Die Bürger Stuttgarts, die des Abends an dem kleinen Prinzessin Marie – Palais, gegenüber dem Königsschloß, vorbeigehn, finden oft zwei Fenster des Erdgeschosses erleuchtet. Hinter diesen Fenstern sitzt König Wilhelm II von Württemberg an seinem Schreibtisch und arbeitet. Der fleißigste und gewissenhafteste Mann in seinem Land ist der König; seinen überaus einfachen Lebensgewohnheiten widerstrebt es, in der herrlichen, weiten Königsburg, einer der stolzesten Residenzen Deutschlands, zu wohnen; nur in dem kleinen Palais findet er ein Behagen; in den Parterreräumen hat er sein Arbeitzimmer, das auch für Audienzen bestimmt ist, eingerichtet.
Eine schwere und ernste Aufgabe hat an König Wilhelm II den geduldigen, gütigen Mann gefunden, der sie beherrscht. Als er nach dem am 6. Oktober 1891 erfolgten Tod seines Onkels und Vorfahren Königs Karl I die Regierung antrat, fand er die innigen Bande zwischen dem Schwabenvolk und seinen Herrschern bedenklich gelockert. Nicht bloß die politischen Krisen, die die süddeutschen Staaten schließlich in das Lager des hohenzollernschen Kaiserhauses hinüberführten, auch mancherlei persönliche Verhältnisse hatten tief und störend gewirkt. Was Einsicht, Güte und Pflichttreue eines Monarchen vermag, hat König Wilhelm, der in seinem Land alle Verehrung genießt, vollauf gethan, sich die vertrauensvolle Freundschaft des Deutschen Kaisers zu gewinnen.
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Aber die größte Freude und Genugthuung hat ihm das Schicksal versagt. Der Sohn, den ihm die Königin Marie, geborene Prinzessin von Waldeck, seine erste Gemahlin, schenkte, starb in jungem Alter, und die ihm seit 1886 vermählte Königin Charlotte, geborene Prinzessin von Schaumburg Lippe, ist ohne Kinder geblieben. Seine einzige Herzensfreude ist seine Tochter Pauline aus erster Ehe, die mit dem Erbprinzen von Wied vermählt ist.
Obwohl selbst nach Neigung und Erziehung nicht Soldat, hat der König stets alles gethan, um sein württembergisches Armeekorps auf der Höhe der Ausbildung des preußischen Heeres zu erhalten. In seiner volksfreundlichen Politik steht der Reichsgedanke in erster Reihe. Seine stets rege Kunstliebe hat er neuerdings durch Berufung namhafter Künstler nach Stuttgart und durch die Förderung der Elitekunstausstellungen in der Neckarstadt bethätigt.
Gleich Kaiser Wilhelm I wendet er der Pferdezucht alle Aufmerksamkeit zu und nimmt regen Anteil an den Rennen in Weil. König Wilhelm II ist passionierter Jäger sein liebstes Jagdrevier ist in Schönbuch. Dort und in dem herrlich restaurierten früheren Kloster Ebenhausen hat der König oft schon Kaiser Wilhelm II und den König von Sachsen als Jagdgäste bewirtet.
Königin Charlotte, noch heute eine sehr schöne Frau, hat sich, wie ihre Vorgängerin, an die Spitze der Wohlthätigkeitsanstalten des Landes gestellt und kommt ihren Pflichten der Nächstenliebe mit allem Eifer nach. Die Königin, eine genaue Kennerin der Litteratur, wendet auch dem Schauspiel reges Interesse zu, sie ist die Schützerin der Stuttgarter Hofbühne.
Dieser Artikel erschien zuerst im jahr 1900 in Die Woche.