Der alte Peter

„So lang der alte Peter, der Petersturm noch steht -“ Also beginnt eine Münchner Volksweise, die den Fortbestand des Althergebrachten an die Existenz des erwähnten Turmes bindet.

Der alte Peter ist in München hochangesehen, und jeder echte Münchner verehrt ihn schon deshalb so außerordentlich, weil der Peter immer so mitten drunter drinn ist; der hohe Stadtmagistrat, das Standesamt und der Viktualienmarkt sind seine nächsten Nachbarn. Obschon er sich nie durch luxuriöse Einrichtung hervorgethan hat, so waren doch schon Tausende von Münchnern bei ihm zu Gast, um sich von seinem Belvedere aus an dem Anblick der Alpen zu weiden, die bei günstiger Witterung von hier aus vielleicht umfangreicher zu betrachten sind, als von einem Höhenpunkt im Gebirge selbst. Gar mancher, der zu bequem ist, stundenlang zu wandern, oder nicht dazu helfen will, den schönen Wendelstein zentimeterweise niederer zu treten, begnügt sich, den Rücken des alten Peter zu besteigen, um dort Höhenluft und Aussicht zu genießen. Freilich geht der Weg nur durch altes Gemäuer über ächzende Treppen hinauf, und kein lebendes Wesen, außer etwa eine schüchterne Spinne oder eine schlaftrunkene Fledermaus, mahnt hier an den Pulsschlag der Natur; höchstens das monotone Ticktack der Taschenuhr des alten Peter unterbricht die unheimliche Stille, die nur dann ihre Schauer verliert, wenn man zu „Zweien“ geht.

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Die wandeln unter Umständen nachher doch auf blumigen Pfaden! Manchmal ist der alte Peter boshaft und läßt seine Uhren – er hat, wie ein richtiger Münchner Protz, deren zwei – repetieren, wenn die Besucher gerade unter den Glocken durchgehen; das giebt Tonwellen, in denen der stärkste Mann ersaufen könnte. Peter ist aber auch so artig, den Leuten zu sagen, ob die Aussicht jeweils gut oder schlecht sei. Eine rote Scheibe, die er an seine Brust hängt, besagt: heute ist das Gebirge zu sehen, eine weiße deutet auf Nebel im Hochland. Früher hatte er außer dem Kirchendienst noch sehr Wichtiges zu besorgen; ihm war die Feuerwache anvertraut. Wenn dann bei Tag oder Nacht irgendwo der rote Hahn sich auf ein Dach setzte und mit den Flügeln schlug, dann klang es graulich herab vom alten Peter; Töne, wie aus den Posaunen des jüngsten Gerichts, schreckten die braven Bürger aus ihrer Ruhe, und mit Windeseile ging der Ruf durch alle Straßen: „Brinna duats!“ Seitdem man aber die geheimen Naturkräfte bei der Stadt angestellt hat und alles durch den Draht erledigt wird, kümmert sich der alte Peter auch um keinen Brand der lieben Münchner mehr.

Das Gerüst der Münchener Peterskirche, das vom Erbauer, Komerzienrath Leib, der Stadt Venedig zum Wiederaufbau der Campanile geschenkt wurde
Die obere kleine Uhr – Malen des Zifferblattes

Ganz undankbar hat man ihn aber doch nicht behandelt. Als man sah, daß die Farbe seines Gewandes immer weniger an Farbe erinnerte, daß die Risse an ihm immer ausgedehnter wurden und sich ganze Fetzen davon ablösten, ging man daran, ihn neu zu kleiden, und als man ihn bauärztlich untersuchen ließ, stellte sich heraus, daß eine radikale Kur nötig sei, um ihn ferneren Generationen zu erhalten. Zu diesem Zweck wurde ein massives Holzgerüst um den ganzen Turm und bis zum Beginn der Dachung aufgebaut. Der Gerüstbau erforderte große Sorgfalt, und es war sicher ein ganzer Wald, der dem Holzbedarf hierfür zum Opfer fiel. Bald stand denn auch der alte Peter himmelhoch umstrickt da. Die Münchner nahmen regen Anteil an dem Fortgang der Arbeiten, und als diese bis zu den höheren Regionen vorgeschritten waren, belebte sich das Interesse der Zuschauer immer mehr, da erst jetzt die Größenverhältnisse dort oben und die Schwierigkeit, einzelne Arbeiten in solcher Höhe auszuführen, zu ersehen waren. Beim Waschen der Zifferblätter der großen Uhr, beim Malen des Zifferblattes der ganz oben befindlichen kleineren Uhr zeigte sich erst, welchen kolossalen Umfang diese Chronometer Petri haben. Je weiter die Arbeiten hinaufkamen, desto kleiner wurden die Männlein, und desto größer erschienen die sonst so unbedeutenden Sachen, wie der vergoldete Turmknopf und das Turmkreuz.

Zur Kirchweihfeier durfte sich der alte Peter endlich im neuen Gewand sehen lassen; er ist einfach, bescheiden, wie es sich für einen so alten Burschen ziemt, aber reinlich und ohne äußeren Schaden. Das Gerüst, das einen Wert von 100 000 Mark repräsentiert und das Kommerzienrat Leib nach Venedig verschenkt hat, damit es beim Wiederaufbau des Campanile Verwendung finde, wird demnächst die Fahrt über den Brenner antreten.

Die grosse Uhr
Die Ziffernblätter werden gewaschen

Schließlich sei noch das ungefähre Alter des „Peter“ erwähnt. Die Peterskirche, der er leibeigen angehört, ist mit der Heiliggeistkirche die älteste Kirche Münchens und stammt aus dem 15. Jahrhundert; sie war zuerst als romanische Basilika aufgebaut, dann machte man eine gotische Kirche mit zwei Türmen daraus; im Jahr 1607 traf sie ein schweres Unglück; sie wurde nämlich durch einen Blitzstrahl ihrer beiden Türme beraubt, und in diese Zeit fällt die Geburt des alten Peter, der sich von nun an keine Stilisierung mehr gefallen lassen mußte, während die Kirche 1882 im Barockstil erneuert wurde. Der alte Peter hat also fast drei Jahrhunderte Münchner Leben und Treiben gesehen; unter seinen Kollegen zählt er nicht einmal zu den älteren, aber gerade ihm hat der Volksmund das Prädikat der Ehrwürdigkeit angehängt, indem es von ihm, wie von einem guten, zur Stammtischrunde gehörigen Bekannten sagt:

So lang der alte Peter, der Petersturm noch steht.
So lang die grüne Isar durch d’Münchner Stadt durchgeht,
So lang da drunt am Platzl noch steht das Hofbräuhaus,
So lang stirbt in der Münchnerstadt d’Gemüatlichkeit net aus !

Dieser Artikel von B. Rauchenegger erschien zuerst am 08.11.1902 in Die Woche.