Der babylonische Olymp

Die Anbetung des Sonnengottes (Schamasch im Allerheiligsten)

Von Dr. S. Bernfeld. Für gewöhnlich bezeichnet man die polytheistische Gottesverehrung im Altertum mit dem Wort „Heidentum”, aber gebildeten Menschen braucht man nicht erst zu sagen, wie vieldeutig und daher im Grunde genommen gar nicht anwendbar dieser Begriff ist.

Die Gottesverehrung der Griechen, deren Polytheismus in ihrem ausgebildeten Kunstsinn wurzelte, hatte nichts gemein mit der Gottesanbetung der Araber in der vorislamitischen Zeit. Auch bei den Griechen stufte sich der Gottesbegriff je nach dem Grad der philosophischen Bildung ab, und jene, die bei den älteren christlichen Schriftstellern verächtlich „pagani“ hießen, waren die niederen ungebildeten Massen, deren Polytheismus in Fetischismus ausartete. Jüdische wie christliche Schriftsteller jener Zeit machten diese Form der Gottesanbetung häufig zum Gegenstand ihres Spottes.

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Die alte Welt gehörte der Vielgötterei an. Die geschichtliche Entwicklung führte vom Polytheismus, der dem religiösen Leben der Völker in ihrem Naturzustand entspricht, zum Monotheismus, der ein Produkt der spekulativen Erkenntnis und der religiösen Ausbildung ist. Indessen wäre es durchaus unrichtig, wollte man behaupten, daß beispielsweise alle Griechen und Römer samt und sonders der krassen Vielgötterei gehuldigt hätten. Dies war keineswegs der Fall, und die aristotelische Philosophie fußt auf der Erkenntnis von einem einzigen und unsichtbaren Gott, der dem Gottesbegriff der geoffenbarten Religionen entspricht. Dies mag auch von den alten Babyloniern gelten, deren Kulturleben erst in der letzten Zeit bekannt geworden ist. Mag man einzelne Aeußerungen finden, die auf den Monotheismus schließen lassen, so bleibt doch als feststehend, daß das öffentliche religiöse Leben der Babylonier genau wie in der griechisch-römischen Welt, auf dem Polytheismus aufgebaut war. Der babylonische Olymp war nicht minder reich bevölkert als der griechische, und die verschiedenen Götter- und Göttinnengestalten gehörten der nationalen und volkstümlichen Religion an. Und nicht nur das. Man wird im Lauf der Zeit einen weitgehenden Zusammenhang zwischen den religiösen Anschauungen der Griechen und der Babylonier finden, und darin besteht nicht zum geringsten Teil der große Wert der neusten Entdeckungen und Ausgrabungen.

Siegsdenkmal des nordbabylonischen Königs Naram-Sin
Siegsdenkmal des nordbabylonischen Königs Naram-Sin
Landurkunde, altbabylonische Steintafel
Landurkunde, altbabylonische Steintafel
Hammurabi empfängt von Schamasch (dem Sonnengott) seine Gesetze
Hammurabi empfängt von Schamasch (dem Sonnengott) seine Gesetze

Man hat in früherer Zeit geglaubt, daß die griechische Kultur und mit ihr die religiösen Vorstellungen der Griechen „autochthon“ gewesen sei, d. h., man war der Meinung, das hellenische Volk hätte alles „aus sich selbst“ geschaffen und ausgebildet. Von dieser Anschauung ist man bereits abgekommen, da die wissenschaftliche Forschung immer tiefer in das dunkle Altertum dringt und immer mehr neue geschichtliche Tatsachen ans Licht zieht. Was man früher als die „vorgeschichtliche Zeit“ bezeichnete, ist nun in ein früheres Alter hinaufgerückt. Die geschichtliche Darstellung befaßt sich jetzt mit dem assyrobabylonischen Altertum, das bis in das vierte vorchristliche Jahrtausend hinanreicht. Als das älteste Kulturvolk erscheint uns im Licht der neusten Forschungen das babylonische. Damit geschieht aber den andern Völkern in ihrer geschichtlichen Bedeutung kein Abbruch, denn die älteste Kultur bedeutet noch keineswegs die höchste. So ist beispielsweise das Religionswesen der alten ein Babylonier ein krasser, vielgötterischer Aberglaube, dem noch dazu die große poetische Schönheit und die herzerquickende Naivität der Griechen vollkommen fehlen.

