Der Neubau der St. Rochus-Kapelle bei Bingen

Architekt Max Meckel in Frankfurt a. M. Vor etwas mehr als 2 Jahren, am 12. Juli 1889, hat die von einem Blitzschlag getroffene St. Rochus-Kapelle bei Bingen durch Brand ihren Untergang gefunden.

Nicht nur die herrliche Lage der Kapelle, auf dem linksrheinischen Höhenrücken gegenüber Rüdesheim, sondern auch das Ansehen, welches dieselbe bei der gesammten katholischen Bevölkerung am Mittelrhein genoss, und nicht zum letzten die poetische Verklärung, welche dem alljährlich an dieser Stätte gefeierten Volksfest durch die Schilderung unseres grössten Dichters zutheil geworden ist, hatten dem kleinen Bauwerk einen weit über seine architektonische Bedeutung hinausgehenden Ruf verschafft. Mit allseitiger Theilnahme wurde es daher begrüsst, dass die Bürgerschaft Bingens sofort die Vorbereitungen zu einer würdigen Erneuerung desselben ins Werk setzte. Sie sind so eifrig gefördert worden, dass bereits am Pfingstmontage dieses Jahres in feierlicher Weise (unter Theilnahme der beiden Kirchenfürsten von Mainz und Trier) der Grundstein zu dem Neubau gelegt werden konnte, an dem seither rüstig geschafft worden ist.

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Es hat jedoch dieser Neubau auch vermöge seines inneren Wesens und seines künstlerischen Werths auf das Interesse architektonischer Kreise so wohlbegründeten Anspruch, dass eine von einigen bildlichen Darstellungen begleitete Mittheilung über ihn an dieser Stelle durchaus angezeigt erscheint. Denn er stellt als die trefflich gelungene Lösung eines Programms sich dar, das in seiner Eigenart so leicht nicht wieder vorkommen dürfte. – Um ein Verständniss für dieses Programm zu ermöglichen, ist es allerdings erforderlich, unserer Mittheilung über den z. Z. in Ausführung begriffenen Entwurf einige Nachrichten über den älteren Bau, sowie über das Fest, dessen Mittelpunkt er bildete, voraus zu schicken.

Gesammt-Ansicht von der Nord-Ost-Seite. (Nach einem Aquarell von W. Lauter in Frankfurt a. M.)

Die alte St. Rochus-Kirche bei Bingen, ein schlichtes Bauwerk in einfachen Barockformen – Schiff und Chor unter einem durch ein Glockenthürmchen mit welscher Haube geschmückten Satteldache – leitete ihren Ursprung aus dem Jahre 1666 her. Als in jenem Jahre zu Bingen eine pestartige Seuche wüthete, gelobte der Stadtrath behufs Abwendung des Uebels den Bau einer Kapelle zu Ehren des heiligen Rochus († 1327 in seiner Vaterstadt Montpellier), den der katholische Volksglaube als Nothhelfer gegen ansteckende Krankheiten betrachtet. Zum Bauplatz wurde der oberhalb der Stadt, etwa 110 m über dem Rheine gelegene Hesselberg (seither Rochusberg genannt) ausersehen; den Bau selbst entwarf und leitete der Guardian der Kapuziner in Mainz, P. Archangelus, von dem auch das dortige Altmünster-Kloster herrührt. Zweimal im Laufe ihres Bestehens – 1689 bei der Verheerung Bingens durch die Franzosen und 1795 während der Kämpfe, welche Franzosen und Oesterreicher um den Besitz der Festung Mainz führten – hat die Kapelle so schwere Beschädigungen erlitten, dass sie des Ausbaues und einer neuen Weihung bedurfte. Im letzten Falle hat sie, ihres Daches, Thurmes und ihrer gesammten Ausstattung beraubt, nahezu 20 Jahre als Ruine dagestanden bis die Vertreibung der Franzosen aus den von ihnen besetzten deutschen Landestheilen i. J. 1814 die Wiederherstellung des Gotteshauses ermöglichte, in das nunmehr die Ausstattungsstücke und Reliquien aus der Kirche des aufgehobenen nassauischen Klosters Eibingen übertragen wurden. Das damals zum ersten Male wieder in alter Weise begangene Rochusfest ist dasjenige, an welchem Goethe theilgenommen und welchem er seine Schilderung gewidmet hat. – Wenige Jahre vor seiner letzten Zerstörung war der Bau noch mit prachtvollen Glasbildern und mit Wandmalereien von der Hand des Malers Martin in Kiederich geschmückt worden.

