Die Architektur auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1900 – II. Der kleine Kunstpalast in der Avenue Nicolaus II.

Der kleine Kunstpalast auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1900. Architekt Girault

Architekt: Girault.
Gegenüber dem grossen Kunstpalast, die andere Seite der Avenue Nicolaus II, einsäumend, liegt der kleine Kunstpalast, augenblicklich den Werken der alten französischen Kunst als Entfaltungsstätte dienend, später in den Besitz der Stadt Paris als Kunstpalast übergehend, War die Grundform des grossen Kunstpalastes insbesondere durch die Rücksicht auf seine spätere Hauptverwendung als Stätte für hippische und andere Sportveranstaltungen bestimmt, woher auch die an den römischen Circus erinnernde Anlage und Gestalt der Haupthalle kommt, so ist die von den üblichen Gestaltungen abweichende Grundform des kleinen Kunstpalastes in ihrer Hauptanlage in erster Linie durch die Richtung der ihn umgebenden Strassenzüge veranlasst, da die Avenue Nicolaus II, die Avenue der Elysäischen Felder in einem spitzen Winkel schneidet. Im übrigen waren nur Ausstellungsräume zu schaffen.

Aus dem Wettbewerb des Jahres 1896 um Entwürfe für den Palast ging Girault an erster Stelle als Sieger hervor, während Cassien-Bernard & Cousin den II. Preis, Toudoire & Pradelle den III. Preis und Mewes den IV. Preis erhielten. Ein V. Preis wurde dem Entwurf der beiden Deperthes, Vater und Sohn, zuerkannt. Schon an dem Konkurrenz-Entwurf lobt das Protokoll, das von Pascal verfasst ist, die Anlage nur eines Geschosses auf hohem Sockel, den halbkreisförmigen Gartenhof, „qui séduisit tout le monde“, die geschickte Architektur und den feierlichen künstlerischen Gesammteindruck. Alle diese Vorzüge sind in der Ausführung bestehen geblieben und an wesentlichen Punkten durch neue ergänzt worden. Der schiefwinklige Verschnitt der Strassenzüge, welchem die Fassaden folgen mussten, ist durch die Lagerung der Ausstellungshallen um einen halbkreisförmigen Hof in geschickter Weise ausgeglichen; nicht minder geschickt ist der Zusammenschluss der einzelnen Flügel an den Eckpunkten gelöst; auch hier bildete die Kreislinie das vermittelnde Element. Im übrigen ist der Grundriss von natürlichster Einfachheit. Von grosser, würdiger und zugleich anmuthiger Wirkung ist die dem Baukörper vorgelagerte Raumflucht, die aus Mittelhalle, den geräumigen Seitenhallen und den beiden Ecksälen besteht.

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Die Hauptfassade gliedert sich in den kuppelüberragten Mittelbau, in die pavillonartigen Eckbauten und in die verbindenden Theile. Wie bei seinem Gegenüber, ist auch bei diesem Palast eine reiche jonische Säulenordnung der Fassade das Auszeichnende derselben. Die Seitenfassaden haben, soweit sie Verbindungsbauten zwischen den Eckpavillons sind, eine Pilasterstellung erhalten; die Eckpavillons sind wieder durch eine reichere Architektur ausgezeichnet. Wie der grosse Kunstpalast, so ist auch der kleine in einem leuchtenden weissen Kalkstein errichtet und wie dort, so ist auch hier die figürliche und dekorative Bildhauerkunstin reichstem Maasse zum Schmuck des Gebäudes mit herangezogen. Der figürliche Schmuck ist der reichste am Mittelbau. Nicht ganz glücklich stehen an diesem die drei Bogenlinien des Einganges, der die Eingangspforte umschliessenden Tympanonarchitektur und der Kuppel übereinander. Auch die Kuppelendigung will nıcht recht zu der monumentalen Haltung des Baues stimmen. Ueber jonischen Pilastern und Vollsäulen entsteht zwischen dem Halbkreis des Einganges und dem des Konsolen-Gesinises ein mondförmiges Tympanon, dessen bildnerischen Schmuck der Bildhauer Injalbert schuf. Die Stadt Paris, umgeben von den Musen, Apollo mit dem Pegasus, die Seine, Mittelmeer und Ozean, Neptun und Amphidite, das ist der heterogene Inhalt der Darstellung. Diese wird denn auch einmal als „Paris beschützt die Künste“, das andere Mal als „Die französischen Flüsse des Ozeans und des Mittelmeeres“ bezeichnet. Zu beiden Seiten des Treppenaufganges zum Haupteingang stehen zwei Gruppen: „Die vier Jahreszeiten“, von Louis Convers, und „die Seine und ihre Nebenflüsse“, von Ferrary. Die Genien der Malerei und. der Bildnerei, von Saint-Marceaux, bilden die Seitenakroterien des halbrunden Giebels. Die Basrelief-Friese zwischen den Säulenstellungen stammen von den Bildhauern Hugues und Fagel. Am bildnerischen Schmuck der Pavillons waren betheiligt: Peynot (Genien mit dem Wappen der Stadt Paris), Mourel (Venus und Juno), Lemaire (die Stunden) und Desvergnes (Archäologie und Geschichte).

