Uhr 50 Minuten auf dem Nordbahnhof sein.

In dem Eisenbahnpostwagen des Paris-Berliner Schnellzugs ist der Postsack von Havre zu den andern Beuteln und Säcken gelegt worden, die die für China bestimmte französische Post enthalten. Im Lauf des Tags sind in Paris aus Bordeaux, Marseilles, Lyon, von Irun, Saragossa und Barcelona, von Tours und Nantes, von Brest und Dijon auf den verschiedenen Eisenbahnlinien die Beutel der chinesischen Post eingelaufen und nach dem Nordbahnhof geschafft worden, wo sie der Weiterbeförderung harren.

Station Talbaga mit Kirche
Station Talbaga mit Kirche

Der Herbststurm peitscht den Regen der Lokomotive entgegen, daß die Tropfen wie Erbsen auf den dicken, runden Gläsern des Führerstandes klappern. Doch in eiliger Fahrt nimmt der Weg eine Zeitlang nach Norden, dann nach Osten, bis er gegen 1 Uhr nachts die belgische Grenzstation Erquelines erreicht hat. Gegen 5 Uhr morgens ist er in Verviers angelangt, und hier erhält die chinesische Post, die nach dem Osten geht, einen starken Zuwachs. Sie empfängt die ganze belgische Post, einen Tel der holländischen Post und endlich sämtliche englischen nach China bestimmten Postsachen, die im Lauf des Tags über Ostende angekommen sind. Beim Morgengrauen überschreitet der Zug die deutsche Grenze, nimmt dann in Aachen einen weiteren Teil der holländischen Post, ebenso die englische Post, die über Vlissingen gekommen ist, und außerdem die luxenburgische Post ein. In Köln schließen sich die nach China bestimmten Postsachen aus Elsaß-Lothringen, aus den Rheinlanden, aus einem Teil von Süddeutschland und aus dem Teil Frankreichs, der direkt über Metz spediert, der chinesischen Post an. Ueber Hildesheim, Magdeburg jagt dann der D-Zug, der zwanzig Stunden, nachdem er Paris verlassen hat, am Donnerstagabend um 6 Uhr 3 Minuten auf de Potsdamer Bahnhof in Berlin eintrifft.

Hier erwartet ein großer Magazinwagen die chinesische Post, die jetzt schon aus achtzehn bis zwanzig großen Säcken besteht, die der Wagen in schneller Fahrt nach dem Schlesischen Bahnhof bringt. Auf einem Seitengleis des Schlesischen Bahnhofs in der Nähe der Abfahrtstelle steht täglich von 4 Uhr nachmittags an ein Eisenbahnpostwagen der Bahnpost Nr. 18 (Berlin-Alexandrowo), die direkte Kartenschlüsse nach Peking, Tientsin, Tschifu, Tsingtau, Schanghai, Nagasaki, Kobe Tokio und Jokohama macht.

Im Lauf des Nachmittags sind auf den verschiedenen Berliner Bahnhofen die zur Beförderung nach China über die sibirische Eisenbahn bestimmten Postsäcke pünktlich eingetroffen. Von Schweden und Norwegen kam die chinesische Post über Malmö-Saßnitz auf dem Stettiner Bahnhof an; dort landete auch die dänische Post über Gjedser-Warnemünde. Die Post von Hamburg und Bremen traf auf dem Lehrter Bahnhof ein; die schweizerische, ein Teil der italienischen, die bayrische, badische, württembergische, sächsische Post ist mit verschiedenen Zügen im Lauf des Nachmittags auf dem Anhalter Bahnhof eingetroffen. Sofort nach der Ankunft sind die für die chinesische Ueberlandpost bestimmten Briefbeutel durch Karriolwagen nach dem Schlesischen Bahnhof geschafft und dort den Beamten des Eisenbahnpostwagens übergeben worden.

Welcher Wechsel hat sich in den wenigen Wochen, seitdem die sibirische Bahn zur Briefbeförderung benutzt wird, vollzogen! Früher schickte Berlin seine Briefe nach China über München und den Brenner nach Italien, und zwar nach Brindisi. Jetzt schicken die Italiener ihre Post über Berlin nach China.

Bevor der D-Zug No. 21 vom Schlesischen Bahnhof abgeht, sind auch die Briefsäcke, die der auf dem Potsdamer Bahnhof angelangte Pariser Schnellzug gebracht hat, dem Postwagen der Bahnpost 18 zugeführt worden. Lokomotive und Packwagen setzen sich vor den Postwagen und bringen ihn bis vor den D-Zug, der um 7 Uhr 30 Minuten abends (Donnerstag nach unserer Annahme) den Bahnhof verläßt.

Bei der Abfahrt aus Berlin ist die chinesische Post auf dreißig starke, mannshohe Säcke angewachsen. Man hatte in Berlin nach Benutzung der sibirischen Ueberlandstrecke eine starke Zunahme des Verkehrs erwartet, aber niemand ahnte, daß sie so bedeutend werden würde, wie sie sich in Wirklichkeit herausgestellt hat. Um mehr als tausend Prozent ist der Verkehr mit China in den letzten Wochen gestiegen!

