Die flüssige Luft im Experiment und in der Praxis

Von W. Berdrow. mit Abbildungen von Ewald Thiel. Als ich vor noch nicht langer Zeit in diesen Spalten über die industrielle Verwertung des Sauerstoffs und die letzten, durch Prof. Lindes überraschende Erfindung der maschinenmäßigen Luftverflüssigung herbeigeführten Phasen dieses technischen Fortschrittes berichtete (vgl. den Artikel, Die Industrie der Lebensluft“ in Jahrgg. 1897, S. 248 der „Gartenlaube“), glaubte ich nicht, daß mich der Siebenmeilenstiefelschritt der Technik nötigen würde, sobald auf dieses Gebiet zurückzukommen.

Damals war die Gewinnung von Sauerstoff aus kondensierter Luft eine Möglichkeit, die man ins Auge faßte, ohne an ihre rasche Verwirklichung in der Praxis zu glauben; heute scheint die fabrikmäßige Darstellung des komprimierten Sauerstoffs durch diejenige des kondensierten, der sogenannten Linde-Luft, geradezu bedroht, und die industrielle Verwertung dieses neuen technischen Mediums wird mit all der Kühnheit und Selbstverständlichkeit erwogen, die unsere Zeit in technisch – wirtschaftlichen Fragen auszeichnet.

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Die bedeutendsten Erfolge der modernen Kältetechnik und Verflüssigung der früher für „permanent“ erklärten Gase beruhen ja auf dem Forschungsergebnis der sogenannten kritischen Temperatur, d. h. eines Abkühlungspunktes, den das betreffende Gas unterschritten haben muß, um überhaupt der Kondensation zugänglich zu sein, und der bei jedem Gase verschieden ist.

Fig. 1 Eis in einer Minute

Ganz vergeblich bemühte sich seiner Zeit Natterer in Oesterreich, durch den fabelhaften Druck von 3600 Atmosphären Gase zu verflüssigen, die gar nicht einmal schwer zu behandeln sind; heute braucht Prof. Linde kaum den 20. Teil dieses Druckes, um die Luft, die uns umgiebt, in klare Flüssigkeit zu verwandeln, nur weil er sie vorher durch einen einfachen Vorgang der abwechselnden Pressung, Abkühlung und Ausdehnung, d. h. durch allmähliche innere Arbeitsentziehung, auf etwa 140 Grad Celsius unter Null und damit auf die kritische, zur Kondensation nötige Temperatur bringt. Auch den beiden anderen großen Kapazitäten auf diesem Gebiete, den Professoren R. Pictet und Dewar, ist seitdem die Verflüssigung der Luft, neuerdings sogar die des noch viel schwierigeren Wasserstoffgases, in größerem Umfange gelungen. Nun kommt aus New New York, wo sich u. a. Prof. Ch. E. Tripler mit der Erzeugung und Ausnutzung intensiver Kältegrade und der Gasverflüssigung eingehend beschäftigt, die Nachricht, daß nach einer Erfindung der dortigen Ingenieure Ostergren und Burger die Herstellung flüssiger Luft so sehr vereinfacht worden sei, daß man bald die Gallone, d. h. etwa 3 1/4 kg des seltenen Stoffes, für einige Cents werde kaufen können. Auch die Ostergrensche Luftkondensationsmaschine scheint sich im Grunde keiner anderen Mittel zu bedienen wie diejenige von Linde; es wird jedoch behauptet, daß durch eine geeignete Anordnung der Kondensationsröhren in mehreren Lagen von Spiralen übereinander eine nahezu absolute Warme-Isolation erzielt und dadurch die Ausstrahlungsverluste des Apparates außerordentlich verringert seien. Ob nicht das geniale, von Linde in Anwendung gebrachte Gegenstrom- Kühlprincip mindestens dieselbe Wirkung hervorbringt, ist indessen sehr fraglich, jedenfalls vermag der genannte deutsche Kältetechniker schon mit Hilfe seiner heutigen Maschine für die Stunde und Pferdekraft ungefähr 1 kg sogenannte Linde-Luft herzustellen, d. h. ein Gemisch von 50 % Sauerstoff und 50 % Stickstoff, das erst durch teilweise Verdampfung der 2 ½ fachen Menge flüssiger Luft entstanden ist. Von letzterer muß demnach dieselbe Maschine über das Doppelte mehr erzeugen können. Damit dürfte der von den Amerikanern angegebene Preis, der sicherlich nicht den Verkaufspreis bezeichnet, auch von uns ganz wohl zu erreichen sein.

