Fahrend Volk

Drahtseilakt der Schwestern O’Meers

Ganz abseits von der Heerstraße des alltäglichen Lebens liegt die Welt des internationalen Artistentums, die vom traumhaften Duft wilder, gesättigter Zigeunerromantik umrauschte Welt der „Vagabunden“. Fremdes, Ungewöhnliches ist es, das uns in ihnen entgegentritt; ganz andre Menschen scheinen sie zu sein, diese „Gaukler“ und „pauvres Saltimbanques, wie sie sich heute noch in ihrem stolzen Sinn nennen, dies „fahrend Volk“, das heimatlos über die Erde irrt, ruhelos und unstet.

Wohl hat die moderne Technik, die mit Dampf und Elektrizität Kultur schafft, Gegensätze ausgleicht, Grenzen verwischt und Völker verbrüdert, ein gut Teil des poesievollen Zaubers, der an dem Wohn- und Wanderwagen des Artistentums, an der Maringotte, haftete, vernichtet; wohl hat diese Kultur das innig Stille und romantisch Geheimnisvolle der Bankisten erbarmungslos zermalmt – im Wesen des Artistentums selbst aber hat sich nichts verändert; das merkwürdige Völkchen hat sich nur entwickelt. Die grünangestrichene Maringotte, die in Sonnenbrand und Wettersturm die Landstraße entlang zog, von Dorf zu Dorf, von Markt zu Markt, ist verschwunden. Der moderne Artist, den teure Kontrakte bald nach Petersburg, bald nach Rom, von Wien nach Madrid, von Berlin nach Newyork und San Francisco, bald nach Budapest und dann nach Stockholm oder Christiania rufen, reist heute im bequemen Waggon des D-Zuges; er arbeitet auch nicht mehr als „Publik-spieler“ auf dem mit Stricken abgegrenzten Raum des Meßplatzes, wo er nach seiner Produktion mit dem Sinnteller in der Hand „absammeln“ gehn mußte. Man baut ihm heute große, elektrisch beleuchtete Bühnen in vornehmen, palastähnlichen Theatern. Auch ist er längst nicht mehr der verachtete Paria der Gesellschaft; ein Zug bürgerlicher Gleichheit verbindet ihn mit uns; wir anerkennen seine Kunstfertigkeit und zollen ihm gern den wohlverdienten Beifall.

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Woher das Artistentum stammen mag und wie es sich aus seinen Uranfängen allmählich entwickelt hat, diese Frage wird schwerlich je gründlich beantwortet werden können. Wir wissen nur, daß das klassische Altertum bereits Artisten kannte, dem gab sowohl in Hellas wie in Rom Ringkämpfer und Tierbändiger, Diskuswerfer und Springer von Beruf, wie es solches Volk übrigens viel früher schon bei den Aegyptern, Juden und den noch viel älteren Chinesen gegeben haben soll. Bei uns in Deutschland tauchten sie, wie in Mitteleuropa überhaupt, erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts auf. Seitdem lassen sich erst selbständige Spuren der wandernden „Seiltänzer“ nachweisen.

Der Begriff Seiltänzer war der Sammelname für allerhand Artistenvolk; wenn in der Stadt oder im Dorf der Ruf laut wurde: „Seiltänzer kommen“, dann hieße gleich: „Sperrt Thüren und Kasten, versorgt die Wäsche auf den Boden!“ So wurden die Vaganten behandelt: als Parias der menschlichen Gesellschaft!

Kunstradfahrertruppe Kaufmann auf dem Zweirad

Nach und nach schwinden diese Seiltänzer und ihre Stelle tritt die „englische Reiterei“, der Uranfang unseres modernen Zirkuswesens. Publikspieler waren sie alle, wie man sie übrigens auch heute noch recht sporadisch auf dem flachen Land, auf fernen Meßplätzen finden kann. „Halbseide“ nennt sie der echte Artist, vergißt aber dabei, daß unsere besten und größten Artisten just aus Publik-spielern hervorgegangen sind, daß grade diese jene bekannten Artistendynastien begründet haben, auf die heute das ganze fahrend Volk mit Stolz und Verehrung blickt.