Ueber Landsberg, Küstrin und Kreuz geht der D-Zug nach Schneidemühl. Hier empfängt er die von Königsberg und Danzig kommende, für China bestimmte Post und setzt seinen Weg über Bromberg und Thorn fort. Hier erhält die chinesische Post einen abermaligen starken Zuwachs. Ueber Breslau-Posen ist nämlich die gesamte österreichisch-ungarische, ein Teil der italienischen und der Balkanpost, in Beuteln fertig verpackt, zur Weiterbeförderung nach Rußland eingetroffen. Mit ungefähr 36 bis 40 großen Säcken erreicht die deutsche Post Alexandrowo und übergibt hier die chinesische Post den Russen.

Der Zug in Eis und Schnee
Der Zug in Eis und Schnee
Station Aga. Die Lokomotive nimmt Holz und Feuerung ein
Station Aga. Die Lokomotive nimmt Holz und Feuerung ein

Ueber Kutno, Stierniewice und Warschau fährt der Schnellzug und nimmt später über Lukow, Brest-Litewsk, Minsk, Smolensk durch die Gegend, durch die einst die große Armee Napoleons zog, Tag und Nacht seinen Weg.

Am Sonnabendnachmittag gegen 5 Uhr nähert sich der Zug, nachdem er einen gewaltigen Eichwald passiert hat, einer weiten, großen Stadt, die von zahllosen Kuppeln und Türmen überragt ist. Es ist Moskau, die heilige Stadt Rußlands, die der Zug nach 44 stündiger Fahrt von Berlin aus erreicht hat. Fünfmal wöchentlich wird jetzt von Moskau aus die chinesische Post aus dem Westen, die täglich um 3 Uhr 30 Minuten nachmittags eintrifft, befördert. Der Sonnabend ist einer dieser Beförderungstage, und um 10 Uhr 40 Minuten abends (Petersburger Zeit) verläßt der Luxuszug, der die Post mit sich nimmt, das heilige Moskau.

Wartesaal III. Klasse in Krasnojarsk
Wartesaal III. Klasse in Krasnojarsk
Erdwohnung der Chinesen. Aufnahme bei Station Mondouché
Erdwohnung der Chinesen. Aufnahme bei Station Mondouché

In den ersten Morgenstunden des Sonntags erreicht der Zug Tula, die bekannte russische Industriestadt. In den nächsten 24 Stunden legt der Zug ungefähr 800 Werst zurück und ist am Montagmorgen in Sysran, um bald darauf die Wolga zu passieren und an deren linkem Ufer bis Samara 125 Werst weit zu fahren. Er durchschneidet die fruchtbarsten, von der Natur gesegnetsten Landstriche Rußlands, die sogenannte „schwarze Erde“. Hinter Samara beginnt das Gebiet der Baschkiren und Kalmücken, und die Vertreter der kaukasischen Rasse sind jetzt auf den Bahnstationen seltener zu sehen, der mongolische Typus herrscht vor. In den ersten Morgenstunden des Dienstags erreicht der Zug die Station Ascha-Balaschewskaja, und mittags gegen 1 Uhr ist er in Tscheljabinsk (2045 Werst von Moskau), wo die sibirische Eisenbahn beginnt. Bevor der Zug aber hier eintraf, hatte er den südlichen Teil des Uralgebirges, den sogenannten Waldural, zu durchschneiden. Bei Slatoust erreichte der Zug die Höhe des Gebirges, das überreich mit Kiefern, Linden, Birken und Eichen bestanden ist.

Buriäten auf der Station Talbaga
Buriäten auf der Station Talbaga
Brücke über den Fluss Ob
Brücke über den Fluss Ob

Ohne Wagenwechsel kommt der Zug in den Morgenstunden des Mittwochs in Petropawlowsk, in den frühesten Morgenstunden des Donnerstags in Tschuljim an, und zwischen 4 und 5 Uhr morgens passiert er rasselnd die große Gitterbrücke über den Ob. Am Freitagvormittag ist der Zug in Krasnojarsk, am Sonnabend gegen 6 Uhr morgen Nischneudinsk und kurz nach Mitternacht zum Sonntag in Irkutsk, der Hauptstadt Sibiriens.

