Die griechischen Tempel in Unter-Italien und Sizilien

Trümmer eines Atlanten im Zeustempel von Akragas

Wer in diesen Tagen lebhaften Vorwärtsdrängens und fieberhafter Hast nach neuen Ausdrucksmitteln einen Augenblick still hält, um rückwärts zu schauen, der kann leicht dem Vorwurfe verfallen, einen Anachronismus zu begehen.

Das hochgesteigerte Kraftgefühl der Gegenwart, das für den Lebenden in Anspruch genommene Recht, eine Kunst seiner Zeit zu schaffen und die Neigung, alle Ueberlieferung zu verneinen, haben z. B. die archäologische Wissenschaft, die einstmals in unserem Geistesleben eine Hauptrolle spielte, fast in den Hintergrund gedrängt und nur klein ist der Kreis derer noch, welche in ihr eine solche Befriedigung finden, dass sie entschlossen sind, einen Lebensberuf auf sie aufzubauen. Zu diesem kleinen Kreise von Männern, die der Stimme des inneren Idealismus, der Verehrung für das klassische Alterthum folgend, unter nicht unbeträchtlichen persönlichen Opfern hinausgefahren sind, die Ueberreste alter griechischer Kunst im westlichen Europa, in Süd-Italien und Sizilien zu studiren und aufzunehmen, gehören Robert Koldewey, der Architekt, und Otto Puchstein, der Archäologe. In mehrfachen Reisen, die sich auf die Jahre 1892-1896 erstrecken, auf welchen sie neben den eigenen Opfern durch Beiträge der preussischen Unterrichts-Verwaltung, des Senates und des Architekten- und Ingenieur-Vereines von Hamburg unterstützt wurden, haben sie es unternommen, die griechische Architektur des Westens zu studiren und aufzuzeichnen. Jedoch nicht sowohl die griechische Architektur in ihrem ganzen Umfange, als in Anbetracht der „mit unseren Kräften erfüllbaren Aufgaben“ nur den griechischen Tempelbau. Sie schritten in erster Linie zu einer genauen Aufnahme der Tempelgrundrisse, mussten jedoch die zwar „wünschenswerthe, aber sehr zeitraubende Herstellung von Fall- und Sturzplänen der Trümmerfelder“ unterlassen. Die Untersuchung erhebt auch schon deshalb nicht den Anspruch, eine abschliessende zu sein, weil die Gelehrten keine Gelegenheit zu Freilegungen hatten.

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„Dem Aufbau der Tempel die gleiche Sorgfalt wie den Grundrissen zuzuwenden, Werkstück für Werkstück zu untersuchen und das Urtheil gleichsam auf einen vollständigen Katalog aller Reste zu begründen, überstieg sowohl da, wo die Bauten noch aufrecht stehen, als auch da, wo sie eingestürzt sind und ihre schönen Glieder zu bequemerer Besichtigung auf den Boden gestreckt haben, unsere Zeit und unsere Mittel“. Gleichwohl ist das Ergebniss der Untersuchungen der beiden Forscher ein reiches und in einem Werke niedergelegt, welches zu den werthvollsten der archäologischen Litteratur zu zählen ist (Die griechischen Tempel in Unter-Italien und Sizilien. Von Robert Koldewey und Otto Puchstein. 2 Bde. Imp. Berlin, A. Asher & Co. 1899.).

Von dem zweibändigen Werke grössten Formates enthält der I. Band den sehr reich illustrirten Text, der II. Band neben einer nicht recht überzeugenden Farbenstudie eines Triglyphengebälkes nur sorgfältige Lagepläne, Grundrisse, Schichtenpläne usw. Den Untersuchungen vorangestellt ist die des jonischen Tempels in Locri in Italien als des im Westen einzigen Bauwerkes jonischen Stils.

