Die russischen Manöver bei Kursk

Wirklich große Zarenmanöver, wie die diesjährigen Kursker, die vom 12. bis zum 18. September im Gelände von Ryschkowo stattgefunden haben, sind in Rußland eine verhältnismäßige Seltenheit.

Alexander III. saß ungern zu Pferde und war überhaupt kein Freund von diesen größten militärischen Schauspielen, mit denen die kriegerische Ausbildung der Truppen und besonders des Kommandos abgeschlossen wird. Unter Zar Nikolaus haben ähnliche Manöver, wie die diesjährigen, zum erstenmal 1897 bei Bjelostok stattgefunden, und es ist vom militärischen Standpunkt sehr anzuerkennen, wohl auch nicht ohne Bedeutung, daß Zar Nikolaus, im Gegensatz zu seinem Vater, der der Friedfertige genannt wird, schon wieder das ernste und sehr teure Kriegsspiel inscenieren ließ. Die Kursker standen, wie seiner Zeit die Bjelostoker, unter der Oberleitung des gleichzeitig zum höchsten Schiedsrichter ernannten Großfürsten Michael Nikolajewitsch.

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Der Bestand war freilich ein anderer. Es waren die Truppen des Moskauer und Wilnaer Militärbezirks, unter Führung des Großfürsten Sergius Alexandrowitsch, zu einer Nordarmee vereinigt und die Truppen des Odessaschen und Kiewschen Militärbezirks als Südarmee dem Kriegsminister Fürsten Kuropatkin anvertraut, zur Kampagne herangezogen worden. Zwei Riesenheere waren es, die miteinander um die Furten des Keut und des Sseim zu kämpfen hatten.

Dorfkavallerie auf dem Manöverfeld
Radfahrer mit Ausrüstung
Infantrie auf dem Marsch

Man kann sich von den Truppenmassen, die sich in zum Teil hochinteressanten Gefechten im weit offenen Gelände bewegten, ein Bild machen, wenn man sich die Zahlen der dem Manöver unter Anwesenheit des Schahs von Persien folgenden Truppenschau vergegenwärtigt: 163 ¼ Bataillone, 58 ½ Schwadronen und Kosakensotnien und 408 Geschütze nahmen an ihr teil. In der Front befanden sich 90 Generale, 552 Stabsofsiziere, 3388 Offiziere, 89 121 Untermilitärs und 17 276 Pferde.

Der Eisenbahnzug, in dem der Zar während der Manöver wohnte
Der Zar mit seinem Gefolge im Manöver

Zum Frühstück, das dem Schluß der eigentlichen Manöver am 16. September auf dem Gut Tulubujer folgte, hatte der Zar gegen 4000 Offiziere um sich versammelt. Das sind imposante Zahlen, und es stellte sich den Kommandierenden durchaus keine kleine Aufgabe, wenn sie mit den Truppenmassen den schwierigen Aufgaben des Programms gerecht werden wollten. Aber mit erstaunlicher Frische und Leistungskraft wurden die sehr schwierigen Uebergänge über die Flüsse durch die agressive siegreiche Südarmee ausgeführt, wobei die ganze Artillerie durch die Furt mußte und 7 Bataillone das andere Ufer schwimmend zu erreichen hatten. Der Zar, der in den Manövertagen durch ernsthafte Aufgaben anderer Art abgezogen war, konnte nur drei Tage an den Manövern teilnehmen. Er befand sich ja mitten im kürzlich noch von den Bauernrevolten durchtobten Gebiet und hatte mit Deputationen des Adels, der Stände und der Bauernschaft manch ernstes Wort zu wechseln. so hatten sich zum 14. September, dem Tage des Besuchs des Zaren in Kursk, auf seinen Befehl im Haus des Gouverneurs Gemeinde- und Dorfälteste der Gouvernements Kursk, Poltawa, Charkow, Tschernigow, Orel und Woronesch versammelt.