Handstandkünstler de Mora auf zwei Stühlen
Lantini, jongliert mit Hut, Handschuhen, Schirm und Zigarre
Schlangenmensch Adonis in einarmigem Handstand

Aus der englischen Reiterei, deren Direktoren bis vor nicht allzulanger Seit sich noch „Prinzipale“ nannten, entstanden die Tentzirkusse, und aus diesen erblühte schließlich, dank dem für das Zirkuswesen leider zu früh verstorbenen „alten“ Renz, unsere vornehme, gediegene Zirkuskunst. Renz ist der Schöpfer der modernen circensischen Spiele, wie er allen seinen Nachfolgern den Weg gewiesen hat.

Viel rascher und nachhaltiger als der Zirkus entwickelte sich das Variété, das heute in allen Großstädten eine Rolle spielt. Es ist der Typus des ewig Wechselvollen, Unruhigen und Bizarren, der Typus des Unmöglichen und der Sensation, der geistreichen Tollheit und der leichten Reizungen.

Polo auf dem Rad, ausgeführt von der Kunstradgruppe Kaufmann

So bietet es uns Tausenderlei, und weil es uns so viel des Sehenswerten bietet, das man beim Bierglas, bei der Zigarre und im Gespräch mit dem Freund genießen kann, wird es viel besucht. Kein Städtchen ist so klein, daß es nicht sein Variété, seine Spezialitätenbühne hätte. Darum auch von Jahr zu Jahr die sich steigernde Nachfrage nach Artisten; man will immer wieder etwas Neues sehen. Hand in Hand geht aber damit das Steigern der Gagen, die die Artisten beziehen, wodurch wiederum viele bürgerliche Elemente angezogen werden, dem Artistentum beizutreten. Heute, wo bereits berühmte Bühnengrößen ohne Scheu das „Brettl“ betreten, ist es auch thatsächlich nichts Absonderliches mehr, von einer allgemeinen Verbürgerlichung des Artistenstandes zu sprechen.

In gleichem Maß hat sich das Wirkungsfeld der Artisten bedeutend erweitert; unsere Illustrationen zeigen uns einzelne Zweige sehr interessanter artistischer Darbietungen, wie sie auf keinem modernen Variétéprogramm unserer Großstädte fehlen dürfen. Neben dem Jongleur finden wir den Kautschukmann, neben dem Handstandkünstler die Kopfequilibristen, neben dem Fußkünstler den akrobatischen Athleten und die Seiltänzerin, neben der Sandmalerin die Flachturner u. s. w. In dem Initiale „G“ unseres Artikels (S. 466) sehen wir die reizenden Schwestern O’Meers, deren Tanzseilakt viele Jahre hindurch das Entzücken eines jeden Kenners artistischer Kunst bildete. Grade diese Sisters O’Meers gehören wie Adonis (Abb. oben) oder Paul Spadoni (Seite 469) oder de Henau (Seite 466) zu den bekannten „Spezialitäten“, zu den Größen ihrer Kunst.

Spadonis zahnathletischer Akt im freien Handstand mit seiner Schwester Agnes

Wie auf jedem Gebiet giebt’s nämlich auch in der Artistik Berühmtheiten. die durch ihre vollendeten Leistungen wie durch die Neuartigkeit ihrer Darbietungen sich zu Anerkennung und hoher Gage emporgeschwungen haben. So weiß heute auch das Publikum bereits, daß Sylvester Schäffer z. B. wohl die beste Turnertruppe stellt, die es zur Zeit giebt; ihre ikarischen Spiele sind in ihrer Art einzig, genau wie man Cinquevalli und Kara als die besten Jongleure, die Pantzers als die besten head-at-heat-Künstler, Lina Pantzer als die beste Seiltänzerin, O. K. Sato als den besten Trampjuggler, Kaufmann als den hervoragendsten Fahrradkünstler, die Hegelmanns als die tüchtigsten Luftkünstler, Amann als den glänzendsten Mimiker u. s. w. bezeichnen muß. Mit diesen wenigen Namen ist die Liste der Koryphäen natürlich noch lange nicht erschöpft; wir müßten sonst noch die Antipodin Susanne Schäffer, den Jongleur Severus und den athletischen Sportsman Sebaldus Schäffer, den Bicyklisten French, die Reckkünstler Luppu, die Luftgymnastiker Wortley, die Akrobaten Wille, die drei Meteors und eine fast endlose Reihe noch vieler anderer nennen, für die der Raum dieses Artikel bei weitem nicht ausreichen würde

