Der Silberschatz von Boscoreale

Prunkschale mit der Büste der Africa

Von Prof. Dr. Erich Pernice. Nachdem sich die Welt über die Tiara des Saitaphernes kaum beruhigt hat, geht durch die Tageszeitungen die Sensationsnachricht, daß auch der Silberschatz von Boscoreale bei Pompeji, die Zierde der Antikenabteilung des Louvremuseums in Paris, ganz oder doch zum Teil das Werk von Fälschern sei.

Bei der goldenen Tiara war der Zweifel von Anfang an geboten, sie war von zahlreichen Gelehrten für unecht erklärt worden, lange ehe der Fälscher Ruchomowski seine Autorschaft bekannte – an die Echtheit des Silberfundes hat von allen Archäologen, die ihn als Ganzes bearbeiteten oder einzelne Stücke in den Kreis ihrer Untersuchungen zogen, kein einziger auch nur den leisesten Verdacht geknüpft. Die folgenden Zeilen mögen in kurzen Zügen eine Uebersicht über die Auffindung des Schatzes, seinen Bestand und seine künstlerische Bedeutung geben.

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Bei der Ausgrabung der antiken Villa in Boscoreale, so wird erzählt, fand man in den Wirtschaftsräumen das Skelett eines Mannes, der beladen mit dem baren Geld, mit Schmucksachen und dem Silbergerät des Hauses auf der Flucht zusammengebrochen war – es war jene schreckliche Katastrophe, die im Jahr 79 v. Chr. Pompeii verschüttete. Das Skelett lag mit dem Gesicht gegen die Erde, die Hände hielten Armbänder und eine goldene Kette gefaßt, ringsherum lagen über 1000 Goldmünzen, und in einer Nische war der Silberschatz nieder gelegt, in ein Stück Zeug verpackt, von dem sich an einzelnen Gefäßen das Gewebe noch angeklebt erhalten hat. Der Schatz wurde bald nach seiner Entdeckung von dem Baron E. von Rothschild für eine halbe Million Franken angekauft und bis auf zwei auserlesen schöne Becher dem Louvremuseum geschenkt.

Prunkschale mit der Büste der Africa
Prunkschale mit der Büste der Africa
Spiegel
Spiegel

Zu den zwei großen Silberfunden, die wir aus dem Altertum besitzen, dem Fund von Bernay im Kabinett des Medailles in Paris und dem Hildesheimer Silberfund im Antiquarium der Königlichen Museen zu Berlin, tritt der Schatz von Boscoreale, wenigstens der Anzahl der Stücke nach als der Bedeutendste hinzu. Er umfaßt nicht weniger als 108 Gefäße und Geräte und gibt in seiner seltenen Vollständigkeit eine Anschauung davon, was in einem reichen pompejanischen Haushalt zum Schmuck der Tafel und zum Gebrauch bei Tisch vorhanden zu sein pflegte. Da findet man zahlreiche Kasserollen, einfachere und reicher verzierte, Näpfchen und kleine Schalen, von Rankenwerk umsponnen, kleine verzierte Tabletts, größere Schüsseln und Teller für Speisen, dann Löffel der verschiedensten Art. Besonders reich sind in dem Schatz die Trinkgefäße vertreten. Sie erscheinen hier stets paarweise, wie denn seit der Zeit Alexanders des Großen wertvolle Trinkgefäße fast regelmäßig zu zweien hergestellt wurden. Die Becher gehören nicht alle der gleichen Zeit an, vielmehr lassen sich ältere und jüngere Gruppen leicht scheiden; offenbar war der letzte Besitzer Sammler und teilte die Leidenschaft seiner Zeitgenossen für altes Silber. Ein unerschöpflicher Reichtum künstlerischen Schaffens, eine Fülle von Erfindung und Schönheit lebt in den Dekorationen dieser Gefäße, die recht eigentlich das Charakteristische des Schatzes bilden.