Grundriss

Schon kurze Zeit nach .der Gründung der Kapelle die alsbald zum vielbesuchten Wallfahrtsorte wurde, scheint sich die am Gedächtnisstage des heiligen Rochus, den 16. August hierselbst begangene Feier zu einem von der gesammten Umgebung Bingens begangene Feste grössten Maasstabs entwickelt zu haben, dessen Formen im Verlauf von 200 Jahren nur wenig verändert worden sind. In feierlicher Prozession, mit allem Gepränge, welches die katholische Kirche bei derartigen Gelegenheiten zu entfalten weiss, wird das Rochusbild, dem ein Priester mit der Monstranz folgt, aus der städtischen Pfarrkirche auf den Berg getragen, wo eine nach Tausenden von Köpfen zählende Menschenmenge – die Einwohner der zunächst gelegenen Ortschaften von ihren Geistlichen gleichfalls in Prozession geführt – sich versammelt hat. Die Betheiligung von 6000-8000 Personen gilt als keine ungewöhnliche; die Zahl der Kommunikanten wird aus dem vorigen Jahrhundert zu durchschnittlich 2000 angegeben. Da für derartige Massen der Raum der Kapelle selbst natürlich nicht annähernd ausreichen konnte, so bestand schon seit alters der Gebrauch, dass die gottesdienstlichen Handlungen – Hochamt und Predigt, Te-Deum und Segen – im Freien abgehalten wurden. Für diesen Zweck wurden auf der Ostseite der (nicht von W. nach O., sondern von S. nach N. gerichteten) Kapelle ein offener Chor mit Altar und Kanzel sowie eine Musiker- und Sängerbühne aus Holzgerüst mit Bretterverkleidung errichtet. Auf der Westseite der Kapelle erstand dagegen ein von Verkaufsbuden aller Art umrahmter Festplatz für den zweiten, weltlichen Theil der Feier, auf welchem die nach stundenlangem Wandern und Harren auch der leiblichen Erquickung bedürftige Menge in rheinischer Fröhlichkeit an Speise und Trank, vor allem an dem aus den Weingärten des Rochusberges selbst gewonnenen Gewächs sich gütlich that.

Als es sich darum handelte, für den jüngsten Wiederherstellungsbau der St. Rochus-Kapelle ein Programm aufzustellen, lag es natürlich nahe, nicht nur an einen einfachen Ersatz bezw. Wiederaufbau des ursprünglichen, für die Form der erst später entstandenen Feier gar nicht bestimmten Gebäudes zu denken, sondern das letztere nach Möglichkeit den nunmehr vorliegenden Bräuchen und Bedürfnissen anzupassen. Zur Gewinnung des Bauplanes selbst wurde unter einer Anzahl rheinischer Architekten ein beschränkter Wettbewerb veranstaltet, bei dessen Entscheidung die Hrn. Oberbrth. Dr. v. Leins-Stuttgart, Appelrth. a. D. Dr. A. Reichensperger-Köln und Domkapitular Schnütgen-Köln dem Ortsausschuss als Berather zur Seite standen. Die Wahl fiel auf den von dem Diözesan-Architekten des Bisthums Limburg, Arch. Max Meckel in Frankfurt a. M. eingesandten Entwurf, der mit unwesentlichen Abänderungen der Ausführung zugrunde liegt.

Inbetreff der Stellung des neuen Bauwerks, die der Wahl der Bewerber frei stand, hat sich Hr. Meckel mit Recht für Beibehaltung der alten Lage entschieden – nicht nur weil diese für die Trennung des weltlichen (der Stadt Bingen zugekehrten) von dem kirchlichen Festplatze am günstigsten ist, sondern auch weil bei derselben am ehesten gehofft werden kann, dass die vorzügliche Akustik des letzteren erhalten bleiben wird. Es kam hierzu der weitere Vortheil, dass bei dieser Stellung ein Theil der Grundmauern der alten Kapelle auch für den Neubau benutzt werden konnte, dessen Schiff jedoch nach S. um zwei Joche (etwa 7 m) verlängert worden ist, während der früher geradlinig geschlossene Chor um ein halbes Sechseck erweitert wurde.

Lageplan

Von dem in dieser Weise festgestellten, mit 3 Altären ausgestatteten inneren Kirchenraum, in dem mehr als 500 Personen bei etwa 160 festen Banksitzen Platz finden werden, wird nach Süden durch ein schmiedeisernes Gitter eine Vorhalle abgetrennt, in welcher die ausser der Zeit des Gottesdienstes nahenden Wallfahrer ihre Andacht verrichten können; über derselben liegt eine kleine Orgel- und Sängerbühne. Zu beiden Seiten des Schiffes öffnen sich je 5 Kapellen, von denen 8 mit Beichtstühlen ausgestattet werden, während 1 als Durchgang nach dem Aussenchor, 1 als Sakristei für letzteren dient; die dem Chor zunächst liegende Kapelle der Westseite wird mit einem 3. Nebenaltar ausgestattet. Das Innere der Kirche erhält durch diese Anordnung das Aussehen einer dreischiffigen Basilika. Oestlich neben dem Chore, nach der Rheinseite, erhebt sich der Glockenthurm, dessen untere Halle als Beichtkapelle für Schwerhörige benutzt werden kann. Westlich des Chores liegt die grosse Haupt-Sakristei, an welche sich unmittelbar ein zu Wohnzwecken für die bei den Festlichkeiten beschäftigten Geistlichen dienender kleiner Anbau anschliesst. Der letztere enthält im Erdgeschoss eine Küche und ein Wärterzimmer; über denselben befindet sich im Obergeschosse ein kleiner Versammlungssaal, aus dessen Erker man eine entzückende Aussicht, sowohl nach dem gegenüber liegenden Rheingau wie stromauf und stromab geniessen wird. Neben diesem Saale ergeben sich noch über der Sakristei ein kleineres Zimmer, sowie ein nach dem Chor geöffnetes Oratorium, während im Dach noch mehre kleine Ruhezimmer gewonnen sind.

