Die Maffia – Eine Landplage Siciliens

Von Woldemar Raden. Mit Staunen und Grauen ob der entsetzlichen, massenhaft zu Tage tretenden, fast unglaublichen Enthüllungen über die socialen Zustände und Verhältnisse Palermos wie der ganzen Insel Sicilien hat die civilisierte Welt den sich vor dem Mailänder Schwurgericht abspielenden Prozeß verfolgt, den die Ermordung des Commendatore Notarbartolo in Palermo neuerdings zur Folge hatte.

Die Verbrecher waren der Justiz bekannt, zu fassen waren sie nicht oder sehr schwer, so daß einer ihrer Hauptleute, der Deputierte Palizzolo, sich prahlend rühmen konnte, , wie dieser Prozeß bereits fünf Jahre gedauert habe und fünf Staatsanwälte, vier Präfekten, sämtliche Sicherheitsbehörden nicht imstande gewesen wären, ihm eine Schuld nachzuweisen oder den wahren Thäter, der „sein geliebtes Sicilien so entehrt habe, zu finden“, während der Rechtsbeistand der Familie des Ermordeten sich voll tiefster Entrüstung äußerte: „In diesem Prozesse giebt es Verbrechen, die vom Gesichtspunkt der Moral aus ebenso schwer und schwerer wiegen als der Thatbestand des Mordes selbst. Alles wird verschleiert!“ Die Bemühungen der Justiz wurden so erschwert durch den Umstand, daß die Verbrecher Maffiosi waren, der Maffia angehörten.

Was ist die Maffia, was bedeutet sie für die schöne, unglückliche Insel Sicilien?

Vor Beantwortung dieser Frage ist es nötig, noch einmal kurz die Geschichte des Mordes zu wiederholen.

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Es war am 1. Februar 1893, abends gegen 7 Uhr, da wurde an der Eisenbahnlinie Palermo-Girgenti, in der Nähe der kleinen Station Sciara, etwa 50 km vor Palermo, kurz nachdem der Schnellzug Nr. 8 passiert war, die Leiche eines älteren Herrn gefunden, dessen Körper von zahllosen Stichen durchbohrt war. Er war offenbar im Zuge getötet und in der Nähe der Tunnelöffnung zum Waggonfenster hinausgestürzt worden. Er leg dem Gesicht nach unten, war in Hemdärmeln, aber mit Handschuhen an den Händen. Zu seinen Füßen lagen, glatt hinlegt, die Joppe und der Ueberrock. An dem Leibe des Toten wurden nur gefunden ein paar Glieder einer silbernen Kette und ein Ring. Alles übrige war weggeschleppt worden: seine Jagdflinte, der Hut, eine Ledertasche, der Gummiregenmantel, die Uhr und die Brieftasche mit 400 Francs Inhalt.

Die hochstehende Familie Notarbartolos erwartete diesen ahnungslos am Bahnhofe von Palermo, und war erstaunt ihn mit diesem letzten Zuge nicht ankommen zu sehen. Sie wähnten ihn eingeschlafen im Zuge zu finden und entdecken bei dieser Gelegenheit in einer Abteilung der 1. Klasse verschiedene Blutspuren. Der entsetzlichen Ahnung folgte die telegraphische Kunde des Mordes auf dem Fuße. Der Commendatore Notarbartolo war auf der Fahrt nach Palermo im Eisenbahnwagen beraubt und ermordet worden!

Wegen der hohen Stellung und Bedeutung seiner Person (Notarbartolo war Bürgermeister von Palermo und Direktor der Bank von Sicilien gewesen) und des Aufsehens wegen, den diese Bluthat in ganz Italien hervorrief, mußten die Behörden alle Anstrengungen machen, des Thäters oder der Thäter habhaft zu werden. Der Oberschaffner und der Bremser waren verhaftet, aber wieder losgelassen worden, und zahlreichen anderen verdächtigen war es ebenso ergangen.

Eines war sehr bald klar geworden: der Mord war nicht des Raubes wegen verübt worden, der Raub war nur Komödie, es war ein politischer Mord. Der unglückliche Mann mußte verschwinden, er war unbequem geworden, unbequem als energischer Gegner bei den Wahlen, noch unbequemer als Direktor der Bank, die ein Nest von Gaunern war. Er war ein ehrenhafter Mann, also votierten die Mächte, die im Dunkeln arbeiten, seinen Tod.

Der Name dessen, der die Sache vermutlich geleitet hatte, war sofort in aller Munde, es war Palizollo, ein abenteuerlicher Emporkömmling, der es bereits zum Kammerdeputierten und zum Verwaltungsrat der Bank von Sicilien gebracht hatte, und der Mord war eine That der Maffia. Schon ein paar Jahre vorher hatte dieser Rädelsführer einen Anschlag gegen Notarbartolo durch die Räuberbande Leones eingefädelt, und auf seiner Villa war die Gefangennahme der Bande erfolgt.

