Der „weisse Tod“

Nicht jeder Unglücksfall, der in den Bergen passiert, ist ein alpiner Unglücksfall. Wenn ein Gemsjäger oder ein Hirt bei der Ausübung seiner beruflichen Thätigkeit im Schneesturm umkommt oder ein Holzknecht in der Nacht den Weg verliert und abstürzt, so sind das Berufsunfälle, die mit dem alpinen Sport nichts zu thun haben.

Freilich bieten die Alpen Gefahren, und thöricht wäre es, den alpinen Sport als einen vollkommen ungefährlichen Spaziergang hinzustellen. Indessen sind die Gefahren, die dem kundigen Bergsteiger drohen, der die Verhältnisse kennt, der mit genügender Ausrüstung, genügendem Kartenmaterial und genügender Erfahrung seine Touren macht oder sich der Hilfe zuverlässiger Führer versichert, recht geringfügig, und sehr selten sind die Unfälle, bei denen es wirklich der „Weiße Tod“ ist, die wirklichen Gefahren der Alpen und des Hochgebirges überhaupt, die zu Katastrophen geführt haben.

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Ein sehr großer Prozentsatz von Unglücksfällen betrifft Leute, die ohne genügende Vorbereitung in den Alpen herumstreifen und an den harmlosesten Bergen zu Tode kommen. Namentlich bei ungünstigen Witterungsverhältnissen und Abirren vom Wege treten solche Unfälle häufig ein, aber auch sie sind, da sie nicht eigentlich dem Hochgebirge zur Last fallen, nicht als alpine Unglücksfälle im eigentlichen Sinn zu bezeichnen. Insbesondere sind in den Alpen auch bei den leichtesten Touren die Alleingeher immer in großer Gefahr. Die geringfügigste Verletzung, die sie am Weitergehen verhindert, kann bei ihnen eine tödliche Katastrophe zur Folge haben. Das Alleingehen sollte daher von nicht durchaus geübten, sehr vorsichtigen Bergsteigern vollständig vermieden werden. Hier liegt zweifellos die größte Gefahr, die die Alpen darbieten. Es klingt paradox, ist aber richtig daß es viel weniger gefährlich ist, eine schwere Felstour allein zu machen, als irgendeinen leichten Vorgebirgsbummel, denn bei schweren Touren achtet man genau auf jeden Tritt, so daß hier derartige kleine Unfälle sich wohl schwerlich ereignen werden.

Es ist unmöglich, alle die vielen hundertfachen Thorheiten, die ungeübte Bergsteiger im Vorgebirge oder auch im Hochgebirge selbst verüben, auch nur in Umrissen zu schildern. Keine Phantasie eines Romanschreibers könnte so lebendig sein, um alle die Ungeheuerlichkeiten zu ersinnen, die derartige Sonntagsbergsteiger sich leisten. Ueberall die gleichen Dinge: absolut ungenügende Ausrüstung, völlige Ahnungslosigkeit den Grundregeln des Bergsteigens gegenüber u. s. w. Wohl 95 Prozent zum mindesten aller Unfälle in den Bergen treffen diese leichtsinnigen Bergsteiger in den Voralpen. Dagegen treten die Unfälle weit zurück, die bei wirklichen Hochtouren vorkommen. Hier müssen wir unterscheiden zwischen den Gefahren, die die Alpen an sich darbieten, Gefahren, denen der beste und der schlechteste Tourist gleichmäßig ausgesetzt sind: Gefahren, die objektiv und unvermeidlich sind.

Diese sind: Stein- und Lawinenfall einerseits, plötzliche Wetterstürze andrerseits. Die letztere Gefahr ist bei weitem die größte, denn Steinfälle und Lawinen kommen nur an bestimmten Orten zur bestimmten Zeit vor und lassen sich infolgedessen mit ziemlicher Sicherheit vermeiden. In der That sind die Unfälle aus diesen Gründen sehr selten. Gegen die plötzlichen Wetterumschläge im Hochgebirge ist man dagegen so gut wie wehrlos, und im Schneesturm und unter dem Zucken der Blitze wird selbst der leichteste Berg mitunter ein furchtbarer Gegner und ein dräuendes Grab.

Die meisten andern Unfälle sind im Gegensatz dazu subjektiv und unvermeidlich, das heißt, es sind Unfälle, die aus einem Mißverhältnis des Könnens des Bergsteigers und der Schwierigkeit der Tour entspringen. In diese Kategorie von Unfällen gehören die, die für den Laien eigentlich das Signum der alpinen Unfälle überhaupt darstellen, nämlich die „Abstürze!“ Wenn jemand an einer Felswand beim Klettern abstürzt, so ist das eben nur ein Zeichen dafür, daß ihm die Kletterei zu schwierig war und er die Tour nicht hätte unternehmen dürfen. Kletterei in trockenen Felsen ist eben nur für den gefährlich, der das Maß der Klettertüchtigkeit, das die schwerste Stelle der Tour unbedingt erfordert, nicht besitzt, und so ist das „Abstürzen“ im Felsterrain eine unbedingt subjektive und daher wohl vermeidbare Gefahr.