Der eigenartigste Theil der Anlage ist jedoch der für den Gottesdienst im Freien bestimmte offene Chor, der genau an der gleichen Stelle, wo früher das entsprechende Holzgerüst sich befand, d. h. in der Mitte der äusseren Ostwand angeordnet ist. Er wird von 5 Seiten eines Achtecks gebildet, ist jedoch noch um den Raum zwischen den Strebepfeilen erweitert. Sein Fussboden liegt in der Höhe des inneren Kirchenbodens, d.i etwa 1,5 m über dem Aussengelände; die steinerne mit einem Schalldeckel aus Metall und Holz zu versehende Kanzel, welche vom Chore aus erstiegen wird, ist am Südostpfeiler angebracht. Der Raum über den beiden Kapellen, an welche der Aussenchor sich lehnt, erhält mit Holzläden zu schliessende Oeffnungen sowohl nach dem Chor, wie nach dem Kirchenschiff hin; er kann demnach als Sänger- und Musik-Bühne sowohl für den äusseren wie für den inneren Gottesdienst (im Bedarfsfalle auch zur Aufstellung einer zweiten kleinen Orgel) benutzt werden.

Ueber die architektonische Erscheinung der Anlage, die in den rheinisch-spätgothischen Formen aus dem Anfange des 15. Jahrhunderts (der Erbauungszeit der Bingener Pfarrkirche) entworfen ist, geben unsere Abbildungen soweit Aufschluss, dass eine eigentliche Beschreibung überflüssig erscheint. Die Gruppirung des Ganzen ist mit glücklichem Gefühl für malerische Wirkung insbesondere unter dem Gesichtspunkte abgewogen worden, die Erscheinung des Bauwerks von der Rheinseite her zu einer möglichst eindrucksvollen zu gestalten. Dieser Wunsch hat vor allem die Stellung des Thurmes bestimmt, während die Ausbildung desselben mit einem, den quadratischen Unterbau abschliessenden, 133 m über dem Rheinspiegel liegenden Galerie-Umgange, aus der Absicht hervorgegangen ist, einen Rundblick über das herrliche Landschaftsbild zu gewinnen, das sich zu allen Seiten des Bauwerks ausbreitet. Baulich interessant ist die einem am Frankfurter Dom vorkommenden Motiv nachgebildete Anordnung des Dachwerkes über den Seitenkapellen, die für den Innenraum der letzteren eine ansehnliche Höhe ergiebt, ohne die Höhe der Hochschiff-Fenster allzu sehr einzuschränken.

St. Rochus Kapelle in Bingen

Das Innere des Baues wird in reichen, dem gewählten Stile entsprechenden Formen eingewölbt und wird im Laufe der Zeit sicherlich den Schmuck künstlerisch durchgeführter Glasbilder und Wandgemälde erhalten. Am Aeusseren werden die Architekturtheile aus rothem Mainsandstein, das Mauerwerk der Flächen aus dem an Ort und Stelle selbst gewonnenen Quarz-Bruchstein ausgeführt. Letzteres soll mit den Quadern bündig verputzt und in hellem Anstrich gehalten werden, wie das bei mittelalterlichen Bauten allgemein üblich war und für die farbige Erscheinung des Bauwerks in der Landschaft nur erwünscht sein kann. Hoffentlich trägt ein an so hervorragender Stelle vorgeführtes Beispiel dazu bei, innerhalb der rheinischen Bevölkerung den Sinn für kräftige Farbenwirkung ihrer Bauten wieder etwas zu beleben und damit der Herrschaft des unverputzt bleibenden Schiefer-Bruchstein-Mauerwerks allmählich ein Ende zu machen. Haben doch unter der unseligen Herrschaft dieser Bauweise die meisten Ortschaften am Rhein und der Mosel nachgerade ein geradezu finsteres und trübes Aussehen gewonnen, das weder zu der sonnigen Landschaft noch zu dem Temperament ihrer Bewohner passen will – ein Gegensatz, der sich dem Besucher namentlich unangenehm aufdrängt, wenn er sich die Erscheinung der Ortschaften in andern Gebirgsthälern, z. B. in Tirol ins Gedächtniss zurück ruft.

Dieser Artikel erschien zuerst 1891 in der Deutschen Bauzeitung, er war gekemnnzeichnet mit “-F.-“