Seit jeher war uns bekannt, daß im alten Babel der Polytheismus vorherrschend war. Das wissen wir aus der Schilderung des biblischen Schrifttums, wo mehrere Götter der Babylonier genannt sind, und aus den Spottreden eines judäischen Propheten, der im Anfang des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts lebte. Aus seinen Schilderungen, an deren Wahrheit und Richtigkeit gar nicht gezweifelt werden kann, geht her vor, daß ein großer Teil des Volks Fetischanbeter war. Auch der öffentliche Gottesdienst der Babylonier neigte zum Fetischismus. Freilich kannten wir aus den gelegentlichen biblischen Schilderungen nur den kleinsten Teil der babylonischen Götterwelt. Wir wußten vom „Bel“ („dem Herrn des Himmels und der Erde, wie er in der Einleitung zu den Gesetzen des Hammurabi genannt wird), der dem phönizisch-hebräischen „Baal“ entspricht; hingegen wußten wir nichts von der Göttin „Beltis“, „der Herrin, der großen Mutter“, die im babylonischen Olymp, im E-kur, eine gewichtige Stimme hatte. Nur bei den Phöniziern wußten wir von einer Göttin mit Namen „Baalat“ als von einer weiblichen Gottheit im Zusammenhang mit dem weitverbreiteten Baalkultus.

Die Anbetung des Sonnengottes (Schamasch im Allerheiligsten)
Die Anbetung des Sonnengottes (Schamasch im Allerheiligsten)
Ziegeltruhe des Königs Nebuplassar
Ziegeltruhe des Königs Nebuplassar
Ziegeldeckel
Ziegeldeckel

Außer der Gottheit Nebu oder Nebo, die uns auch in den Namen babylonischer Könige und Feldherrn vorkommt (Mebukadnezar, Nebusaradan, Neouplassar usw.), kannten wir noch einige babylonische Gottheiten, teils durch die Schilderungen der Bibel (z. B. im zweiten Buch der Könige 17, 30-31), teils sind uns die Namen dieser Gottheiten in verschiedenen Eigennamen überliefert worden; daß sie ursprünglich Gottesnamen waren, haben wir erst in der letzten Zeit erfahren. So beispielsweise der Gott Marduch oder Marduk, der uns im Namen Merodak (ein babylonischer König, der Nachfolger Nebukadnezars, wird in der Bibel Ewil- Merodak genannt) oder auch Mordechai begegnet. Das Verhältnis der verschiedenen Götter zueinander und ihre Bedeutung im Olymp kannten wir früher nicht, da sie im biblischen Schrifttum kurzweg verächtlich als das „Göttergesindel“ – um diesen Ausdruck Heines zu gebrauchen – behandelt werden, ohne daß sie im einzelnen geschildert würden. Durch die neusten Ausgrabungen hat man von der Existenz eines der angesehensten Bewohner des babylonischen Olymps Kenntnis gewonnen, ich meine den Sonnengott, dessen Tempel in Sippar stand. Assyrisch hieß dieser Gott Schamasch (Sonne), und dessen Vorhandensein nimmt uns nicht im mindesten wunder. Im Gegenteil vermißten wir ihn, aufrichtig gesagt, in früheren Zeiten, da es uns unglaublich erschien, daß die Babylonier der Sonne, der alle alten Völker huldigten, keine gottesdienstliche Verehrung gewidmet haben sollten. Schamasch, der Sonnengott, hat im E-kur eine große Bedeutung, wenn er auch keineswegs als der oberste oder mächtigste Gott gilt; er ist aber wohl der gescheiteste.

