Russisches Landleben

Das „russische Dorf“, dem die russischen Schriftsteller seit Puschkins und Gogols Zeiten so manches begeistere Loblied gesungen, hat in diesen Tagen der Kriegsnot und der inneren Unruhen viel von seinem idyllischen Reiz verloren. Der Wellenschlag der bedeutsamen Zeitereignisse läßt sich bis in die entlegensten Winkel des östlichen Riesenreichs verspüren und bringt auch die stille Oberfläche des russischen Landlebens in heftigere Bewegung. Nicht so behaglich wie sonst wird der Städter diesmal die Muße der Sommerfrische, der Datscha (Villa) oder „Derewaja“ (Dorf), genießen können. Schon ist es da und dort zu blutigem Ernst, zu offenem Aufruhr, Plünderung und Zerstörung gekommenen wie jüngst im kleinrussischen Gouvernement Tschernigow, dem die Motive unserer beifolgenden Illustrationen entnommen sind. Es gärt allenthalben in den Köpfen der russischen Bauernschaft, dieser gewaltigen Menschenmasse, die ja schließlich bei der gegenwärtigen Katastrophe mit Blut und Beutel für die Zeche einstehen muß.

Herrlich lebte es sich in Rußland auf dem Land in jener guten alten Zeit, als der russische Bauer für den Gutsbesitzer nichts weiter war als eine „Seele“, ein Stück Eigentum, und der Reichtum eines Mannes, die Mitgift einer Braut, die Dotation, die ein Staatsbeamter erhielt, nach der Anzahl solcher „Seelen“ berechnet wurden. Der „Muschik“ (Bauer) arbeitete, der „Barin“ (gnädige Herr) genoß, und das Herrenhaus war in jeder Beziehung der zentrale Punkt, auf den sich das gesamte Leben des Dorfes bezog.

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Das ist seit vierzig Jahren, seit den Tagen der Leibeigenenbefreiung, wesentlich anders geworden. Der Bauer wurde frei, er durfte die Scholle verlassen, an die er bisher gefesselt war, durfte Land erwerben oder seinen Beruf sonst nach eigenem Ermessen wählen. Diese letzten vierzig Jahre haben in dem russischen Landleben eine vollständige Umwälzung hervorgebracht. Das Herrenhaus von heute ist nur noch ein Schatten seines Vorgängers, die Gutswälder sind erbarmungslos verwüstet, die Aecker und Wiesen durch unrationelle Bewirtschaftung entwertet. Die alten adligen Gutsherren haben vielfach neuen Besitzern aus den nichtprivilegierten Ständen weichen müssen, und wo sie sich noch erhalten haben, sind sie von den bösen Gespenstern der Sorge, der Verschuldung, des Bankrotts bedroht.

Bauernversammlung mit Dorfältestem (Starofta) an der Spitze

Trist und eintönig geht es heute zumeist auf den russischen Adelshöfen zu: die ältere Generation gedenkt mit Trauer der entschwundenen Herrlichkeit, und das junge Geschlecht, von des Gedanken Blässe angekränkelt, kennt nicht mehr die unmittelbare, naiv derbe Freude am Leben, die noch vor fünfzig Jahren das russische Landleben beherrschte. Wo man einstmals an gegenseitigen Bewirtungen, Picknicks, Maskeraden, Schlittenfahrten, Jagden und sonstigen Lustbarleiten Vergnügen fand, unterhält man sich heute mit Disputen über die marxistische Theorie, über den Wert oder Unwert des „Semnistwo“, die Notwendigleit einer Konstitution usw. Es ist etwas Schales, Abgestandenes in diesen Epigonen der alten Bojaren.

Bauernjunggeselle

Besonders deutlich tritt der Rückgang des russischen Grundbesitzerstandes dort zutage, wo wie in dem fruchtbaren, Schwarzerdegebiet der Ukraine, zu dem auch das Gouvernement Tschernigow gehört, eine landwirtschaftliche Großindustrie zur Entwicklung gelangt ist. Der Chemiker der Zuckerfabrik, der Fabrikarzt, der Fabrikbeamte, deren Wiege oft genug im Popenhaus oder in der Bauernhütte gestanden, gelten auf den Gutshöfen der Nachbarschaft als durchaus vollbürtig und dürfen ohne Furcht, einen Korb zu bekommen, um die Töchter des Landadels freien.

Küchen- und Stubenmädchen am Feiertag

Das Verhältnis des Gutsbesitzers zum Bauern ist naturgemäß vollständig verschoben, seit der letztere über seine Arbeitskraft frei verfügen darf und für seine Leistungen entlohnt werden muß. Kein Machtgebot des Gutsherrn vermag ihn zurückzuhalten, wenn er sich sein Brot in der Stadt in der Fabrik oder sonstwo suchen will. Hier und da hat sich wohl auch auf der neuen gesetzlichen Grundlage ein einträchtiges Verhältnis zwischen Gutsbesitzer und Bauer ausgebildet, im allgemeinen jedoch sind die altenpatriarchalischen Gewohnheiten für immer verschwunden.

