Unter den deutschen Landen genießt Bayern den Vorzug, zwei Ortschaften zu besitzen, nach denen in regelmäßigen Zwischenräumen ein internationales Publikum zusammenströmt, um dort Bühnenspielen beizuwohnen.
Alle zwei Jahre pilgern Tausende nach der fränkischen Stadt Bayreuth, um die modernen musikalischen Meisterdramen Richard Wagners zu bewundern; alle zehn Jahre begeben sich in das Gebirgsdörfchen Oberammergau Tausende von Fremden, um die Passionsspiele zu sehen, die wohl auch ein wenig modernisiert sind, im Sinn aber doch noch das Gepräge der Anfänge aller christlich-dramatischen Kunst tragen.
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Das Theater nimmt seinen Ausgangspunkt bei den christlichen Völkern von der Religionsübung. Alle Kunst hat mit Vorliebe Christum und seine Leidensgeschichte zum Vorwurf erwählt, die Musik dankt ihr vielleicht das erhabenste Werk, Johann Sebastian Bachs Mathäuspassion; Meister der Malerei und Plastik haben in ihr die Stoffe zu wundervollen Gemälden und Bildwerken gefunden, nur im Drama sind ihr gleich edle Blüten nicht entsprossen. Auch das Oberammergauer Passionsspiel ist kein poetisches Meisterwerk, aber in seiner Natürlichkeit und der Art seiner Darstellung übt es doch stets eine ungeheure Angehungskraft aus.
Eine Reise nach Oberammergau ist übrigens auch sonst lohnend genug; denn das Dörfchen ist prächtig gelegen, und die ganze Gegend bietet auch vieles Sehenswerte und Merkwürdige, wenn nicht gespielt wird. Oberammergau, das heute etwa 1400 Einwohner zählt, erstreckt sich über eine ziemlich große Thalfläche; es ist im Süden von waldigen Höhen begrenzt, aus denen sich der ganz in der Nähe gelegene Berg Kofel mit seinen steil aufsteigenden Felswänden bis zu 1334 Meter erhebt und so das Dorf um 500 Meter überragt. Die Wälder bergen einen sehr reichen Wildstand, und die Ammer, die sich zwischen den Häusern anmutig hindurchschlängelt, liefert den im Dorf etwa vorhandenen Feinschmeckern zahlreiche Forellen. Die Wohnstätten der Oberammergauer, die früher nur aus Holzhäuschen mit Schindeldächern bestanden, bilden heute schmucke, massiv aus Stein aufgeführte Gebäude, unter denen die Bürgermeisterei vorerst das Interesse der Fremden in Anspruch nimmt. Ist doch der Bürgermeister Lang seit Jahrzehnten bereits der Regisseur der Passionsspiele, ein Regisseur, der sicherlich an jeder großen Bühne seines Amts mit Erfolg walten könnte. Gewiß stehen ihm ganz außergewöhnliche Mittel (Personen, Sachen und Raum) zur Verfügung, aber daß er die Massen kunstvoll mit weiser Hand regiert, hat er erst in diesen Tagen wieder bewiesen.
Freilich sind er und der frühere Christus (Joseph Mayr), der bei der Eröffnung in diesem Jahr, am 24. Mai, den Prolog sprach, wohl die einzigen, die die Muse geküßt hat; alle übrigen Darsteller bringen Natur und die passende äußere Erscheinung mit auf die Bühne, Schauspielkunst im üblichen Sinn aber nicht. In dieser Eigenart liegt ja der Hauptreiz der Oberammergauer Passionsspiele; würden die Dörfler oder einzelne von ihnen sich eine vollendete bühnengerechte Sprache aneignen, sie möchten vielleicht dies und jenes wirkungsvoller herausbringen, die starke Gesamtwirkung würden sie nicht erzielen. Sie klügeln nicht Feinheiten aus, aber sie widmen ihren Aufgaben die, vollste Hingabe, gehen in ihnen auf. Ist es doch ihr Stolz, in den Spielen mitzuwirken, eine Ehre, die sie keinem andern als den Gemeindemitgliedern gönnen und die unter ihnen mit größter Unparteilichkeit verteilt wird. Die Aufführungen sind ihnen gewiß eine willkommene Einnahmequelle, der nach Hunderttausenden zählende Ueberschuß wird ungefähr zu einem Drittel als Honorar an die Mitwirkenden gegeben, während der Rest in die Gemeindekasse fließt, aber sie sind weit entfernt davon, sie rein als Geschäft zu betreiben; die Passionsspiele in Oberammergau selbst sind ihnen Herzenssache, so daß sie die glänzendsten Anerbietungen zu Gastreisen, zum Beispiel nach dem Goldland Amerika, kurzer Hand abgewiesen haben.
Sind die Aufführungen vorüber, dann kehren die Darsteller zur Werktagsarbeit zurück. Allein die Oberammergauer vergessen nie, daß sie alle zehn Jahre auf dem Platz sein müssen; um nicht aus der Uebung zu kommen und um den Nachwuchs heranzubilden, spielen sie für sich immer Theater und bringen meist religiöse oder vaterländische Volksschauspiele zur Aufführung. Nahen dann die eigentlichen Passionsspiele heran, so tritt ein aus 24 großjährigen Gemeindemitgliedern bestehender Ausschuß zusammen, der in geheimer Wahl bestimmt, welche Personen die einzelnen Rollen übernehmen sollen. Steht die Rollenbesetzung fest, so werden zuerst Leseproben vorgenommen, dann geht es an die Einstudierung, und schließlich kommen die Bühnenproben, die mit größtem Eifer betrieben werden. So ist es auch jetzt wieder geschehen, und der Erfolg war, daß man Bühnenbilder von seltener Abrundung zu schauen bekam. Die übrigens mit großartiger Pracht gestellten Bilder sind ein wesentliches Element der Passionsspiele. Nicht nur daß, wie bereits erwähnt, auf die äußere Erscheinung der Darsteller das größte Gewicht gelegt wird, es geht auch den meisten Scenen der Handlung ein Vorbild vorauf, in dem eine der jeweiligen Phase aus dem Leben Christi einigermaßen entsprechende Episode aus dem alten Testament dargestellt wird; beispielsweise sehen wir vor dem Rat der Hohenpriester die Söhne Jakobs über die Beseitigung ihres Bruders Joseph beschließen oder vor der Verspottung Jesu durch Herodes Samsons Verhöhnung durch die zechenden Philister.
Das Passionsspiel selbst zerfällt in drei Abteilungen; die erste reicht vom Einzug Christi in Jerusalem bis zu seiner Gefangennahme am Oelberg, die zweite umfaßt die folgende Zeit bis zur Verurteilung und die dritte den Schluß bis zur Himmelfahrt. Von ganz besonderer Wirkung waren u. a. die Verspottung des Heilands durch Herodes (Rochus Lang sen.) und später durch die Landsknechte, das heilige Abendmahl, nach dem Gemälde Leonardo da Vincis, Christi Abschied von seiner Mutter Maria (Hafnermeister Anton Lang jr. und Postbotentochter Anna Flunger) die Kreuzigung und die Grablegung.
Erhöht wurde der Eindruck noch durch die eigentümliche Bauart des neuen Theaters. Während der Zuschauerraum gedeckt ist und die Besucher vor den Unbilden der Witterung schützt, hat das Chorpodium kein Dach, sondern gestattet dem von der Bühne abschweifenden Auge einen Blick in Gottes weite Natur, auf Himmel und Berge. Das Orchester aber ist, wie in Bayreuth, unsichtbar.
Dieser Artikel erschien zuerst 1900 in Die Woche.