Ein Becher schildert uns das Familienleben der Störche. Auf knorrigem Geäst haben die Tiere ihre Nester gebaut. Leichte Zweige ranken sich ringsum empor, und im Laub sitzen kleine Vögel und zwitschern ihre Lieder. Im Nest hockt die Storchmutter mit ihrer Brut; hungrig recken die kleinen Störche die Hälse empor nach dem fetten Happen, den soeben der Vater angebracht hat; aber im letzten Augenblick macht ihm ein anderer Storch seine Heuschrecke streitig und sucht sie ihm aus dem Schnabel zu reißen; die zweite Seite des Bechers zeigt den Storchenvater, der den Feind aus dem Feld geschlagen hat, wie er der Mutter galant den Fang überreicht, während der Schwächere, ärgerlich zurückblickend, abzieht. Das Leben der Wasservögel zu schildern, gehört zu den Lieblingsvorwürfen der Kunst in augusteischer Zeit. In ganz ähnlicher Formengebung zeigt ein Becherpaar des Hildesheimer Silberfundes Reiher, die im Sumpf ihrer Nahrung nachgehen, während Singvögel sich auf den leichten Stengeln der Sumpfpflanzen wiegen.

Während hier und auf einem zweiten Becherpaar die lebendige Natur aus intimster Kenntnis heraus mit unverkennbarem köstlichem Humor geschildert ist, ist auf zwei andern Becherpaaren die Ornamentik dem Pflanzenleben entnommen. Einmal sind es zwei Platanenzweige, die um das Gefäß gelegt scheinen und sich in flachem Relief vom Grund lösen. Reizvoller ist das zweite Becherpaar, das mit Olivenzweigen geschmückt ist (Abb. untenst). Die schlanken dünnen Blätter bedecken aufwärts und abwärts das ganze Rund des Gefäßes, schmiegen sich dicht an die Wandung an, hängen mit ihren Spitzen leicht über die Fläche über und werden überschnitten und bedeckt von reifen Früchten, die an dünne Stengel angelötet, in voller Körperlichkeit aus dem Grund des Bechers hervortreten. Dieser Uebergang vom feinsten Flachrelief bis zur freien Rundplastik bringt in wechselvollem Licht- und Schattenspiel eine Wirkung hervor, die der Natur erstaunlich nahekommt Auch für diese Becherpaare mit ihrer naturalistischen Pflanzenornamentik bildet der Hildesheimer Silberfund eine nahe Parallele in dem unendlich feinen Becher mit den Lorbeerzweigen, nur daß hier das Verhältnis von Ornament zu Gefäß noch reiner abgestimmt erscheint.

Becher mit Skeletten
Becher mit Skeletten
Storchenbecher
Storchenbecher

Im Gegensatz zu der freien naturalistischen Richtung, die diese Becher bekunden, steht eine andere, die die von alters her überlieferte strenge Stilisierung der Pflanze als Element der Dekoration verwendete. Das berühmteste und bedeutendste Beispiel dieser Ornamentik ist der herrliche Kessel von Hildesheim, wohl das Bedeutendste, was von antiker Metallarbeit überhaupt auf uns gekommen ist. Sie ist auch in dem Schatz von Boscoreale in einem Becherpaar vertreten (Abb. oben). Vom Fuß des Gefäßes kräftig hervorwachsend, steigt ein schlanker, in mehrfache Absätze gegliederter Stengel auf und wird von abzweigenden Ranken begleitet, die in leichten Schwingungen symmetrisch den ganzen Raum auf beiden Seiten überziehen. Zwischen diese Ranken sind einzelne Gruppen gesetzt, ein Adler, der einen Hasen zerfleischt, ein Hirsch, der von Hunden gepackt wird, und Vögel schaukeln sich im Geäst und auf den Blüten. Das Ganze gewiß sehr wirkungsvoll – aber hier tritt die künstlerische Ueberlegenheit des Kessels von Hildesheim glänzend hervor. Es ist kein Zweifel, daß der Schatz von Boscoreale in der Mannigfaltigkeit seines Ensembles den Fund von Hildesheim überragt, aber Stücke von solcher Feinheit künstlerischer Empfindung, wie sie hier das Ornament des Kessels und einige andere Gefäße durchdringt, wird man dort vergebens suchen.

