Die Bühnenfestspiele in Bayreuth

Ein Vierteljahrhundert ist vergangen, seit Richard Wagner sein künstlerisches Sehnen erfüllt sah, seit in dem nach seinen Ideen erbauten Bühnenfestspielhaus zu Bayreuth die erste Aufführung seines Nibelungenringes stattfand.

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Eine große Partei stand wohl damals schon hinter dem Dichterkomponisten, aber die Erkenntnis seiner überragenden Bedeutung war noch lange nicht Gemeingut des musikalischen Deutschlands, geschweige denn der musikalischen Welt geworden. Gar viele vermochten in den Bayreuther Aufführungen 1876 nicht mehr als ein Kuriosum zu erblicken; Kritiken, die auf den Ton gestimmt waren, daß man gespannt war, endlich ein „Hojotohohpferd“ zusehen, und nur ein gewöhnliches „Hottehühpferd“ gefunden habe, wurden viel beachtet und belacht. Den Spöttern ist das Lachen vergangen! Heute stehen nur noch einzelne dem Werk des Reformators verständnislos gegenüber. Der Meister ist tot; er ging von uns, kurz nachdem er seinen Schwanengesang, den „Parsifal“, noch in seinem lieben Bayreuth gehört hatte; was er geschaffen hat, lebt und blüht, sein Erbe wird getreu gepflegt und gewartet von der genialen Gattin des Meisters, Cosima Wagner. Auch sie eine Meisterin!

Cosima Wagner, die Leiterin der Bayreuther Festspiele
Die Solorepetitoren und musikalischen Assistenten auf der Bühne des Bayreuther Festspielhauses

Als im Jahr 1883 Richard Wagner, fern von der Heimat, in Venedig verschied, sah man vielfach der Zukunft Bayreuths mit bangen Zweifeln entgegen. Bald jedoch stellten sich alle Befürchtungen als unbegründet heraus; Frau Cosima nahm vertrauensvoll und entschlossen das Heft in die Hand, sie führt seitdem das Scepter, unterstützt von vortrefflichen Helfern und Beratern. Ihre Mitarbeiter dürften nicht so bedeutend sein, wie sie sind, wenn es nicht hin und wieder zu Meinungsverschiedenheiten und Reibungen kommen sollte. Indessen ist, was über solche Kulissengeschichten manchmal in die Oeffentlichkeit drang, ohne Zweifel sehr übertrieben. Wäre Frau Cosima die herrschsüchtige Autokratin, als die sie von ihren Gegnern gern hingestellt wird, dann würden die alten Kunstkämpen nicht so treu zu ihr halten. Unter den Dirigenten, die bei den Festspielen in diesem Sommer mitzuwirken berufen sind, findet sich wieder Hans Richter, der auch im Jahr 1876 die erste Aufführung des „Rings“ geleitet hat. Mit ihm abwechseln wird Siegfried, der Sohn des Meisters, der so durch das Zusammenwirken mit Richter befähigt wird, die Tradition aufrechtzuerhalten. Neben ihnen wird voraussichtlich auch Felix Mottl den Dirigentenstab führen, der 1886 zum erstenmal „Tristan und Isolde“ leitete und jetzt den „Fliegenden Holländer“ leiten soll. Als eine für Bayreuth neue Erscheinung reiht sich ihnen der Berliner Hofkapellmeister Dr. Karl Muck als Dirigent des „Parsifal“ an.