Von diesem Gott hat Hammurabi, der jetzt zu einer solchen großen Berühmtheit gelangte weise Babylonierkönig (daß er mit dem biblischen Amrafel identisch wäre, wird von manchen Assyriologen, so auch von Oppert entschieden bestritten) seine Gesetze empfangen. Hammurabi bezeichnet in der bekannten Inschrift Schamasch als „den großen Richter von Himmel und Erde, der alles Lebendige aufrecht erhält“. Er ist also Bel, dem obersten Gott, untergeordnet; denn nicht nur ist Bel Herr (und nicht Richter) von Himmel und Erde, er wird zugleich auch als der Gott bezeichnet, „der die Geschicke bestimmt“.

Schamasch sieht dem griechischen Apollon sehr ähnlich, und überhaupt verlohnt sich’s, mit dem babylonischen E-kur nähere Bekanntschaft zu machen, da dessen Bewohner mit jenen des griechischen Olymps große Aehnlichkeit aufzuweisen haben. Die Abhängigkeit der griechischen Götteridee von der der Babylonier wird wissenschaftlich zu erforschen sein; ebenso der Weg, der von den Babyloniern zu den Hellenen geführt hat.

Der Sonnengott Schamasch ist nach den vorhandenen Aufzeichnungen der Gott des Lichts und des Rechts, der die guten Gesetze dem Hammurabi anvertraut hat. Er wacht über Recht und Gerechtigkeit und verleiht seinen Lieblingen richtige Erkenntnis. Aber als Beschützer des Rechts ruft Hammurabi andere Götter an, insbesondere den mächtigen Lokalgott Babels, den Marduk, „den großen Krieger“ Zamama, Istar, „die Herrin von Schlacht und Kampf“, Nergal, „den mächtigen unter den Göttern, dessen Kampf unwiderstehlich ist,“ Schamaschs Vater Sin, „den Herrn des Himmels, den Gott-Vater, dessen Sichel unter den Göttern aufleuchtet“, und noch viele andere Götter, von denen jeder einzelne eine besondere Kraft hat und einen Teil der ganzen Herrschaft über Himmel und Erde, über Menschen und Völker, über alles Sein und Wesen in der Natur ausübt.

Wie der griechische Olymp hat auch der babylonische einen großen Einfluß auf die Entwicklung der nationalen Kunst, insbesondere auf die Skulptur ausgeübt. Verschiedene Episoden aus dem Götterleben und aus ihren Beziehungen zu den verschiedenen Herrschern und Feldherren des assyro-babylonischen Weltreichs sind durch die Hand des Künstlers der Nachwelt überliefert worden. Ueberhaupt spielt im assyrischen Schrifttum, das wir nur in Inschriften auf großen, mächtigen Steinen oder auf kleinen, zierlichen Tonziegeln besitzen, das Illustrationswesen eine große Rolle. Aus diesem Grund ist uns gleichzeitig mit dem geschichtlichen und kulturgeschichtlichen Material auch viel von der assyrischen Kunst bekannt geworden. Bis jetzt konnte man noch wenig dazu tun, das aufgefundene Material systematisch zu verwerten; man erhält durch die Ausgrabung immer mehr neue Funde, die zumeist unsere Kenntnis der assyro-babylonischen Welt bereichern, aber ein abschließendes Urteil in geschichtlichen Dingen ist überhaupt schwer zu fällen, läßt sich zurzeit in diesem Fall gar nicht geben. Auch der babylonische Olymp und seine Beziehungen zu der nationalen Kunst der Babylonier sind uns noch nicht vollständig bekannt, wenn wir auch schon eine umfangreiche Sammlung besitzen, an der auch Berlin einen großen Anteil hat.

Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 40/1903.