Die pompejanische Wandmalerei verwendet in den letzten Zeiten ihrer Entwicklung zur Füllung kleiner Wandfelder mit Vorliebe Stilleben: Tiere, Früchte, Gemüse verschiedenster Art, die bei der Tafel genossen werden, sind nach Art der holländischen Stilleben zu einem Bild vereinigt.

An diese Ornamentik knüpft die Darstellung eines weiteren Becherpaars an; mit der gleichen Feinheit und Frische, wie die Malerei in Pompeji, ist hier das Relief behandelt. Erlegtes Wild, ein Schwein, ein Spanferkel, Früchte, Küchenmesser, Gefäße, Körbe liegen hier in pittoresker Anordnung nebeneinander. Die Dekoration weist auf den Gebrauch der Gefäße beim Mahl hin und ebenso bei zwei andern Bechern, die mit Szenen aus der Umgebung des Bacchus und mit dem Bild des Gottes selbst geschmückt sind.

Ganz einzig ist der Schmuck zweier anderer Becher, die von Anfang an das größte Interesse gefunden haben und gewiß auch im Altertum zu den wertvollsten Stücken des Schatzes gehörten. Bei den römischen Gastmählern herrschte vielfach die von den Aegyptern überkommene und auch in griechischer Zeit übliche, wenig geschmackvolle Sitte, bei der Tafel die Nachbildung eines Skeletts her umgehen zu lassen, um durch den Hinweis auf die Vergänglichkeit des Lebens die Gäste zum fröhlichen Genuß des Augenblicks aufzufordern. „Laßt uns froh sein, solange es uns gut geht,“ läßt bei solcher Gelegenheit der römische Dichter den Schlemmer Trimalchis. ausrufen.

Diese Lehre ist in überaus geistreicher Weise in dem bildnerischen Schmuck der Becher ausgedrückt. Beide Becher enthalten eine ganze Reihe großer Skelette, zwischen denen kleine Skelette, Masken und anderes, auch Inschriften eingestreut sind. Philosophen und Dichter sind es, die die Skelette darstellen, und die in Gruppen zusammenstehen. Auf dem einen Becher sieht man Zenon und Epikur. Der Stoiker Zenon trägt den Stecken und den Bettelsack und zeigt mit dem Finger auf Epikur hin, der vor einem Dreifuß steht und die knöcherne Hand über einem Becken wärmt, das auf den Dreifuß gestellt ist. Links davon spielt ein anderes Slelett ohne Namensbeischrift die Leier, neben ihm stehen die Worte: „Sei froh, solange du lebst.“ Andere Szenen bringen noch schärfere Kontraste zum Ausdruck. Hier setzt sich ein Gerippe einen vollen Kranz blühender Blätter auf den kahlen Schädel, dort sehen wir das Skelett, das in den Anblick eines Schädels versunken ist, den es vom Boden aufgenommen hat, und dabei stehen als Ergebnis der Betrachtung die Worte: „Das ist also der Mensch.“ An anderer Stelle erblickt man einen Begräbnisplatz, und Skelette kommen und gießen Opfergaben auf die am Boden liegenden Skelette aus. Und um den Kontrast voll zu machen sind alle jene Bilder der Vergänglichkeit des Lebens von einer blühenden Rosengirlande eingefaßt. „Wer hätte,“ so rief einer der Archäologen aus, die den Schatz zuerst sahen, Professor Winter, dessen vortrefflichen Ausführungen über den Silberfund einiges entnommen ist, „bevor diese Becher ans Licht Welt traten, geglaubt, von Phantasien Holbeins und Shakespeares eine Vorahnung in der Antike zu finden“, und diese Bemerkung ist zutreffend.