Der wirkliche, echte Artist, der seinen Leib in das straffe Trikot zwängt und durch die Lüfte sausen läßt, der bei seinen Produktionen seine Knochen zu Markt trägt, muß zu diesen halsbrecherischen Künsten sozusagen geboren werden. Schon sehr früh, im zartesten Alter beginnt unter Leitung des fachmännischen Lehrherrn, meistenteils unter Leitung des Vaters, der selbst Artist ist, die Ausbildung. Vor allem müssen die Muskeln gestärkt, die Sehnen geschmeidig gemacht werden.

Teresia Rombello mit ihren Bildern aus verschiedenfarbigem Sand

Das A-B-C des Artisten ist daher etwas Vor- und Rückwärtskautschuk (Beuge), das Saltospringen (nach vorn und rückwärts, mit und ohne Anlauf, vom Boden und vom erhöhten Standpunkt), Flick-Flack und Handstand. Im Lauf der Lehrzeit zeigt sich dann die eigentliche Eignung des Lernenden.

Als richtiges Artistenkind lernt er aber nebenbei auch verschiedene andere Kunstfertigkeiten, wie z. B. Jonglieren, Leiterarbeit, Clown, Kopfstände, Ringe, Trapez und Reck.

Akrobaten Willy Halley und Sohn

Diese Vielseitigkeit findet man am ehesten im Zirkus, wo noch das wahre Artistentum so recht zu Hause ist. Hier gedeiht jene artistische Kunst und jenes Artistenleben, die noch zähe an der Ueberlieferung halten; hier gedeiht noch auf dem geharkten Boden der Arena jenes treue, warmherzige Vagantentum, das ein Schimmer der alten zigeunerischen Romantik umgiebt.

Der Zirkus ist auf diese seine strenge Abgeschlossenheit stolz. Im Umkreis der Piste, im Bann der Chambriere steht nur jene artistische Kunstfertigkeit, die dem Individuum angeboren sein muß; der echte Zirkuskünstler wird sich auch deshalb auf den Brettern des Variétés nie so recht wohl fühlen, trotzdem er hier meistens bedeutend höhere Gagen erzielt.

Der armlose Fußmaler V. de Henau

Ein leuchtendes Beispiel hierfür bot uns der erst kürzlich heimgegangene, unvergleichliche Tom Belling, der Schöpfer des „dummen August“. Von Haus Panneau- und Stehend-Reiter, vertauschte er bald diese Arbeit mit der des Clowns; freilich ist er nur durch Zufall dazu gekommen, gerade als „August“ sich Anerkennung und Bedeutung zu verschaffen. Allein solange er seine Tollheiten in der manege treiben konnte, solange er den geharkten Boden unter den Füßen spürte stand er auf der Höhe seiner Kunst und seines Glücks. Kaum verließ er aber den Zirkus, so begann auch sein Glücksstern zu verblassen; es ging mit ihm abwärts, und er konnte sich nicht mehr finden. Als hätte er den besten Teil seines Ich verloren, siechte er dahin, verzehrt von der unstillbaren Sehnsucht nach dem „Heidonc! En avant, Hoppla-Cousin“ des Zirkus!

Man hat mit ihm ein großes Talent der Manege begraben. Denn unstreitig war er es, der dem brutalen Clownwesen der „alten Schule“ den Garaus gemacht hat. Vor Belling beherrschte der ziemlich rohe englische Clown den Zirkus, der seine mehr oder minder gelungenen Witze dick auftrug und die Wirkung in den Scherzen der „Knockabouts“ suchte. Heut ist dieses Genre nahezu ganz geschwunden; Belling hatte es verfeinert und auf ein höheres Niveau gebracht, er hat dem Sprechclown ein ganz neues Gebiet eröffnet, das nach ihm von einem Olschansky, den Veldemanns, dem Gigerlclown Daniels u. v. a. Auf seine heutige Höhe gebracht wurde. Von den Knockabouts aber ist jetzt so gut wie nichts mehr zu sehen; die letzten und besten Vertreter dieses Faches waren die Amerikaner Mason und Dixon. Diese Firma hat sich aber vor Jahren aufgelöst; nur noch die zwei „Irish fellows“, Brothers Lang, stellen eine ähnliche Nummer, nachdem sie freilich auch schon sehr viel des Groben und Rohen abgelegt haben. Neben ihnen trifft man endlich noch die zwei Neger Brooks und Duncan, die ebenfalls diese überlaute Ohrfeigenkomik pflegen.