Es folgen dann die Tempel der achaeischen Kolonien: die Tempel von Paestum, Metapont und auf dem lacinischen Vorgebirge; die Tempel der chalkidischen Kolonien: die von Pompeji, Rhegion und der Tempel von Himera auf Sizilien, und endlich die grosse Gruppe der Tempel in den dorischen Kolonien: der Tempel von Syrakus, Tarent, Selinus, Segesta, Gela, Akragas usw. An ihre genaue Beschreibung schliesst sich dann ein allgemeiner Abschnitt über den griechischen Tempelbau in Unteritalien und Sizilien an, in welchem der Kalten, die Kunstformen, die Steintechnik, die Verhältnisse und die Chronologie der Tempel besprochen werden. Von 231 Seiten nimmt der letztere Abschnitt 43 Seiten ein. Nach der Lage der Dinge müssen wir diesen Abschnitt für den werthvollsten des schönen Werkes halten. Das gesammte reiche zeichnerische Material stammt von Koldewey, welcher auch einen grossen Theil des Textes wenigstens im Rohen herstellte. Sein Name steht daher mit Recht der Publikation voran. Die Thätigkeit Puchsteins war eine unterstützende und ergänzende; ihm oblag es, soweit möglich, die Litteratur heranzuziehen und die Forschungs-Ergebnisse beider Forscher mit früheren Erhebungen zu vergleichen. Ihm oblag auch die Redaktion und schliessliche Herausgabe des Werkes, da Koldewey schon 1898 nach Mesopotamien ging, um die Ostburg von Babylon auszugraben und aufzunehmen.

Die Schilderung der ersten grösseren Tempelgruppe von Paestum setzt ein mit einer kurzen historischen Einleitung; es folgt dann eine Einzelbeschreibung der sogen. Basilica, des grossen, altachaeischen Peripteros von 9:18 Säulen, eines Werkes aus der alten Periode des dorischen Stiles. Technisch fortgeschrittener als dieser ist ein kleinerer nördlicher Tempel, ein Hexastylos von 6:13 Säulen, der noch gut erhalten ist und die Eigenthümlichkeit zeigt, dass die Geisonecke gebrochen ist, während die Geisonplatten an der Vorderfront nicht auch horizontal, sondern nur der Dachschräge folgend hinlaufen. Eine ähnliche Lösung der Geisonecke findet sich bei dem Tempel C in Selinunt. Bemerkenswerth ist auch, dass das Geison an seiner Unterfläche durchgehends kasettirt ist (s. d. Abbildg.).

Der sogen. Poseidontempel und die sogen. Basilika in Paestum, von Westen
Der sogen. Poseidontempel und die sogen. Basilika in Paestum, von Westen
Der Tempel bei Segesta, von Norden
Der Tempel bei Segesta, von Norden
Gesammt-Ansicht des alterthümlichen Hexastylos in Paestum
Gesammt-Ansicht des alterthümlichen Hexastylos in Paestum

Neben diesen beiden Beispielen alterthümlicher Baukunst steht der kolossale dorische Peripteros, den man als Tempel des Poseidon bezeichnet hat. Als Peripteros von 6:14 Säulen beträgt seine Länge 59,88, seine Breite 26,14 m. Die Verfasser ordnen ihn ein zwischen den Tempel A von Selinus und den von Segesta. Nach Besprechung eines kleinen korinthisch-dorischen Tempels späten Stiles wenden sich die Verfasser zu den Tempeln von Metapont, zunächst zu dem „tavole paladine“, Rittertische, genannten kleinen altdorischen Peripteros von 6:12 Säulen, dessen 15 Säulen heute noch im Felde bei Metapont herausragen; dann zu dem schlechter erhaltenen Apollotempel innerhalb des alten Stadtgebietes von Metapont und besprechen kurz den Heratempel auf dem lacinischen Vorgebirge an der Ostküste von Italien. –

Ueber die Tempel in den chalkidischen Kolonien weiss das Werk wenig zu berichten, da der griechische Tempel auf dem Forum triangulare in Pompeji nur als spärlichste Ruine uns überkommen und die Bauten der zweiten chalkidischen Kolonie, von Rhegion oder Reggio in Unter-Italien überhaupt nur in Stirnziegeln und einzelnen Säulentrommeln uns erhalten sind. Etwas besser bestellt ist es mit einem chalkidischen Tempel von Himera auf Sizilien, welcher von einem Gehöft überbaut und daher zumtheil erhalten ist. Der Tempel, welcher der früheren Periode des entwickelten dorischen Stiles angehörte, besass eine schöne Sima mit Löwenköpfen, welche den Wasserspeiern des olympischen Schatzhauses von Megara verwandt sind.