1890 mußte Notarbartolo sein Amt als Bankdirektor niederlegen, denn er hatte Palizzolo verschiedener Unterschleife angeklagt, aber die betreffenden Dokumente waren ihm unter den Händen weggestohlen worden. 1892 bei den politischen Wahlen agitierte Notarbartolo heftig gegen die Kandidatur Palizzolos, aber die Wahl desselben ward mit Hilfe der Maffia durchgesetzt; seine Wähler waren, nach Aussage des Präfekten Codrouchi, immer Häupter der Maffia, durch sie wurde er durchgedrückt, ohne Hilfe von Wahlkomitees. In demselben Jahre, 1892, klagte ihn die Volksstimme als Anstifter eines Mordes an, und der Ermordete, ein gewisser Miceli, hatte vor seinem Hinscheiden den Karabinieri erklärt, daß Palizzolo der Anstifter sei. Er blieb unbelästigt und die Maffiosi gaben in Villa Abate ihrem Protektor ein Bankett!

Die Zeiten der Gewaltthätigkeiten, wie Manzoni sie in seinen „Verlobten“ an Don Rodrigo und seinen „Bravi“ schildert, jene trüben Zeiten sind noch nicht tempi passati. Die meisten sicilianischen Barone im Innern halten sich eine Leibwache von schwerbewaffneten und uniformierten Männern, die sich aber als abhängige Leute, wie im Mittelalter, noch heute den Bart scheren müssen. Palizzolo hielt sich so die Briganten, und sein Kollege im Parlament De Felice berichtete von ihm unter Lachen, er habe einst die Ohnmacht der Polizei beweisen wollen und den sehr gefürchteten Brigantenhauptmann Leone, auf dessen Kopf ein hoher Preis stand, mit sich ins Theater genommen: weder er noch der Räuber wurden im geringsten belästigt.

Fragen wir einen Sicilianer über die Maffia, so können wir auf seinem Gesicht den Ausdruck des Staunens lesen, als ob er zum erstenmal in seinem Leben von dieser Sache hörte. Sprechen wir dann von unsrer Erfahrung auf diesem Gebiete, von dem, was die Zeitungen darüber berichten, so wird er in allgemeinen Wendungen sich dem Gespräch entwinden oder geradezu bitten, dies Thema zu verlassen. Ihn bestimmt dazu der Stolz auf seine Insel und der Wunsch, diese Landplage Siciliens im Dunkeln zu lassen, weiter die Natur der Maffia selbst, die sehr schwer zu präcisieren ist, und dann – eine gewisse Feigheit.

Und doch haben einige wohlunterrichtete Sicilianer die Frage nach der Maffia mutig und kräftig beantwortet. Der Gemäßigte sagt: Die Maffia besteht in einem Geheimbund, ohne Statuten, ohne festgesetzte Regeln, zwischen Menschen, die über ganz Sicilien zerstreut leben. Ihr Zweck läßt sich genau angeben: Erlangung des Uebergewichts über die Regierungsgewalt, um den Mitgliedern zu ermöglichen, als Parasiten bequem in Genüssen zu leben. Mittel sind die Hinterlist, die Einschüchterung, die eine so große Rolle bei allen 300 Zeugen im Prozesse Notarbartolo gespielt hat, und, wo es nötig, die rohe Gewalt mit Zuhilfenahme der bestehenden Räuberbanden.

Das klingt noch harmlos im Vergleich zu den Aussagen des „Sicilianissimo“ Mommino (ein Pseudonym) der den letzten Schleier von den Dingen reißt und mutig die Wahrheit sagt. Nach ihm umschließt die Maffia mit ihren starken Tast- und Saugorganen polypengleich das ganze sicilianische Volk, denn es giebt eine Maffia des flachen Landes und eine der Städte, eine hohe und eine niedere Maffia, Generalstab, Offiziere und Gemeine. Wie der Maffioso inmitten des Grüns der Orangenbäume, des Goldes der Aehrenfelder, aus der stinkenden, verfallenden Hütte in das Haus Wirtschaftsverwalters tritt, hinter der Mauer des Schlosses sich zeigt, wie er hinter der Hecke, aus indischen Feigen aufgeführt, mit aufmerksamem Auge die Herden ausspioniert und Geburten, Hochzeiten und Testamente der bäuerlichen Bevölkerung überwacht, so steht er in der Stadt hinter dem Stuhle des Geschworenen, verkehrt

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„Das darf ich Ihnen nicht verraten.“

„Und Sie selbst, wer sind Sie?“

„Ich? Ich bin … X.“

„Schon gut.“

B. verfügte sich schleunigst zu den Oberen der Maffia, diese waren wie aus den Wollen gefallen. Der Angesehenste von ihnen stellte eine geheime Untersuchung an, aus der sich ergab, daß die Anzeige auf Wahrheit beruhte. Was thun? Alle Genossen, die den Frieden seiner Zeit vermittelt hatten, traten jetzt als Tribunal zusammen. Der zum Mord gedungen gewesene X. wurde durch einige „Freunde “ herbeigelockt und versteckt. Der Angeklagte A. mußte auf Einladung des Tribunals erscheinen, und als er leugnete, mußte der versteckte X. hervortreten und ihm das empfangene Geld vor die Füße werfen. Jetzt konnte er nicht mehr leugnen und bat um Gnade.