Bandagierung eines Verunglückten für den Transport
Abstieg mit einem Verunglückten
Wie man einen Verunglückten transportieren soll

Viel gefährlicher sind im allgemeinen große Gletschertouren, insofern die Gefahren der Gletscher viel weniger den Charakter des subjektiven tragen als die Abstürze in den Felsen. Ein Gletscher ist immer ein tückischer Geselle. Versteckt er in seinen tieferen Partien seine Spalten unter einer trügerischen Schneedecke, so bietet er in seinen oberen steileren Partien tückische Eishänge, auf denen mitunter eine lose, leichtabrutschende und den Wanderer mit sich reißende Schneeschicht aufsitzt. So drohen auch dem guten Bergsteiger immerhin einige Gefahren auf Gletschertouren, indessen sind sie auch im weitesten Maß abhängig von der Persönlichkeit des Bergsteigers, und zwar besonders in Bezug auf ihre Vermeidung. Der erprobte Bergsteiger wird die Gefahren viel besser erkennen als der ungeübte und, die Gefahr richtig erkannt haben, heißt sie schon beinah vermieden haben.

Im großen und ganzen ist also für den wirklichen Bergsteiger, der seine Kunst erlernt hat und seine Berge kennt, die Gefahr des alpinen Sports recht gering, und wenn wir die alpinen Unfälle kritisch betrachten, so werden wir leicht einsehen, wie thöricht das Geschrei einer kritiklosen Menge gegen den Alpinismus ist. Statt ihn durch solche Bannmaßregeln bekämpfen zu wollen, sollte man im Gegenteil ihn nach allen Richtungen hin zu fördern suchen, gerade im Interesse der größeren Sicherheit bei Bergtouren. Nur durch weitere Verbreitung alpinistischer Erfahrung läßt sich eine Einschränkung der Unglücksfälle erhoffen und gerade der Alpenverein selbst trägt am meisten dazu bei, durch geistige Schulung seiner Mitglieder diese so notwendige alpinistische Kenntnis zu verstärken.

Es fragt sich nun, was außerdem zur Verminderung der alpinen Unglücksfälle gethan werden kann. In erster Linie muß man feststellen, daß dem Alleingeher in den meisten Fällen überhaupt nicht zu helfen ist, da man gewöhnlich gar nicht weiß, wo er steckt, und ihn meistens erst nach einigen Tagen vermißt.

Absturzgebiet im Gletscherfeld – Die punktierte Linie bezeichnet den Durchbruch durch die Schneedecke und die Richtung des Absturzes

Wenn dagegen ein Genosse auf der Tour ist, so kann er ins Thal hinuntergehn und Hilfe requirieren. Der große Alpenverein hat in sehr dankenswerter Weise Rettungszentralen organisiert die planmäßig und in in umfassender Weise sofort nach der Benachrichtigung die Rettungsaktion in die Hand nehmen. solche Stationen bestehen in München, Innbruck und Wien.

Transport Verunglückter über die Gletscherfelder des Montblanc nach Chamonix

Ebenso wichtig ist die erste Hilfe an Ort und Stelle. Handelt es sich um leichtere Verletzungen, so genügt oft eine leichte Schienung des verletzten Gliedes mit Hilfe des Bergstocks oder einigen Zweigen, um dem Verunglückten das selbständige Fortkommen bis zur nächsten Station zu ermöglichen. sonst muß man sich damit begnügen, ihn auf ungefährlichem Terrain ruhig zu betten, etwaige Blutungen durch Zusammenschnüren der Extremität zu stillen, ihm Proviant und Trinkwasser hinzulegen, ihn mit möglichst allen Kleidungsstücken, die entbehrlich sind, zuzudecken und dann vom Thal aus Hilfe zu holen. Diese Hilfsmannschaft hat dann die sehr schwierige Aufgabe, den Transport des Verunglückten ins Thal vorzunehmen, eine Aufgabe, die mitunter geradezu ungeheuerliche Anforderungen an die Kraft und den Mut der Hilfsmannschaft stellt. Unser Bild zeigt den außerordentlich schwierigen Transport von Verunglückten über die riesenhaften Eisfelder des Montblanc. Die Aufnahmen lehren, wie man Verunglückte bandagieren und handhaben soll.

Durch die glänzende Organisation des Hilfsdienstes sind in den wenigen Jahren ihres Bestehens schon viele Menschenleben gerettet worden; zu wünschen wäre freilich, daß durch größere Vorsicht die Zahl der Unfälle eingeschränkt und der Rettungsgesellschaft weniger Gelegenheit zu ihrer Thätigkeit gegeben würde.

Dieser Artikel von Dr. L. Reimer erschien zuerst am 02.08.1902 in Die Woche.