Nordwest-Ecke des alterthümlichen Hexastylos in Paestum
Nordwest-Ecke des alterthümlichen Hexastylos in Paestum
Ein Südjoch des alterhümlichen Enneastylos in Paestum
Ein Südjoch des alterhümlichen Enneastylos in Paestum

Unvergleichlich reicher wie in den bisherigen Kolonien sind die Ueberreste in den dorischen Kolonien. Die einzige dorische, von den Spartanern gegründete Kolonie in Unteritalien, Tarent, besitzt die Reste eines altdorischen Tempels, der, seiner Lage nach die beiden Meere beherrschend, vermuthlich ein mächtiges, vielleicht dem Poseidon geweihtes Bauwerk war. An Tarent sind die Tempel in den dorischen Kolonien auf Sizilien anzuschliessen. Syrakus bewahrt auf der Insel Ortygia innerhalb des ursprünglichen Stadtbezirkes den vielleicht ältesten Peripteraltempel; dazu kommen die Reste eines grossen Tempels aus der Blüthezeit des dorischen Stiles in der Kathedrale und der Brandopferaltar König Hierons II. Syrakus entfaltete als die glänzendste und mächtigste Stadt unter griechischer Herrschaft auf der Insel eine äusserst lebhafte Bauthätigkeit, auf welche die Verfasser näher eingehen. Der eben genannte Tempel auf der Insel Ortygia ist der Apollotempel, ein hexastyler dorischer Peripteros, dessen technische Herstellung die Bewunderung der Verfasser erregte. Bei Syrakus liegt das Olympieion, ein schlecht erhaltener, aber für die örtliche Baugeschichte werthvoller grosser dorischer Tempel. Der in der Kathedrale auf Ortygia versteckte Athenatempel ist eine der reifsten Schöpfungen des dorischen Stiles aus dem 5. Jahrh. v. Chr.

Das eigenartigste Bauwerk dieser Kolonie aber ist der schon genannte grosse Brandopferaltar Hierons II., ein Bauwerk von 200 m Länge, bei welchem sich Spuren von Telamonen gefunden haben, die in Akragas wiederkehren.

Bedeutender noch, wie die Bauthätigkeit von Syrakus, scheint die von Selinus gewesen zu sein. Sieben grosse und zumtheil kolossale Peripteraltempel und eine Menge versprengter Reste lassen auf eine erstaunliche Bauthätigkeit auf sakralem Gebiete schliessen, auf deren Geschichte die Verfasser näher eingehen, Die Baubeschreibung setzt bei dem Megaron der Demeter bei Selinus, einer erst in der Mitte der neunziger Jahre ganz ausgegrabenen Anlage eines heiligen Bezirkes ein, der vollständiger als irgend eine andere Ruine in Sizilien und Unter-ltalien die Beschaffenheit eines griechischen Temenos veranschaulicht. In stilistischer Hinsicht interessant ist beim Megaron der Demeter die Geisonecke; sie zeigt noch nicht den Uebergang des horizontalen und des ansteigenden Profiles zu einem einheitlichen Schlusstück, sondern beide Profile liegen, als eine Erinnerung an die alte Holzkonstruktion, getrennt übereinander, wie ein horizontaler und ein schräg ansteigender Balken an ihren Berührungspunkten sich zeigen würden.

Es folgt nun eine eingehende Baubeschreibung der beiden Kolossaltempel C und D, der ältesten Peripteroi des Stadtgebietes von Selinus. Der Tempel C war ein grosser, altdorischer Peripteros von 6:17 Säulen, von welchem Koldewey einen interessanten Rekonstruktions-Versuch giebt, aus welchem sich eine Tempelbreite von 23,93 und ohne die zweijochige Vorhalle eine Länge von 56,07 m ergiebt; die gesammte Länge dürfte, jeweils von Säulenaussenkante, 64 m betragen haben. Aehnliche Maasse ergaben sich für den Tempel D.

Die Betrachtung berührt nun die Tempel O und A und geht sodann auf die Anlagen auf der Höhe über dem Thal östlich von Selinus über.

Hier ist es insbesondere der Tempel F, ein alt dorischer Peripteros von 6:14 Säulen, der wegen der steinernen Schranken in den Interkolumnien auffällt. Es folgen weiter der Apollotempel G bei Selinus, der wie der Zeustempel in Akragas zu den gigantischen Bauten gehört, ein Pseudodipteros von 8:17 Säulen, von rd. 50 m Breite und 110 m Länge, und der Heratempel G, von den grossen Tempeln in Selinus der jüngste undvollendetste. Den grossen dorischen Tempel von Segesta bezeichnen die Verfasser als ein „glänzendes Zeugniss für die vollständige Hellenisirung der Bauweise einer barbarischen Stadt“. Stilistisch verwandt ist er mit dem Concordiatempel von Akragas.