Der Richterspruch lautete auf „infam“, und acht Tage nachher schwamm der Verurteilte auf dem Ocean. In Amerika ist er verschollen, der Maffia aber wäre es ein leichtes gewesen, ihn auch dort zu finden.

An solcher Arbeit, wie überhaupt an ihrer Arbeit hat die Maffia Freude, sie ist stolz auf ihr Thun, auf ihre „Gerechtigkeit“. Ein bekannter palermitanischer Maffioso, Tano mit Namen, saß im Kaffeehaus mit andern, „Freunden“. Da hört er auf der Straße Geschrei und Gelaufe. Er tritt unter die Thür und sieht einen Menschen mit einem langen Messer in der Hand, der einen andern, unbewaffneten, verfolgt. Tano springt vor, schreit „Platz“ und schlägt den Verfolger, der sein Opfer fast erreicht hat. hat mit seinem dicken Knüttel über den Schädel, daß der Getroffene zu Boden stürzt. Nun tritt er mitten in die Straße, spreizt die Beine, schaut sich stolz um, hebt die Augen gen Himmel, lüftet den Hut und ruft mit lauter Stimme: „Tano ist in die welt gekommen, der armen Menschheit zu helfen!“ Applaus von vielen Seiten, und sich in den Hüften wiegend, die Daumen in den Ärmellöchern der Weste, geht er ab.

Ein großer Rechtstitel für den Maffiosi ist es, wenn er sich rühmen kann: „qualche cuojo al aole“ (wörtlich: manches Fell an der Sonne), d. h. manchen zu Boden gestreckt zu haben.

Dazu giebt es nun freilich viel Gelegenheit in Malandrinaggio, einem Zweig der Maffia; Mallandrinaggio, ist das Verbrechen, das man an Personen oder Sachen mit Gewaltthätigkeit, oder auch durch Androhung solcher Thaten, begeht oder begehen lässt. Wer darin arbeitet, ist ein Malandrino, natürlich auch Maffioso. Zum Malandrinaggio gehören, bei dem Kleinsten angefangen, die Droh- und Erpressungsbriefe, der aus Rache verübte Diebstahl, in gleicher Weise der Viehraub, die Niedermetzelung ganzer Herden, Fällung aller Fruchtbäume, Niederbrennen von Ernten, Wäldern, Niederlagen, Häusern, dann der Mord, der Raubanfall auf offener Straße, die Gefangennahme von Personen, um Lösegeld zu erheben.

Malandrinaggio ist nicht zu verwechseln mit dem Brigantaggio; Brigantaggio ist Malandrinaggio als Beruf. Der Brigant ist ein Malandrino, aber der Malandrino ist nicht immer Brigant. Briganten sind Leute, die allein, meist aber in Gesellschaft, bewaffnet das flache Land durchstreifen und in offenem Kriege gegen Gesetz und Polizei Gut und Leben andrer bedrohen und schädigen. Ihr Handwerk nennt man Brigantaggio. Ohne die Protektion der Maffia würde dasselbe einen schweren Stand haben. Den Briganten gegenüber betreibt sie den Manutengolismo, das Helfershelfer- und Hehlertum, auf breitester Stufe, und in diesem liegt auch der lohnendste Gewinn.

Ein Buch wäre über den Manutengolismo zu schreiben, wie über die Maffia ein Werk ohne Ende. Ich habe nur wenig Punkte berühren können, doch ist das eine zweifellos zu erkennen, daß die Bezeichnung der Maffia als Landplage nicht übertrieben ist.

Nun noch ein Wort über die Vokabel „Maffia“! Bis zum Jahre 1860 war das Wort auf Sicilien in seiner heutigen Bedeutung noch unbekannt, da bedeutete es etwas Hübsches. Eine Krawatte, ein Tuch, ein Mädchen, ein nettes Haus waren „maffiosi“, d. h. zierlich, graziös. Ein „giovinetto maffiosi“ war ein kräftiger, gewandter Bursche, voll Bewußtsein seines Mannestums, ritterlich und kühn. 1860 schrieb Rizzotto sein packendes Volksdrama: „I Maffinsi di la Vicaria“, es bot Scenen aus dem Treiben der gekennzeichneten Volksjustiz in Palermo, und der Name für die vornehmste Verbrecherverbindung war gefunden. Wer ihn auslöschen will, wer diese Hydra töten soll, muß wohl erst noch geboren werden. Die italienische Regierung, erschrocken über die jüngsten Enthüllungen, hat den Feuerbrand und die Keule in die Hand genommen.

Dieser Artikel erschien zuerst 1900 in der „Illustrierte Chronik der Zeit vereinigt mit Gartenlaube“.