Die Familie Bonaparte

1905, von Anna Jules-Case. Als kürzlich die Zeitungen die Nachricht von einer bevorstehenden Verlobung des Prinzen Viktor Bonaparte mit der dritten und jüngsten Tochter des Königs der Belgier, Klementine, brachten, wurde die Aufmerksamkeit wieder aufs neue auf den seit Jahren in Zurückgezogenheit lebenden Prinzen, den jetzigen Chef der Bonaparte, gelenkt. Die Anhänger der bonapartistischen Partei, und es gibt deren noch viele in Frankreich, setzten auf diese Vermählung gewisse Hoffnungen. Die Ehe des bonapartistischen Prätendenten mit der Tochter eines regierenden Königs, das wäre eine Heirat nach den napoleonischen Traditionen gewesen!

Die politische Bedeutung dieser Eheschließung wurde denn auch nicht von den Angehörigen der Prinzessin Klementine unterschätzt. Man machte alle „raisons d’ Etat“ und sonstigen Gründe bei der Prinzessin geltend, und diese ergab sich schließlich darin, den Willen ihres königlichen Vaters zu befolgen. Alles bleibt beim alten.

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Prinz Viktor wohnt in seinem kleinen Palais in Brüssel allein und fährt fort, seine Anhänger auf eine für seine Thronbesteigung günstige Stunde zu vertrösten und sich damit zu beschäftigen, sein kleines Museum von Erinnerungen an seinen großen Vorfahren zu vervollständigen.

Prinz Viktor (Portr.) ist jetzt 45 Jahre alt. Er wurde 1862 in Paris geboren, mußte aber 1886 Frankreich verlassen und aus politischen Gründen im Exil leben. Er ist der älteste Sohn des Prinzen Napoleon Bonaparte, der unter dem Namen “Prinz Plon-Plon” eine der populärsten Persönlichkeiten Europas gewesen ist. Aber nicht nur eine der populärsten!

Auch eine der bedeutendsten und originellsten! Prinz Plon-Plon ist viel angefeindet und stark verleumdet worden. Er stand in dem Ruf, gegen seinen kaiserlichen Vetter zu konspirieren. In Wahrheit aber war er eine selbständige, unabhängige Natur mit stark republikanischen Ansichten, klug und geistvoll, geboren zum Herrscher, modernen Geist und hoher Kultur getränkten Herrscher. Sein Vetter Louis, dessen Eugenie (Portr.) sich nach dem Krieg von der Politik völlig abwandte, hatte nichts von der eisernen Energie dieses echten Nachkommen Napoleons I. Prinz Plon-Plon verbrachte einen großen Teil seines Lebens im Exil, denn die offene, oft brutale Art und Weise, in der er seine Ansichten zu äußern pflegte, zog ihm das Mißtrauen der Regierung zu. Er vermählte sich 1859 mit der Tochter Viktor Emanuels, Schwester des späteren Königs Humberto, Klothilde, Prinzessin von Savoyen (Portr.).

Die Ehe war aber keine glückliche. Die Gatten lebten in den letzten zehn Jahren bis zum Tod des Prinzen 1891 in Rom getrennt. Die Prinzessin hatte dem Prinzen drei Kinder geschenkt: den obengenannten Prinzen Viktor, ferner den Prinzen Louis, der heute in russischen Diensten den Grad eines Generalmajors bekleidet, und die Prinzessin Latitia, Witwe des Herzogs von Aosta.

Prinz Plon-Plon hatte sich in den letzten Jahren seines Lebens mit seinem ältesten Sohn total überworfen. Prinz Louis (Portr.) dagegen stand seinem Herzen sehr nahe, und nach seinem Wunsch und seinem Testament sollte er der eigentliche Chef der Familie Bonaparte sein. Die bonapartistische Partei kehrte sich aber nicht an diesen Groll, und Prinz Viktor wurde nach dem Tod seines Vater zum Chef der Familie Bonaparte ernannt. Prinz Louis dagegen trat in den Besitz der ihm vermachten napoleonischen Archive und Wertobjekte sowie des nicht sehr großen Vermögens seines Vaters. Ihm fiel auch das Schloß Pranzin in der Schweiz zu, der Zufluchtsort des Prinzen Plon-Plon. Hier und da, wenn es seine militärischen Pflichten erlaubten und seine Familienverpflichtungen es erheischten, kam der Prinz nach Paris und besuchte seine Tante, die Prinzessin Mathilde, die Schwester seines Vaters ist. Sie setze ihren Lieblingsneffen zum Universalerben ein.

Prinz Louis hat nun viele von den Kunstgegenständen und Wertobjekten seiner Tante verkaufen lassen, aber das lebensgroße herrliche Porträt seines Vaters von Flandrin, das den korpulenten Prinzen Plon-Plon mit dem bekannten historischen Imperatorenprofil darstellt, hat er wohl behalten.

Die Kinder der Maquise de Villeneuve: von links nach rechts Lucien, Jeanne, Anne, Reomée, Roselyne, Pierre

Die Prinzessin Latitia (Portr.) war mit ihrem Onkel, dem Bruder ihrer Mutter, nur kurze Feit vermählt. Seit dem 1890 erfolgten Tod des Herzogs von Aosta lebt sie meist in Turin und Rom. Sie ist eine der gefeiertsten Frauen des italienischen Hofs; von großer Schönheit – sie hat das bonapartistische Profil des Vaters geerbt – temperamentvoll und begabt erregt sie überall lebhaftes Interesse und wurde auch von unserm Deutschen Kaiser bei einem seiner Besuche am italienischen Königshof durch bewundernde Sympathie ausgezeichnet.