Wiederherstellungs-Versuch des Aeusseren des Zeustempels von Akragas nach Koldeway und Puchstein
Wiederherstellungs-Versuch des Aeusseren des Zeustempels von Akragas nach Koldeway und Puchstein
Trümmer eines Atlanten im Zeustempel von Akragas
Trümmer eines Atlanten im Zeustempel von Akragas

Dieses war die letzte grosse Gründung der Griechen auf Sizilien. Auf seiner Akropolis, dem heutigen Girgenti, stand der Athenatempel, heute Santa Maria dei Greci, dem eine kurze Darstellung gewidmet wird. Das Werk berührt weiterhin S. Biagio in Girgenti vielleicht ein Demeter-Heiligthum, sodann in einer längeren Darstellung den sogen. Herculestempel und seinen Altar, den ältesten der uns erhaltenen Tempel von Akragas, ein grosser, altdorischer Peripteros von 6:15 Säulen, und geht endlich zum Zeustempel, dem vielleicht interessantesten Werke von Akragas über:
„Zweimal hat sich der antike Tempelbau in Sizilien zu einer kolossalen Leistung gesteigert: im Apollotempel G zu Selinus und im Tempel des olympischen Zeus zu Akragas.“ Die grossen Grundrissmaasse sind ähnliche, da aber der Tempel von Selinus auf eine Front von 8 Säulen berechnet war, der von Akragas aber nur auf eine solche von 7, so sind die Formen des letzteren die gewaltigeren. Was uns nun den Tempel besonders interessant macht, das sind die gigantischen Telamonen, meist männliche Kolossalfiguren, die in tragender Stellung ohne Zweifel struktive Bestandtheile des Tempels bildeten. Wie viele der Atlanten vorhanden waren, ist nicht zu ermitteln. Nach dem Vorgange Cockerells wurde bisher immer angenommen, dass sie in der Cella gestanden und den Dachstuhl getragen hätten. Aus der Art des Trümmerfalles aber glauben die Verfasser „zweifellos“ den Schluss ziehen zu können, „dass die Atlanten sicherlich an der Südwand – und so auch wohl an den drei anderen Wänden – aussen zwischen den Säulen gestanden haben“, wie es Koldewey in dem nebenstehenden Wiederherstellungs-Versuch angedeutet hat. Es ist zuzugeben, dass die Annahme viel Wahrscheinlichkeit für sich hat: „Unten hohe Schranken zwischen den Säulen, darüber eine ideale Oeffnung und innerhalb derselben – einer der wirkungsvollsten Gedanken der alten Baukunst – die 38 Atlanten von 7,5 m Höhe aufrecht stehend und das Gebälk stützend.“ Puchstein glaubt die Atlanten dem Stile nach nicht unter die Mitte des fünften Jahrh. v. Chr. herabrücken zu sollen.

Vom sogen. Tempel der Juno Lacinia und vom sogen. Concordientempel schreitet die Schilderung zu den beiden Tempeln westlich vom Olympeion fort, berührt einige kleinere Bauwerke in Taormina usw. und schickt sich dann an, aus der Darstellung von 40 Bauwerken das Material zu einer Schilderung des griechischen Tempelbaues in Unteritalien und Sizilien im allgemeinen, nach den Gesichtspunkten des Kultus, der Kunstformen, der Grundrisseigenschaften abzuleiten. Diese Schilderung ist so werthvoll, dass sie im Original studirt werden muss und deshalb hier auch nicht auszugsweise berührt werden soll. Dieser Abhandlung folgt eine chronologische Zusammenstellung der untersuchten Bauten.

Man wird es uns nicht verdenken, wenn wir auf die archäologischen Ergebnisse der Untersuchungen des schönen Werkes nicht eingehen, das ist Sache der archäologischen Wissenschaft. Die vorstehende kurze Inhaltsangabe verfolgt lediglich den Zweck, das Werk vor einer drohenden Vergessenheit zu bewahren, was nicht nur bei der flüssigen sachlichen textlichen Schilderung durch Puchstein, sondern namentlich auch im Hinblick auf die künstlerischen Darstellungen Koldeweys, auf die mit grosser technischer Meisterschaft hergestellten Zeichnungen ein empfindlicher Verlust wäre. Denn nicht allein die engen Kreise, welche heute noch der archäologischen Wissenschaft huldigen, auch die weiteren Kreise wenn auch nur platonischer Freunde des griechischen Alterthums empfangen aus dem Werke, welches die Verlagsbuchhandlung sehr würdig ausgestattet hat, reiche Anregung und den künstlerischen Genuss, welchen ein Sondergebiet nur immer verschaffen kann. Den beiden uneigennützigen Forschern schulden Wissenschaft und Kunst dauernden Dank. –

Dieser Artikel erschien zuerst am 27. & 31.07.1901 in der Deutsche Bauzeitung.