Ein Stadtbewohner auf dem Land
Dorfneuigkeiten

Was auch gegen die große Reform der Bauernbefreiung eingewandt werden mag – dem Leben des Bauern hat sie jedenfalls einen Selbstzweck gegeben. Vom idealen Zustand ist das russische Dorf freilich noch weit entfernt: der harte Steuerdruck, die mangelnde soziale Fürsorge, die Brantweinpest, der Landwucher, vor allem aber der böse Fluch der Unwissenheit sind schwere Hemmnisse einer gesunden, gleichmäßigen Fortentwicklung. Kein Wunder, daß in Bezirken mit armem Boden fast alljährlich Hungersnot und Seuchen das russische Dorf heimsuchen, und daß die Lobredner der Vergangenheit mit einem Schein von Recht die Behauptung aufstellen dürfen, die freien Bauern von heute seien schlimmer daran als die Leibeigenen von ehedem, die in Zeiten des Mißwachses von ihrem „Besitzer“ doch wenigstens vor dem Verhungern geschützt worden seien.

Dorfjugend im Sonntagsstaat

Im übrigen gibt es in Rußland ausgedehnte Gebiete, in denen es den Bauern erträglich geht. Die Bauern der Kronsländereien waren von jeher besser gestellt als die Bauern der Adligen, und im Land der Donischen Kasacken gibt es sogar manchen kleinen Krösus, der seine Frau und Töchter in Samt und Seide kleidet. Auch der kleinrussische Bauer erfreut sich, im Vergleich mit seinem Bruder in Großrußland, eines gewissen Wohlstands.

Die Herrschaftsfamilie vor der Hütte eines Waldwächters

Schon äußerlich mutet das kleinrussische Dorf weit freundlicher an als das Dorf in Großrußland. Die Kleinrussen bauen ihre Häuser nicht in trostlos langer Doppelreihe längs der Straße wie die Großrussen, sondern in malerischer Regellosigkeit, am liebsten an einem Bach oder Bergabhang. Keinem Haus fehlt das Gärtchen mit ein paar Bäumen oder wenigstens Holunderbüschen und einem Blumenbeet, von den Sonnenblume und Mohn dem Wanderer freundlich entgegennicken. Die Wohnung des kleinrussischen Bauern unterscheidet sich sehr zu ihrem Vorteil von der unfreundlichen, verräucherten „Isha“ des Großrussen: die Wände sind hell getüncht, der festgestampfte Lehmestrich sauber gehalten. Die blankgescheuerten Tische, der mächtige Ofen neben der Tür, das hochaufgetürmte Bett, der Glasschrank mit den Tongläsern und Tassen, der blinkende Samowar – alles das verrät den Sinn für Ordnung, für eine gewisse Beaglichkeit. Malerisch bunt ist das Kostüm der Kleinrussen mit den zierlichen Hemdstickereien, dem eigenartigen Kopfputz und dem ärmellosen Ueberrock. Generation um Generation hält streng an der äußeren Gewandung fest, wie es überhaupt mit der Aenderung der Sitten und Meinungen auf dem platten Land recht langsam geht.

Der Kirchenchor mit dem Dorfschulllehrer als Dirigenten

Noch heute wie vor Jahrhunderten glaubt das kleinrussische Volk an gute und böse Hausgeister, an Wassernymphen (Russalki), Vampire, Waldteufel usw. Noch ist in diesen Köpfen, die für jede tolle Suggestion empfänglich sind, das Mittelalter lebendig. Eine Riesenarbeit hat hier die Schule noch zu leisten: die allgemeine Volksschule – das ist die wichtigste Reform, deren Rußland augenblicklich bedarf. Fast alle Bauern sind Analphabeten, und selbst das elementarste Wissen ist ihnen bis heute ein Geheimnis geblieben. „Wenn Sie wüßten, wie sehr das russische Dorf eines tüchtig gebildeten Lehrerstandes bedarf!“ sagte einst Anton Tschechow, der große Volksfreund, zu Maxim Gorki. „Man muß bedenken, daß ohne umfassende Volksbildung ein Staatswesen zerfallen muß wie ein Haus, das aus schlecht gebrannten Ziegeln errichtet ist. Der Lehrer sollte der erste Mann im Dorf sein, sollte befähigt sein, dem Bauern auf alle Fragen die rechte Antwort zu geben . . .“ „Der erste Mann im Dorf“ – leider ist das der russische Volkslehrer noch lange nicht, und darum wird es auch noch eine gute Weile dauern, bis es besser wird im Reich des Zaren.

Dieser Artikel erschien erstmals 1905 in Die Woche, er war gekennzeichnet mit „A Sch.“