Der Zar richtete an diese bärtigen Repräsentanten der russischen, durch lange Leibeigenschaft entmündigten, kindlich unentwickelten Bauernschaft, die sich in ihrem dunklen Drang, irregeleitet, vielleicht hier und da eines richtigen Zieles, des richtigen Weges aber wahrlich nicht bewußt ist, Worte voll Ernst und Milde, wie sie des „Zar-Väterchens“ mit ihrem patriarchalischen Grundton wohl würdig waren. Er schloß folgendermaßen: „Denkt daran, daß man nicht durch Aneignung fremden Gutes reich wird, sondern durch ehrliche Arbeit, Sparsamkeit und ein Leben nach den Geboten Gottes. Teilt alles, was ich euch sagte, genau euren Dorfgenossen mit und ebenso auch das, daß ich ihre wirklichen Bedürfnisse nicht ohne meine Fürsorge lasse werde.“

Automobile für den Manöverstab

Doch auch dem Adel legte der dessen Pflichten der armseligen Bauernschaft gegenüber nahe, und wenn man jemals erfahren, wie groß die Kraft unmittelbar gesprochener, lebendiger Kaiserworte im Vergleich zu Gesetzen, Ukassen und Reskripten ist, kann man wohl für einige Zeit Ruhe im Land erwarten. Sah man sich übrigens die Hungerleider von Bauern, wie sie in Scharen barfüßig und barhaupt aus ihren Dörfern herbeiströmten, um das Väterchen, den Zaren, oder auch nur einen Großfürsten zu Gesicht zu bekommen, genauer an, so konnte man wohl erschrecken. Nein, die sahen wahrhaftig sonntags kein Huhn im Topf! Und wenn sie es kürzlich zu verlangen schienen, so war das flüchtiger Hungerrausch. Er ist vergangen: zu tief wurzelt das Bewußtsein der Inferiorität, so gänzlich fehlt bewußtes Staatsbürgertum. Kinder ihrer Entwicklung nach, geborene Hörige, so hockten auch die Großbauern, soweit man von solchen in Rußland sprechen kann, halbnackt auf ihren Pferden. Nur die reichsten haben noch Pferde im Schwarzerdegebiet, in Rußlands Kornkammer!

Die Nordarmee auf dem Rückzug

Die Soldaten, die besten, weil unselbständigsten Soldaten der Welt, wie vielleicht nicht mit Unrecht behauptet wird, sehen in ihren weißen, blitzenden Sommeruniformen da schon ganz anders aus, zumal in der Erregung des Gefechts, im Feuer der Begeisterung des „Urrá“. Lachend, singend, pfeifend wird die schlimmste Strapaze überstanden. Es ist, als hätte der Soldat selbst aufgehört zu existieren, als wäre er nur mehr der lebendig gewordene Befehl. „Ssluschajusj“! (ich gehorche), gleich unserm „zu Befehl!“ bedeutet unbedingte blinde Ausführung des gegebenen Befehls und der denkbar schwierigsten Aufgaben. Was blinder Gehorsam ist, kann man am russischen Soldaten lernen. Sie sind Helden der Passivität, aber Helden, diese uniformierten Mushiken, von denen gegen 90 auf 100 Analphabeten sind, wie die Statistik nachgewiesen hat.

Rücktransport der Orenburgischen Kosaken

Am letzten Manövertag, als die Südarmee in allgemeinem Angriff auf die Höfe beim Dorf Kostornaja die Nordarmee endgiltig geschlagen hatte und der Zar um ¾ 10 Uhr zur Retraite hatte blasen lassen, konnte man den Soldaten durchaus nicht die großen Strapazen anmerken, die sie zu erdulden gehabt. Mit Kraft und Freude dröhnte das Urrá, als der Zar die Regimenter umritt, die er während der Manöver noch nicht zu Gesicht bekommen. Nichts als Begeisterung, gesteigert durch das Bewußtsein erfüllter Pflicht, der nun ein doppelt angenehmes Ausruhen folgen konnte, da jedem Soldaten ein ganzer Rubel vom Zaren geschenkt worden war. Auch dem obersten Schiedsrichter, den Kommandeuren der beiden Armeen, sowie dem Chef des Kiewschen Militärbezirks Dragomiroff, auch dem des Odessaschen, dem Grafen Mussin Paschkin, war der Dank des Zaren erteilt worden.

Dragoner auf dem Marsch

Den ausländischen Militärattachés wird dieses gewaltige und wohlgelungene Kriegsspiel gewiß unvergeßlich bleiben, zumal es sie so mitten in das Zentrum Rußlands geführt hatte, ebensowohl auch dem Schah von Persien, der allerdings erst nach den Manövern eintraf, immerhin aber genug Manöverluft bei der ihm zu Ehren abgehaltenen Parade zu atmen bekam.

Dieser Artikel von H. Rast erschien zuerst am 11.10.1902 in Die Woche.