Die Thürme des Domes zu Meissen

Seitdem der Vertrieb der Loose für die Lotterie zur Erneuerung des Meissner Dombaues in mehren deutschen Staaten genehmigt worden ist und somit dem „Meissner Dombau-Vereine“ Mittel zu umfassender Thätigkeit geboten sind, ist es wohl an der Zeit, sich über das dort zu Leistende in den Fachblättern zu äussern. Bisher liegt ausser einem Vortrage des Meissner Bildhauers Prof. Andresen über die beabsichtigten Arbeiten nur eingedrucktes Schreiben des inzwischen zu Gunsten des grösseren Vereins aufgelösten früheren lokalen „Meissner Dombau-Vereins“ an das Kapitel des Freien Hochstifts Meissen vom 25. April 1896 vor.

Dieses stellt als technische Aufgabe des Vereins die Versetzung der Grabplatten, die Erneuerung des Plattenbelages, die Erneuerung aller Fenster, die Neuherstellung des Daches und die Vollendung der Thürme hin. Namentlich die letztere wird eingehender befürwortet. Ueber die Thurmbaufrage heisst es in jenem freilich für den neuen Verein nicht mehr maassgebenden Schreiben:

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„Bei Beurtheilung der Thurmbaufrage darf der geschichtliche Sachverhalt nicht ausseracht gelassen werden. An der Nordseite des Domes ist der Unterbau für einen Thurm, der das Seitenstück zu dem sogenannten höckerigen Thurme bildet, vorhanden. Dass die westliche Hauptfassade darauf angelegt ist, mit zwei Thürmen abzuschliessen, darüber lässt ihre architektonische Gliederung, wie auch die im vorigen Jahre ermittelte Stärke ihrer Fundamente keinen Zweifel aufkommen. Auch dass diese Thürme im 15. Jahrhundert bereits ausgeführt oder wenigstens im Bau begriffen waren, kann als feststehend betrachtet werden. Aus einem bischöflichen Aufruf zu milden Beiträgen für den Dombau vom 16. Oktober 1413 erfahren wir, dass kurz vorher durch einen gewaltigen Sturm an den Thürmen, dem Dach und den Fenstern des Domes schwere Schäden angerichtet worden waren. Die Zahl der beschädigten Thürme ist nicht angegeben, aber man wird, da von mehren die Rede ist, vermuthen dürfen, dass mindestens die beiden Thürme der Westseite damit gemeint sind. Diese Hauptfassade hatte man eben erst im vergangenen Jahrzehnt mit grossem Kostenaufwande aufgeführt und diese Bauperiode war offenbar damals noch nicht abgeschlossen. Es kann sich daher hier nicht um provisorische Thürme handeln, denn solche pflegten doch nur dann errichtet zu werden, wenn nach längerem Stocken des Baues die Hoffnung aufgegeben werden musste, ihn zu vollenden. Man hat es vielmehr sicher schon mit massiven Thürmen zu thun, die vielleicht gerade deshalb, weil die Baugerüste noch standen, durch den Sturm herabgestürzt oder wenigstens so beschädigt wurden, dass sie abgetragen werden mussten.

Entwurf zu einem Ausbau der Thürme des Domes zu Meissen

Auf ihren Wiederaufbau hat man aber später aus Mangel an Mitteln verzichtet und anstatt ihrer leichte Interimsbauten errichtet. Die beiden Thurmstumpfe wurden mit niedrigen Ueberdachungen versehen und dazwischen ein hölzerner Thurm errichtet, der als Glockenthurm diente; damit stimmt der Umstand überein, dass die Oeffnungen für die Seile, mit denen man vom unteren Raume des Unterbaues aus die Glocken läutete, in der Mitte des Gewölbes angebracht sind. Diese Beschaffenheit der Westthürme wird auch durch die Berichte über den Brand bestätigt, durch den sie im Jahre 1547 zerstört wurden. Während nämlich eine im Thurmknopf der Stadtkirche aufgefundene Urkunde vom Jahre 1549 berichtet, ein Blitzschlag habe den Glockenthurm des Domes angezündet und mit diesem das ganze Dach in Brand gesetzt, schreibt der zeitgenössische Meissner Rektor Fabricius, der doch den richtigen Sachverhalt auch kennen musste, es seien drei Thürme abgebrannt. Der Widerspruch zwischen beiden Berichten ist aber nur ein scheinbarer. Auf der ältesten Ansicht der Stadt Meissen von Hiob Magdeburg aus dem Jahre 1558 ist noch die eine der erwähnten Ueberdachungen auf dem breiten Thurme sichtbar und die Stelle daneben als der infolge Blitzschlags abgebrannte Thurm bezeichnet. Offenbar hat Fabricius die niedrigen Ueberdachungen zu beiden Seiten des Glockenthurmes auch als Thürme betrachtet, der Bericht von 1549 dagegen ebenso wie das Bild Magdeburgs nur den mittleren als Thurm bezeichnet. So erklärt sich auf zwanglose Weise der befremdliche Umstand, dass von zwei durchaus glaubwürdigen zeitgenössischen Berichten der eine von einem, der andere von drei Thürmen spricht. – Ende des 17. Jahrhunderts wurde der ganze breite Thurm mit einem langen, schuppenartigen Gebäude überdacht und dieses um 1840 durch die jetzige Plattform mit Gallerie ersetzt“.