Während Irkutsk früher gewissermaßen die „Ultima Thule“ des Ostens war, selbst für den Russen und für den Westeuropäer ein vager Begriff, ein Ort, wo sich, um vulgär zu sprechen, „Hund und Katz gute Nacht sagen“, ist Irkutsk jetzt auf dem Weg, eine der wichtigsten Handels- und Verkehrstädte der ganzen Welt zu werden. Nicht mehr „im äußersten Osten“ liegt diese Stadt, sondern mitten auf dem Weg von Moskau nach dem Japanischen Meer; in Zukunft wahrscheinlich ein Hauptknotenpunkt der Eisenbahnen, die den Norden Sibiriens und die Mongolei erschließen werden. Es beginnt hier die Transbaikalbahn und der Zug hat in Irkutsk einstündigen Aufenthalt, bis 1 Uhr 34 Minuten (Sonntag) morgens. Gegen 4 Uhr früh ist dann die Station Baikal am Baikalsee erreicht. Die Umgehungsbahn, die von Irkutsk um den Baikalsee herum nach Myssowaja führen soll, wird erst binnen Jahresfrist fertig sein. Jetzt wird die Post mitsamt dem Eisenbahnzug von Station Baikal nach Tanchoi auf dem Eisbrecherschiff, von Mitte Januar ab auf Schlitten, über das Eis des Baikalsees befördert. Der Eisbrecher, der auf Station Baikal bereit liegt, ist ein gar gewaltige Dampfschiff. Er ist so groß, daß er drei Personenzüge auf einmal befördern kann. Das Schiff ist in seinem Vorderteil schwer und massig gebaut und hat außerdem noch eine Pumpe am Bug. Mit dieser zieht es das Wasser unter dem Eis fort und schiebt sich dann mit seinem Vorderteil auf das Eis hinauf, um dieses ein zubrechen, ohne daß das Wasser unter dem Eis Widerstand leisten kann. Zerbrochene Eisplatten bezeichnen den Weg, den der Dampfer in vier Stunden durch die mit pittoresken Bergen umkränzten Fluten jenes Südwestzipfels des Baikalsees nimmt. In Tanchoi erreicht der Zug wieder das Land, und in Myssowaja trifft er am Sonntagnachmittag gegen 3 Uhr ein, trotzdem Schnee und Eis die Fahrt des Zugs erschwert haben. Montagmorgens gegen 8 Uhr erreicht der Zug Tschita, Dienstagmorgens Aga und um 2 Uhr nachmittags des gleichen Tags die Station Mandschuria. Hier beginnt die chinesische Bahn, bei der nach Harbiner Zeit gerechnet wird.

Von jetzt ab verlangsamt sich die Fahrt des Zugs außerordentlich. Trotzdem jede einzelne Station an der mandschurischen Bahn von den Russen in ein kleines Fort verwandelt ist, in dem die Soldaten scharf Wache halten, gilt die Strecke doch für so gefährlich, daß nur am Tag Züge gehen und bei Einbruch der Dunkelheit der Luxuszug auf der Station bis zum nächsten Morgen stehen bleibt. Da die Tage jetzt kurz sind, ist das Vorwärtskommen natürlich sehr langsam.

Nach Tagen ist endlich Harbin erreicht, einer der wichtigsten Knotenpunkte dieser östlichen Kontinentbahn. Von hier aus führt die Hauptstrecke weiter nach Osten bis Wladiwostok am Japanischen Meerbusen. Eine andere Linie zweigt sich nach Süden ab, geht nach Mulden und von da nach Datschitschau. Hier teilt sich die Linie abermals in eine westliche und in eine südliche.

Verlausstelle der Chinesen am Bahnhof Mukden
Verlausstelle der Chinesen am Bahnhof Mukden

Letztere geht nach Dalny, einem neu entstandenen Hafenort am Gelben Meer in der Nähe von Port Arthur, die andere über Inkau und Tientsin nach Peking. Von Dalny aus erfolgt einmal wöchentlich die Weiterbeförderung der Post mit Dampfern nach Schanghai, Japan und Korea.

Die Beförderung der Post von Paris bis Peking nimmt jetzt 21 bis 23 Tage in Anspruch. Nach Jokohama gelangen die Briefe, wenn sie den Anschluß in Dalny prompt erreichen, in 25 bis 31 Tagen. Der Pariser Brief brauchte früher schon von Marseille bis Peking 45 bis 50 Tage, wozu noch die Unsicherheit des Seewegs kam. Die deutsche Post, die mit den Postdampfern über Genua-Neapel befördert wurde, brauchte von Hamburg bis Peking ungefähr sechs Wochen, wobei ebenfalls die Zufälligkeiten und Gefahren des Seetransports noch in Betracht zu ziehen waren.

Jetzt hat Deutschland in China eine ganze Anzahl von Postämtern, die unter Leitung des Postrats Puche in Schanghai stehen, und durch diese Postämter wird eine sichere Beförderung der mit der sibirischen Bahn angelangten Briefe weiter in das Innere Chinas besorgt. Leitet doch Berlin jetzt über die sibirische Bahn die Postsendungen bereits nach folgenden Provinzen Chinas: Hupe, Honan, Kiangsu, Kiangsi, Kansu, Ngan-Hwei, Schansi, Schantung, Schensi, Tschekiang, Tschili.

So hat die sibirische Bahn für den Weltverkehr und für die Förderung der internationalen Beziehungen, für die Verbindung des fernsten Westens Europas mit dem bisher unerschlossenen Zentrum Asiens die außerordentlichsten Vorteile gebracht.

Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 49/1903.