Fig. 2 Inneres einer Anlage zur Luftverflüssigung

Aber nicht die Herstellung, sondern die Verwendung der flüssigen Luft, beziehungsweise des flüssigen Sauerstoffes soll uns hier vorwiegend beschäftigen. Daß diese wunderbare, eine Temperatur von 190 Grad Celsius unter Null besitzende Flüssigkeit voll von überraschenden, wenn auch vom physikalischen Standpunkte ganz erklärlichen Eigenschaften steckt, ist nur zu begreiflich, und die gewöhnlichsten Experimente mit flüssiger Luft deuten schon auf ihre mannigfache Anwendungsfähigkeit hin. Zur Aufbewahrung der flüssigen Luft dienen die Dewarschen doppelwandigen Glasgefäße, deren Isolierschicht luftleer gemacht ist. Gießt man daraus eine kleine Menge, etwa ¼ l in einen gewöhnlichen Zinn- oder Nickeltheekessel, so beginnt unverzüglich eine so heftige Verdampfung, daß das Gefäß zerspringen zu wollen scheint. Es ist kaum möglich, den Deckel fest auf den Topf zu drücken, mit Gewalt quillt der zischende Inhalt heraus, und setzen wir gar den Kessel auf eine Gasflamme, so beginnt ein Siedeprozeß von unerhörter Heftigkeit.

Fig. 3 Eisbecher mit flüssiger Luft

Es spritzt und dampft und zischt wie aus einem Höllenrachen; halten wir aber in diesen Gischt einen Augenblick eine Röhre mit Wasser, Spiritus oder Quecksilber, so ziehen wir ihren Inhalt gefroren wieder heraus. Ja die Luft im Kessel selbst gefriert mitten im Sieden zu Eis, und wenn wir das Gefäß unter der heftigsten Dampfentwicklung vom Feuer nehmen und umkehren, so sehen wir Boden und Wandungen mit porzellanweißem, stahlhartem Eis bedeckt: gerade das heftigste Sieden, d. h. die rascheste Verdampfung, führt die intensivste Abkühlung herbei, wie denn Verdunstung stets mit Abkühlung gleichbedeutend ist.

Man kann einen solchen Kessel eine halbe Stunde auf einen glühenden Ofen stellen, die Eisschicht darin wird sich nicht wesentlich verringern.

Unsere Abbildungen geben, neben der vollständigen Ansicht einer großen Luftverflüssigungsanlage (vgl. Fig. 2), einige der merkwürdigen Experimente die neuerdings mit Linde-Luft gemacht wurden, wieder. In wenigen Augenblicken kann man in geeigneten Gefäßen Wasser zu Eis gefrieren lassen (vgl. Fig. 1). Giebt man durch die Wahl einer entsprechenden Form dem Eisklumpen die Gestalt eines Behälters, so kann man das auffallende Experiment vorführen, das in unserer Abbildung Fig. 3 wiedergegeben wird. In den Eisbecher wird flüssige Luft eingeschüttet. Der Erfolg ist natürlich genau derselbe, als wenn man Wasser in einen auf 190 Grad erhitzten Metalllöffel schüttete, ein heftiges Aufkochen.

Fig. 4 Turbine von flüssiger Luft getrieben

Betrachten wir uns nun die für praktische Zwecke angestellten Versuche! Fig 4 stellt eine in New York zu Demonstrationszwecken benutzte kleine Turbine für den Antrieb mit flüssiger Luft dar. Wie man die dabei sicherlich auftretenden und schon beim Betrieb durch komprimierte Luft oder flüssige Kohlensäure sehr lästigen Folgen der Expansions- und Verdunstungskälte vermeidet, wird leider nicht gesagt. Daß flüssige Luft, wenn es erst bequeme Aufbewahrungsbehälter dafür giebt, unter Umständen auch einmal zum Antrieb von Motoren verwendet werden kann, braucht man gerade nicht zu bestreiten, aber die von Enthusiasten sofort in die Welt gesetzten Nachrichten vom zukünftigen Betrieb der großen Dampfer durch mitgeführte flüssige Luft kann man ganz ruhig dahin verweisen, wohin auch der Antrieb der transatlantischen Riesenschiffe „durch ein paar Centner mitgeführtes Carbid“ und andere schöne, aber bei ihrem ersten Auftauchen grenzenlos überschätzte Erfindungen der Neuzeit gewandelt sind: ins Reich der Märchen.