Dieser Darstellung des baugeschichtlichen Sachverhaltes muss als einer irrigen und leicht zu Missgriffen führenden entgegengetreten werden.

Den Fachmann wird ein Blick auf den breiten Thurm alsbald darüber aufklären, dass die Geschichte des Baues eine andere war, als wie sie hier aus den überaus lückenhaften urkundlichen Nachrichten konstruirt wurde. Er wird erkennen, dass zwar das erste Geschoss des breiten Thurmes seiner Architektur noch der böhmischen Schule des 14. Jahrhunderts verwandt ist und mithin sehr wohl vor 1413 entstanden sein kann, dass aber das zweite Geschoss in jedem Detail, in jedem Profil, wie in der Gesammtanordnung unverkennbar dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts angehört. Mithin handelt es sich bei einer Erneuerung der Thürme meines Ermessens um die Frage, ob man das obere Geschoss abtragen und an seine Stelle ein solches im Stil des beginnenden 15. Jahrhunderts aufsetzen, oder ob man es erhalten und in diesem Falle in einem Stil weiterbauen soll, der zum mindesten die Formen der Zeit nach 1480 und der spezifisch sächsischen Schule jener Zeit tragen müsste.

Ferner fällt hiermit die sehr gekünstelte Erklärung des Zwiespaltes zwischen den gleichzeitigen Berichten. Allem Anschein nach hat thatsächlich der Westthurm des Meissner Domes, wie jener des Domes und der Severinkirche zu Erfurt, der Nikolaikirche zu Leipzig, der Stadtkirchen zu Oederan und Mutzschen (und Ansbach in Franken) drei Spitzen gehabt, von welchen die mittlere höher geführt war und die Glocken trug, während ursprünglich, um 1400, zwei Eckthürme beabsichtigt gewesen zu sein scheinen. Ein solches Abweichen von dem ursprünglichen Plane ist bekanntlich eine im Mittelalter sehr häufig zu beobachtende Erscheinung.

Ein junger Dresdener Architekt, Hr. Arthur Fritzsche, hat sich wiederholt an der Lösung der Thurmbaufrage versucht. Auf meinen Hinweis ist auch er zu der Ueberzeugung gelangt, dass eine dreifache Spitze und dass der Renaissance sich bereits nähernde Formen der spätesten Gothik der Anlage den besten Abschluss geben würden In den Abbildungen erlaube ich mir, seinen geschickten Entwurf als Beitrag zu der Frage vorzulegen.

Dabei will ich keineswegs als meine Ansicht hinstellen, dass beim Mangel jeder sicheren Kenntniss über das ursprünglich Beabsichtigte mir es wünschenswerth erscheine, in das Bestehende durch Aenderungen oder Zuthaten einzugreifen, muss vielmehr auch diesem Versuche gegenüber meine schon mehrfach öffentlich ausgesprochene Ansicht wiederholen, dass ich zwar alles zur Erhaltung des herrlichen Dombaues Nöthige für im höchsten Grade unterstützungswürdig, bei Umgestaltungen aber die grösste Selbstbeschränkung für angezeigt halte.

Anmerkung der Redaktion. Wie wir hören, ist Geh. Brth, Dr. Meydenbauer vom Dombau-Verein beauftragt worden, den ganzen Dom im Messbild-Verfahren aufzunehmen; es wird diese Arbeit in den nächsten Wochen beginnen. Weiter vernehmen wir, dass seitens des Vereins die Hrn. v. Beyer in Ulm, Gabriel Seidl in München, Steinbrecht in Marienburg und Schäfer in Karlsruhe zur Abgabe eines mit Skizzen erläuterten Gutachtens aufgefordert sind, in welchem sie darlegen sollen, welche Anordnungen und Arbeiten am Dome vorzunehmen seien.

Es dürfte mithin für die von Gurlitt angeregte Besprechung der Dombaufrage, deren Ziel unverkennbar eine Klärung der Aufgabe des Vereins ist, jetzt die rechte Zeit zum Eingreifen sein, zumal, wie wir hören, die Ansichten über das zu Erstrebende im Dombau-Verein noch weit auseinander gehen. An Fachgenossen befinden sich im Vorstande des Dombau-Vereins:; Hfbrth. Dunger, die Geh. Brthe. Temper und Wallot und Hfrth. Gurlitt Sie bilden freilich dem Laienelemente gegenüber entschieden die Minderheit. –

Dieser Artikel von Cornelius Gurlitt erschien zuerst am 27.07.1898 in der Deutsche Bauzeitung.