Die Becher sollten gefüllt werden, und so finden sich zwei prächtige, reliefgeschmückte Kannen in dem Schatz. Aber zum festen Bestand einer vornehmen Tafelausstattung gehörten im Altertum Prunkgefäße. Nicht wenige Stücke des Hildesheimer Silberfundes mögen lediglich zum Schmuck der Tafel gedient haben, sicher die wundervolle Schale mit der sitzenden Athena, das Werk eines griechischen Meisters. Auch der Fund von Boscoreale enthält unter den Prunkstücken eine solche Schale, reich vergoldet und im Innern mit einem Bild geschmückt. Embleme nannten die Alten solchen Schmuck, und von dem berüchtigten Varus wird erzählt, daß er, als er Sizilien in seiner Eigenschaft als Statthalter ausplünderte, die Embleme aus den Schalen herausbrechen ließ und nur diese als den kostbarsten Teil des Gefäßes mit sich nahm, während er die Schale den Eigentümern ließ. Ein schmales Band vergoldeter Lorbeerzweige ist zwischen den Rand der Schale und sein Innenbild geschoben; hier erblickt man das Brustbild einer sehr üppigen Frau, die ein Elefantenfell auf dem Kopf trägt, in der Linken ein Füllhorn, in der Rechten eine Schlange und um Brust und Schultern ganz umgeben ist von einer Menge sinnvoller Attribute, die die Figur als Göttin charakterisieren; es ist die Personifikation von Afrika, die hier dargestellt ist – ein Bild feierlicher Ruhe und Erhabenheit.

Becher mit stilisierten Ranken
Becher mit stilisierten Ranken
Olivenbecher
Olivenbecher

Diese kurze Uebersicht über die Gefäße des Fundes kann natürlich nur eine ungefähre Vorstellung von der Mannigfaltigkeit des Ensembles und dem Reichtum ihrer künstlerischen Erfindung geben. Aber mit den Gefäßen ist sein Bestand noch nicht erschöpft. Wie die Fundumstände zeigen, wurden alle Kostbarkeiten, die die Villa barg, nach den entlegenen Wirtschaftsräumen des Hauses zusammengetragen. So kam es, daß auch anderes Gerät zwischen das Tafelsilber geriet. Es sind zwei kostbare silberne Handspiegel, die so auf uns gekommen sind. Der einfachere zeigt in Relief die Figur einer Leda, die dem Schwan aus einer Schale zu trinken gibt. Der andere Spiegel ist in der dekorativen Gestaltung von großem Reichtum (Abb. nebenst.). Zahlreiche Kreislinien verzieren die runde Scheibe, deren andere blankpolierte Seite zum Spiegeln benutzt wurde, und verengen sie nach der Mitte zu einem kleinen Medaillon mit der Büste eines Mädchens; es ist eine Mänade aus der Gefolgschaft des Bacchus, die wie eine flüchtig vorübereilende Erscheinung aus dem Rund herausblickt. Ihr leichtes Gewand bedeckt kaum die Brust, im weichen Haar trägt sie einen Kranz und über der Schulter einen Thyrsosstab. So zierlich wie die Spiegelplatte selbst – sie ist von einem schmalen Kranz ineinander gesteckter Efeublätter umgeben, einem reizvollen Dekorationsmotiv, das genau so an einigen der feinsten Stücke des Hildesheimer Silberfundes wieder verwendet ist – so zierlich ist auch der Griff des Spiegels gestaltet. Zwei biegsame Weidengerten ineinander geschlungen, zwischen ihnen Blätter an leichten Stengeln aufwachsend, halten die Scheibe und scheinen sich in ihrem bewegten, in halbmondförmigen Ausschnitten gegliederten Kontur fortzusetzen. Der Verfertiger des Meisterwerks hat seinen Namen in kleinen punktierten Buchstaben, wie die Inschriften auf Silberarbeiten in der Regel ausgeführt sind, dicht über dem Griff auf der Scheibe eingestochen: M. Domitius Polygnos, ein Grieche war es, der diesen Handspiegel, eins der schönsten Stücke des Silberschatzes, gearbeitet hat.

Man kann sich schwer denken, daß sich in diesem Schatz Stücke befinden sollten, die, von Fälscherhand angefertigt, untergeschoben seien, um die Stückzahl und damit den Kaufpreis zu vermehren, ganz und gar nicht aber, daß der Schatz als Ganzes unecht sei. Man darf vielmehr den zahlreichen Gelehrten und Kennern, die Gelegenheit gehabt haben, den Schatz genau zu untersuchen und die einzelnen Stücke in die Hand zu nehmen, zutrauen, daß sie aufmerksam geworden wären, wenn auch nur der kleinste Zweifel hätte aufkommen können.

Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 41/1903.