Anders ist es mit der vielfach beobachteten explosiven Neigung der flüssigen Luft. Mitteilungen ausländischer Blätter über solche Beobachtungen sind mit Vorsicht aufzunehmen, aber wir werden gleich sehen, daß auch bei uns ernst zu nehmende Autoritäten und besonders Prof. Linde selbst der Brauchbarkeit des neuen Mediums für explosive Mischungen alle Aufmerksamkeit zugewandt haben. Bei Versuchen des Prof. Tripler soll z. B. eine gefrorene Masse von Alkohol und flüssiger Luft, auf welche „zufällig“ ein Streichholz fiel, eine furchtbare Explosion verursacht haben, „die ein halbes Dutzend in der Nähe befindliche Männer zu Boden warf, ihre Haut mit Glassplittern spickte, den Tisch zersplitterte und einen Volksauflauf verursachte.“ Später stellte sich heraus, daß die Glassplitter, von denen jedes der unglücklichen Opfer „ein bis zwei Pfund“ im Gesicht zu haben schien, aus gefrorenem Alkohol bestanden, der dann nach dem Auftauen aus den Wunden tropfte. Hier scheint der Berichterstatter sich einer starken Uebertreibung schuldig gemacht zu haben, allein eine andere Nachricht, nach der ein Stückchen Baumwolle, mit flüssiger Luft gesättigt und in eine Patrone gesteckt, ähnlich zerstörende Wirkungen gehabt hat, ist nicht von der Hand zu weisen, weil wir ihre Bestätigung just eben im Simplontunnel vor Augen haben.

Hier fanden nämlich bereits umfangreiche Versuche mit einem neuen Sprengstoff, dem Lindeschen Oxyliquid, statt, der durch die Tränkung eines Gemenges von Watte und Holzkohlenpulver mi^t flüssiger Luft erhalten wird. Patronen, mit diesem Sprengstoff gefüllt, haben eine hochgradige Arbeitskraft, die jedoch nach 10 bis 15 Minuten, wenn der Sauerstoff verdampft ist, wieder aufhört. Auf dieser Notwendigkeit, die Linde-Patronen stets gleich nach der Anfertigung zu verbrauchen, beruht eben ihr hoher Wert, da auf diese Weise vernachlässigte oder nicht zur Zündung gelangte Patronen bald harmlos werden.

Eine lange Reihe nutzbringender Verwendungen sagt Prof. Hempel der Linde-Luft, die, wie erwähnt, nicht aus kondensierter Atmosphäre schlechthin, sondern aus einem Gemisch von Sauerstoff und Stickstoff zu gleichen Teilen besteht, in der chemischen Industrie voraus. Der Bessemerprozeß in den Eisenhütten würde sich beim Einblasen von Linde-Luft auf das billigere Weißeisen anwenden lassen, während er jetzt das graue, siliciumhaltige Roheisen verlangt, da die Verbrennung des Siliciums die zum Bessemern erforderliche hohe Temperatur im Converter unterhalten muß.

Es würde sich ferner das schlechteste Brennmaterial mit Vorteil verfeuern lassen, wenn man die Verbrennung mit Linde-Luft unterhielte und so die nutzlose Erhitzung von 75 % des in der atmosphärischen Luft enthaltenen Stickstoffs vermiede. Endlich würde die Wirkung gewöhnlicher Gasmotoren wahrscheinlich überraschend erhöht werden, wenn man das zur Cylinderfüllung gebrauchte Gas anstatt mit Luft mit dem Lindeschen 50 prozentigen Sauerstoff mischen würde. Bei allen mit Petroleum oder Benzin betriebenen Explosionsmotoren, deren Kraftentwicklung jetzt für den Bau von Motorfahrzeugen möglichst gesteigert wird, gilt dasselbe. Genug, wir sehen, daß es der flüssigen Luft, sobald sie einmal zu erschwinglichen Preisen auf den Markt kommen wird, gewiß keinen Augenblick an Gebieten fehlen wird, sich nutzbringend zu bethätigen.

Dieser Artikel erschien zuerst 1900 in der „Illustrierte Chronik der Zeit vereinigt mit Gartenlaube“.