Freies Kopf-Equilibre der Brüder Thaler

„Wie viel verdienen alle diese Artisten des Variétés und Zirkus? werden sich nun wohl die meisten fragen. Eine bestimmte Norm für die Höhe der Gagen giebt es allerdings nicht, vielmehr richtet sich das Salär wie in jedem Beruf nach der Qualität der Leistung, dem Ansehen, das der betreffende Artist genießt, und nicht in letzter Linie auch nach den einzelnen Ländern und den verschiedenen Plätzen. Genau so, wie Amerika die höchsten, England die zweithöchsten Gagen zahlt, zahlt Berlin besser als etwa Essen a. R., zahlen Leipzig oder Hamburg mehr als Kiel und kleinere Städte.

Im ganzen und großen schwanken aber die Gagen zwischen 300 Mark und 10000 Mark monatlich, wobei es aber Artisten giebt, die ein noch höheres Salär erzielen. So erhält z. B. Sylvester Schäffer bei Direktor Moß in London 175 Pfund Sterling die Woche, d. h. 14000 Mark den Monat, wobei er vier freie Sonntage hat. Little Tich ist nicht unter 10000 Mark zu haben; der bekannte Humorist Otto Reutter kostet durchschnittlich 100 Mark den Abend u. s. w.

Wenn man nun glaubt, daß diese Künstler ihr im Grunde genommen leicht verdientes Geld ebenso leicht wieder los werden, irrt man sehr. Im Gegenteil! Es ist nichts Seltenes mehr, Variété· und Zirkuskünstler unter den Grundbesitzern angeführt zu sehen. Der mehrfach erwähnte Sylvester Schäffer hat sich in der Nähe von Berlin, in Groß-Köris, eine Wirtschaft angekauft, die er ganz methodisch bewirtschaftet. In seinem Herrenschloß aber liegen kostbare Kunstschätze aufgespeichert, die seinem feinen Geschmack ein beredtes Lob sprechen. Cinquevalli in London ist mehrfacher Hausbesitzer und Sammler von überaus seltenen Antiquitäten; Fregoli hat auf der Bank eine runde Million liegen und legt nebenbei viel Geld in Silber, kostbaren Bronzen und seltenen Kunstgegenständen an.

Die Artisten gehen eben mit der Zeit, sind durchaus moderne Menschen, die oft in wenigen Augenblicken das Zehnfache dessen verdienen, was ein Theaterkünstler, ein Sänger oder Schauspieler im Durchschnitt einnimmt.

Das Publikum endlich, das den Zirkus besucht, hat sich im Lauf der Jahre nun auch daran gewöhnt, hier wirkliche und gefällige Kunstfertigkeit in liebenswürdigem Rahmen zu suchen. So legt man das Hauptgewicht auf einen reich besetzten, guten Marstall, auf sportlich wertvolle Leistung der Freiheitspferde wie auf klassisch vornehme Schule, in der das Pferd in bester Sammlung und tadelloser Form vorgeführt wird. Dennn man hat es endlich erkannt, daß das Schulreiten, wie es ein Hager, Fillis, Footit-Burghardt und viele andere pflegten und pflegen, ebenso der Pferdezucht dienlich ist wie etwa jede andere sportliche Veranstaltung. Es zeigt uns das Tier, ob es nun ein Voll- oder Halbblut ist, ob es heute aus Lipizza oder Ostpreußen stammt, ob wir jetzt einen Trakehner oder Ungarn vor uns haben, in seiner äußersten Vollendung, die ein vernünftiges Zusammenziehen, Sammeln und Unterschieben der Hinterhand zuwege bringen können. Und über den allgemeinen Wert dieser Kunst braucht man wohl nicht erst viel Worte zu verlieren.

Dieser Artikel von Oskar Geller erschien zuerst 1900 in Die Woche.