Die Zahl der Vereine mit volkswirtschaftlichen Tendenzen wächst von Jahr zu Jahr. Jede Provinz, ja jede größere Stadt ist eifrig bestrebt, ihren unbemittelten Nebenmenschen im Wege der Vereinsthätigkeit helfend zur Seite zu treten; zu diesen gehört auch der Schleswig Holsteinische Verein zur Förderung der Kunst- und Hausweberei (Vorsitzender Prof. Weylh), der sich trotz der kurzen Zeit seines Bestehens bereits eines segensreichen Wirkens erfreut.
Die von ihm gegründete Webeschule zu Kiel bietet so viel Interessantes, daß es sich wohl der Muhe lohnt, ihr einen Besuch abzustatten. Man betritt einen hellen, freundlich ausgestatteten Raum, an dessen Wänden buntkolorierte Muster und die kunstreichen Erzeugnisse des Webefleißes prangen, und befindet sich inmitten einer Idylle, die man schwerlich in der großen Seestadt vermuten würde. Da schnurrt, wie zu Großmütterleins Zeit, das Spinnrad; da fliegen, von geschickten Händen regiert, die Webeschiffchen hinüber und herüber; da klappern im Takt die Webestühle, wie früher in jedem Bauernhaus auf dem Lande. Nur haben sich die plumpen. derben und schweren Gestelle der Großmutterzeit gewaltig modernisiert, sind schlanker, eleganter, salonmäßiger geworden und lassen sich so anstrengungslos und zierlich bewegen, daß es eine Freude ist, die Damen bei ihrer Arbeit zu belauschen. Daneben stehen, noch weniger Raum beanspruchend, Hochstühle, die dem Zweck der Gobelin- und Smyrnaknüpfarbeit dienen und auf denen nach kunstvoll gezeichneten Mustern Kissen, Decken und Wandbehänge mit der Hand gewebt werden.
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Und was arbeitet man sonst noch in der Webeschule? Nicht nur glatte Leinen- und Baumwollzeuge für Wäschegegenstände aller Art, nicht nur wollene Kleiderstoffe in Loden, Cheviot und dem modernen Homespun, sondern auch Schürzen- und Blusenstoffe mit bunten schwedischen Bordüren aus seidenglänzender Baumwolle, sowie wollene Decken, Kissen, Gardinen und Portieren zum großen Teil nach alten friesischen oder schwedischen Originalmustern in den verschiedensten Ausführungen und reicher Farbenzusammenstellung.
Unendliche Mannigfaltigkeit herrscht in der schwedischen Kunstweberei, und die Benennung der einzelnen Arten ist für ein deutsches Ohr von absonderlichem Klang. Eine Dame aus Lund in Schweden ist vom Verein für diesen Zweig der Weberei als Lehrerin herbeigerufen worden, und unter ihrer geschickten Anleitung ist man mit Erfolg und großem Eifer thätig. Man sieht es allen an, wieviel Freude ihnen die fördernde und reizend aussehende Arbeit macht, die neben ihrem praktischen Nutzen auch dem kategorischen Imperativ „Schmücke dein Heim“ volle Rechnung trägt. Außer diesem Zweck, zu dem die Schülerinnen ihre hübschen Kunsterzeugnisse verwerten wollen, hat der Verein aber hauptsächlich die Absicht, Frauen und Mädchen der weniger bemittelten Stände zu unterrichten, um ihnen eine Nebenarbeit zu schaffen, die sie befähigt, für Kleidung und Wäsche des eigenen Haushalts in größerem Umfang als bisher zu sorgen. Ein Webestuhl wird ihnen in der Schule zur Miete überlassen, an dem sie selbst bei fachgemäßer Anleitung weben lernen und sich nach eigenem Geschmack und Bedarf ihre Zeuge selbst anfertigen können. Das Material hierzu liefert ihnen der Verein zum Anschaffungspreis. Auf diese Weise wird eine segensreiche Arbeit auch für solche Mädchen geboten, die sonst wohl ihre Mußestunden mit unnützen, für die Augen so verderblichen Häkeleien und Stickereien, wenn nicht mit übleren Dingen, vergeuden würden. In den freundlichen Räumen der Schule, im Verein mit gebildeten Damen, wird sich gewiß jedes junge Mädchen wohl fühlen. Ebenso hofft der Verein, einen neuen Beschäftigungszweig zu schaffen, nicht bloß für Greise und Halbinvaliden, sondern auch für die breiten Schichten der Landbevölkerung und für die Fischerfamilien, die in den langen Winterabenden ihre Zeit nicht genügend ausnutzen. Er sucht die frühere Spinn- und Webearbeit wiederzubeleben, indem er sie dem jetzigen Geschmack anpaßt, und erbietet sich, durch sein Vorgehen und seine Hilfe zu zeigen, an die Sache praktisch anzufassen hat. Es wäre wirtschaftlich gewiß von Nutzen, wenn besonders Gutsvorstände und in den Dörfern Pastoren- und Lehrerfrauen oder deren Töchter für die Weberei interessiert und veranlaßt würden, einen Kursus in einer solchen Webeschule durchzumachen, um dann später ihre Kenntnisse zum Nutzen ihrer Untergebenen und Schützlinge zu verwerten. Viel Neues und Anregendes wird ihnen dort auf der soliden Grundlage der früheren Landweberei geboten, und bald wird sich, etwa auch durch Ausbildung von Wanderlehrern, ein segensreicher Einfluß der nutzbringenden Thätigkeit bemerkbar machen. Eine barmherzige Schwester zum Beispiel, die die Weberei in der Schule erlernt hat und jetzt einem Mädchenhort vorsteht, unterweist ihre Zöglinge mit offenbarem Nutzen in dieser so erziehlich wirkenden Beschäftigung; und auch für andere Wohlthätigkeits- oder Krankenanstalten eröffnet sich eine neue Perspektive.
Die volkswirtschaftlichen Zwecke, denen der Verein neben der ästhetischen Tendenz einer Hebung des Geschmacks huldigt, finden ihren Ausdruck übrigens auch darin, daß es ihm bereits gelungen ist, das Vorurteil zu widerlegen, die meisten einschlägigen Artikel seien nur aus andern Provinzen oder gar vom Ausland gegen hohen Zoll- und Frachtzuschlag zu beziehen. Es ist vielmehr der positive Nachweis geglückt, daß alle erforderlichen Materialien (Flachs, Wolle, Webestühle) und alle erforderlichen Arbeitsleistungen (insbesondere das Färben der Fäden) im Inland zu beschaffen sind.
Unsere Abbildungen zeigen zwei Haupträume der Webeschule, die verschiedenen Arten der Webestühle und an den Wänden einige in der Schule gefertigte Erzeugnisse. Diese sollen nebst andern Arbeiten demnächst einem weiteren Kreis auf der Internationalen Kunstausstellung zu Dresden gezeigt werden, von der der Verein die ehrenvolle Aufforderung erhalten hat, einige Proben seiner Thätigkeit einzureichen.
Dieser Artikel erschien zuerst am 15.04.1901 in Die Woche.