Neben dieser zum ehemaligen Haus von Frankreich gehörenden jüngeren Linie der Familie Bonaparte gibt es aber noch eine ältere, deren Stammvater Lucien Bonaparte ist, der zweite Bruder Napoleons des Ersten.

Lucien Bonaparte war zweimal vermählt. Seine zweite Frau, Alexandrine de Bleschamps, die Witwe des Bankier Jouberthon, fand vor den Augen seines kaiserlichen Bruders keine Gnade. Napoleon wollte seinen Bruder mit einer Prinzessin aus königlichenn Haus vermählt wissen.

Lucien ließ sich aber keine Vorschriften machen. Er zog es daher vor, sich nach seinem geliebten Rom zurückzuziehen und dort als einfacher Privatmann zu leben, dank seines großen persönlichen Vermögens. Er beschäftigte sich damit, seine Memoiren zu schreiben. Seine zweite Gemahlin hat ihm neun Kinder geschenkt. Von diesen neun ist der Prinz Pierre Bonaparte – der Zeitgenosse seines Vetters Louis Napoleon, des Kaisers, und des Prinzen Napoleon (Plon-Plon), seines andern Vetters – zu merken. Pierre Bonaparte lebte, nachdem sein Vetter Louis den Thron bestiegen hatte, ganz zurückgezogen in seinem Häuschen in Antenil, niemand bekümmerte sich um ihn. Da machte eine blutige Affäre Affäre plötzlich viel von ihm sprechen: am 10. Januar 1870 tötete er durch einen Revolverschuß den Journalisten Viktor Noir, der zu ihm gekommen war, um ihn wegen einer Preßpolemik zur Rechenschaft zu ziehen. Der Prinz stellte sich sofort als Gefangener. Und er tat gut daran, denn die gegen ihn aufgebrachten Gemüter – beim Begräbnis des Viktor Noir kam es zu heftigen Volkskrawallen hätten ihm schlecht mitgespielt. Vom Gerichthof freigesprochen, lebte Prinz Pierre nach dem Krieg abwechselnd in Belgien und England.

Er starb 1881. Seine beiden Kinder: der Prinz Roland Bonaparte, geb. zu Paris 1858, und Prinzessin Jeanne, geb. in Belgien 1861, leben in Paris. Prinz Roland (Portr.) hat sich 1880 mit der Tochter des bekannten Spielpächters von Monaco Blank vermählt. Diese sehr glückliche Ehe dauerte aber nur kurze Zeit. Die junge Frau starb im Wochenbett am 1. August 1882, nachdem sie am 2. Juli einer Tochter, Prinzessin Marie (Portr.) das Leben gegeben hatte.

Prinz Roland hat aus seinem Palais in der Avenue Jena ein wahres Empiremuseum gemacht. Er besitzt die größte Privatbibliothek der Stadt, 150 000 Bände, meist geographische und anthropologische Werke, denn der Prinz ist nicht nur ein leidenschaftlicher Bibliophile, sondern auch ein wissensdurstiger, vielbelesener und gereister Mann. Er empfängt in seinem mit vielem Geschmack eingerichteten Palais, in dem sich, wie gesagt, viel interessante Erinnerungen aus der großen napoleonischen Zeit befinden, Gelehrte, Schriftsteller und Freunde mit liebenwürdigster Gastfreundschaft. Seine Mutter, verw. Prinzessin Pierre (Portr untenst.), wohnt bei ihm. Seine Schwester Jeanne (Portr.), seit 1882 mit dem Marquis de Villeneuve verheiratet, ist eine in der Pariser Gesellschaft sehr bekannte Erscheinung. Sie fehlt selten bei den Soireen, Diners und Empfängen des tout Paris der Salons. Es ist eine dunkeläugige, eher kleine als große Dame, die den Typus der Familie Bonaparte zeigt.

Zwei der Urenkelinnen von Lucien Bonaparte, Nachkommen seines Sohnes Charles aus der Ehe mit der Fürstin Ruspoli (Portr.) leben noch in Rom, die eine, Prinzessin Maria (Portr. obenst.), ist mit einem italienischen Offizier vermählt, mit Enrico Gotti (Portr.), die andere, Eugenia (Portr. untenst.), war mit dem Prinzen Ney d’Elchingen vermählt; die Ehe ist 1905 gerichtlich getrennt worden.

Damit wären die hauptsächlichen Mitglieder der Familie Bonaparte alle erwähnt worden. Von den Nachkommen des großen Napoleon bleiben heute nur noch drei männliche Repräsentanten übrig, von denen der eine, Viktor, sich in abwartender unaktiver Lage befindet, der andere, Louis, mehr Geschmack am Soldatenstand als an der Politik zu haben scheint und keinen besonderen Ehrgeiz zur Schau trägt und der dritte, Roland, die Grenzen seines Reiches mit 150 000 kostbar gebundenen Bänden bildet, hinter denen er als zufriedener, glücklicher Privatmann lebt.

“Blut ist ein ganz besonderer Saft.” Es tobte und glühte in den Adern der Brüder des großen Korsen. In der dritten Generation erscheint es bereits erheblich verdünnt.

Dieser Text erschien zuerst 1905 in Die Woche.