Dirigenten

Diesem Stab von Feldherrn untersteht eine ganze Reihe bewährter höherer Offiziere, Solorepetitoren, musikalischer Assistenten, Bühnentechniker – alles Männer, deren Namen guten Klang haben. So ist die erste Bedingung für vollendete Aufführungen erfüllt. Und wie wird gearbeitet, wie wird alles von langer Hand vorbereitet! Ist doch Dr. Muck schon zu Beginn des Winters nach Bayreuth gereist, um mit Frau Cosima die ersten Beratungen abzuhalten. Und ebenso beschäftigen sich alle andern die zur Mitwirkung berufen sind, wochen-, monatelang vorher mit ihrer Aufgabe; Einzel- und Gesamtproben werden in einer Zahl abgehalten, wie sonst nirgends wieder. Das ist’s. Nicht nur in den Parsifalvorstellungen, die hier allein stattfinden dürfen, in den ganzen eigenartigen Verhältnissen liegt die Bedeutung Bayreuths. Für einzelne Partien mögen anderwärts einmal genialere Künstler gewonnen werden, ein solches Ensemble wird nicht wieder erreicht. Die ganze Anlage des Theaters, der Bühne sowohl als des Orchester- und des Zuschauerraums ermöglicht durch ihre besondere Art auch künstlerische Wirkungen ganz besonderer Art.

Die Auffahrt zum Bühnenfestspielhaus in Bayreuth
Bayreuths Sehenwürdigkeiten – Die untere Grotte des Königlichen Lustschlosses Eremitage

Doch nicht dies allein, der ganze Zuschnitt des Lebens in Bayreuth trägt dazu bei, den Eindruck des Kunstwerks zu vertiefen. Sobald man in den Mauern des Mainstädtchens weilt, atmet man Wagnerschen Geist. Losgelöst von den Sorgen und Mühen des Alltagslebens, beschäftigt man sich nur mit dem Meister und seinen Schöpfungen. All unsere Gedanken sind ausschließlich der Kunst zugewandt. Wo man hinsieht, begeisterte Menschen; wo man hinhört, begeisterte Gespräche über den deutschen Meister und sein unvergängliches Werk.

Während einer Zwischenaktspause vor dem Bayreuther Festspielhaus
Die von Richard Wagner erbaute Villa Wahnfried, das Wohnhaus der Familie Wagner in Bayreuth

Nachmittags um vier Uhr, wenn Geist und Körper noch frisch sind, beginnen in der Regel die Aufführungen. Gleich einer unendlichen Schlange ziehen sich die Wagen nach dem Festspielhaus, das etwa eine Viertelstunde vor der Stadt einsam auf einer Anhöhe inmitten von schattenspendenden Bäumen und Sträuchern erbaut ist. Die Menge des Publikums sammelt sich auf dem freien Platz vor dem Theater, jeder erhöht noch die eigene Stimmung, indem er dem andern von dem Kommenden spricht.

Schlussbild aus dem 3. Akt von Richard Wagners Parsifal – Die Erscheinung der Gralstaube
Scene aus dem 1. Akt von Richard Wagners Parsifal – Der junge Parsifal vor dem getötetem Schwan

Da ertönen Fanfaren, nach allen Himmelsrichtungen wird stilvoll ein Wagnersches Motiv geblasen, und alles stürmt in den Zuschauerraum. Ein Wispern und Flüstern geht durch das große Haus; doch bald erlöschen die Lichter, es wird stockfinster und zugleich mäuschenstill. Die ersten Akkorde erklingen aus dem unsichtbaren Orchester, die Aufführung beginnt. Wenn der Vorhang zum letztenmal fällt, lagert bereits die Nach über der Erde. Ein minutenlanger Beifallssturm braust durch das Haus, aber niemand von den Mitwirkenden erscheint vor der Rampe. Der Dank des Publikums wird nur für den großen Verewigten in Empfang genommen Nun zurück in die Stadt, wo sich in allen Kneipen beim Glas Bier und einfachem Mahl dieselben begeisterten Menschen zusammenfinden, die sich vorher im Festspielhaus begrüßt haben. Die Auserwählten aber werden in der Wagnerschen Villa „Wahnfried“ empfangen, wo sie neben Frau Cosima auch die großen Künstler treffen. Hier, wo sein Wähnen Frieden fand, ist auch die körperliche Hülle des Meisters zur Ruhe bestattet.

Heinrich Neumann.

Dieser Artikel erschien zuerst am 29.04.1901 in Die Woche.