Die Stelzenläufer der Gascogne

Die Besucher der Pariser Weltausstellung, die die Gelegenheit benutzen, den schönen Süden Frankreichs kennen zu lernen, werden sich nicht wundern, wenn die Gascogner sich einbilden, mehr zu sein als andere Menschen.

Sie haben nämlich Lebensewohnheiten, die in ihnen etwas vom Bewußtsein des Uebermenschen erzeugen müssen. Bis heute hat sich die Gewohnheit des Stelzengehens in der Landschaft „Les Landes“ erhalten.

Schafhüter auf Stelzen in der Gascogne

Auf die Weideplätze lassen die Bauern des Landes ihre Schafherden treiben, und die Schäfer, die alten und jungen Männer und Frauen beutzen auf den weiten, holperigen, sumpfigen Strecken die Siebenmeilenstiefel der Stelzen (vergl. obenstehende Abb.). Auch der Landbriefträger kürzt den weiten Weg von Dorf zu Dorf, der keineswegs mit dem Zweirad befahrbar ist, durch Benutzung der Stelzen, wie das nebenstehende Bild zeigt. Nur an der Küste sind die Stelzen unverwendbar, weil sie im Dünensand versinken. Die meisten dieser Stelzen sind sechs bis sieben Fuß hoch und haben in der Höhe von fünf Fuß einen Tritt als Stütze des Fußes. Für Kinder und Frauen ist dieser Tritt niedriger angebracht. Ein ebenso hoher Stock dient den Hirten als Hirtenstab, aber auch, gegen den Rücken gelehnt, als Stuhl bei der Nacht. Die seit Jahrhunderten überkommene Gewöhnung hat die Benutzung der Stelze zu einer wahren Kunstfertigkeit ausgebildet, so daß die Leute Blumen pflücken, Gegenstände vom Boden aufheben, ohne von der Stelze, an die der Fuß mit Riemen angeschnallt ist, abzusteigen.

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Bei ländlichen Festen spielen Wett- und Kunstläufe auf Stelzen eine Hauptrolle. Im Mittelalter ging die Benutzung der Stelze von der Gascogne durchs Burgunderland bis hinauf nach Belgien. Heute besteht sie nur noch in „Les Landes“, und noch Napoleon I sah bei seinem Einzug in Namur Kampfspiele auf Stelzen, die der Magistrat ihm zu Ehren veranstaltete. Diese Kampfspiele wurden seither, da es fast regelmäßig Tote und Schwerverwundete dabei absetzte, verboten.

Landbriefträger in der Gascogne

Hingegen ist, wie schon erwähnt, die Benutzung der Stelze in der ganzen bäuerlichen Bevölkerung des Landes heimisch geblieben. Sonntags zum Kirchgang in das entlegene Kirchdorf wandern ganze Familien von den Großeltern bis zum Enkel, das Gebetbuch in der Hand, auf Stelzen über die Heide. Auf Stelzen giebt der Bursche seiner Schönen das Geleit auf dem Heimweg, und auf Stelzen laufen, hüpfen jahraus, jahrein von entlegenen Gehöften die Kinder zur Schule. Und da sollen sich die Leute nicht wie Riesen vorkommen gegen die kleinen Menschen, die auf ihren eigenen Füßen gehen!

Dieser Artikel erschien zuerst 1900 in Die Woche.