Untergeschoss
Untergeschoss
Obergeschoss
Obergeschoss

Der Glanzpunkt des schönen Bauwerkes ist unstreitig der halbkreisförmige Hof. Aus dem rund 129 m langen und etwa 90 m tiefen Baukörper ist er als ein stattlicher Halbkreis von 53 m Durchmesser herausgeschnitten und in prächtigster Weise architektonisch geschmückt. Eine dorische Säulenhalle mit geradem Gebälk ist ohne organische Verbindung mit der übrigen Architektur frei in ihn hineingestellt. Diese mit Ornamenten reich geschmückte Halle treppt sich gegen das Innere des Hofes als niederere Stufe gegen die Hauptarchitektur, welche sie überragt, ab. Dadurch entsteht der Eindruck reichster Gliederung bei zugleich sehr glücklichen Maasstabs-Verhältnissen. Aus der Vereinigung des prächtigen, triumphbogenförmigen Portales, welches den Austritt zum Hofe aus der Mittelhalle vermittelt, aus dem blendenden Kalkstein der Architektur, dem farbigen Marmor der Säulen, der vergoldeten Bronze der sie verbindenden Gehänge aus der Farbe der Wasserbecken endlich und dem Grün der Anpflanzung ergiebt sich für diesen Hof ein Bild von bestrickendem Reiz. Vielleicht ist es das Beste, was auf der ganzen Ausstellung an Architektur hervorgebracht worden ist. Die grosse Gruppe Girardons, Raub der Proserpina, belebt ihn in figürlichem Sinne.

Der kleine Kunstpalast auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1900. Architekt Girault
Der kleine Kunstpalast auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1900. Architekt Girault

Würdevoll und reich, mit auserlesenem Geschmack in der Wahl der architektonischen Motive, sind die Innenräume durchgebildet, in der Farbe vorläufig noch weiss, zweifellos aber auf einen reichen späteren farbigen Schmuck berechnet. Das Raumprofil ist fein abgewogen, die Raumwirkung daher eine wohlgelungene.

Der kleine Kunstpalast auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1900. Architekt Girault
Der kleine Kunstpalast auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1900. Architekt Girault

Im übrigen aber gleich dem grossen Palast überliefertes XVIII. Jahrhundert; glänzend im Vortrag und mit hervorragender Begabung dem besonderen Zwecke angepasst, aber immerhin nur Ueberlieferung. Ich will damit keineswegs einen Tadel an und für sich aussprechen, aber ich kann den Eindruck der Ausstellung des Jahres 1889 nicht los werden. Die damaligen Bauten stellen sich immer wieder neben die heutigen und zeigen den auffallenden Stillstand. Diese Empfindung wird, wie es scheint, auch von französischen Kreisen getheilt, denn just zurzeit der Fertigstellung der heutigen Bauten giebt eine französische Architektur-Zeitschrift die geometrischen Ansichten der bedeutenderen Bauten der 1889er Ausstellung als „Souvenir“ wieder. Es ist schwer anzunehmen, dass dabei nicht an eine Kritik gedacht wurde. –

Dieser Artikel erschien zuerst am 07.07.1900 in der Deutsche Bauzeitung.

Inhaltsübersicht

Die Artikelserie “Die Architektur auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1900” besteht aus 9 Teilen:

I. Einleitung und Gesammtanlage

II. Der grosse Kunstpalast in der Avenue Nicolaus II.

Nr. II. ist doppelt, Nr. III. fehlt, möglicherweise ein Fehler der Deutschen Bauzeitung?

II. Die Architektur auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1900 – II. Der kleine Kunstpalast in der Avenue Nicolaus II.

IV. Die Architektur auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1900 – IV. Die Brücke Alexander’s III.

V. Die Architektur auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1900 – V. Das Haupt-Eingangsthor

VI. Die Architektur auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1900 – VI. Die Völker-Strasse

VII. Die Architektur auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1900 – VII. Alt-Paris, das Schweizerdorf und andere kleinere Veranstaltungen

VIII. Die Architektur auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1900 – VIII. Die vorübergehenden grossen Ausstellungsbauten

IX. Die Architektur auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1900 – IX. Das Wasserschloss, der Festsaal und kleine Ausstellungsbauten