Die Umgestaltung der Umgebung des Rathhauses und der Marktkirche zu Wiesbaden

Schon einmal ist an dieser Stelle über die Umgestaltungspläne eines Theiles der nachstehend behandelten Umgebung des Rathhauses und der Marktkirche zu Wiesbaden berichtet worden (vergl. „Vorschlag zur Bebauung des Dern’schen Geländes in Wiesbaden“, Jahrg. 1895, No. 47, S. 293-294).

Während es sich damals nur um die Bebauung und die Anlage eines neuen Marktplatzes südlich von den genannten beiden Bauwerken handelte, steht nunmehr auch die Umgestaltung des nördlich bezw. nordöstlich von denselben belegenen Gebietes und die Ausschmückung des Schlossplatzes infrage. Mein damaliger Vorschlag zur Bebauung des Dern’schen Geländes hat trotz wärmster Befürwortung seitens einiger Mitglieder des Stadtverordneten-Kollegiums, insbesondere der Fachgenossen unter denselben, Zustimmung nicht gefunden. Die Gründe hierfür sind zu finden einmal in der Neuheit der Idee, ferner darin, dass es bei vielen zur Gewohnheit geworden ist, die südlich vom Rathhaus seit vielen Jahren frei liegende Fläche als „Platz“ anzusehen, obgleich die Südfront des Rathhauses in Rücksicht auf den früher dieser Front gegenüber geplanten Theater-Neubau als Strassenfront erbaut ist. Glücklicherweise ist allerdings auch der andere s. Z. mitgetheilte Entwurf (Abbildg. 1 a. a. O.) seitens der städtischen Vertretung verworfen worden.

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In dem betreffenden Beschlusse wurde daran festgehalten, dass der jetzt auf dem Platze zwischen dem kgl. Schlosse, dem Rathhaus und der Kirche stattfindende Markt auf den neu anzulegenden Platz südlich von der Kirche verlegt und ein entsprechender Theil des zu bebauenden Geländes im städtischen Besitz verbleiben solle. Dies und der seitens der Stadtverordneten geäusserte Wunsch nach möglichster Freilassung der Südseite des Rathhauses waren nun bestimmend für die Ausgestaltung des südlichen Gebietes. Ich habe aber an der Idee, dem Ratbhause gegenüber einen aus der übrigen Flucht vorspringenden Bau zu errichten, festgehalten und diesen, um den „Platz-Freunden“ gerecht zu werden, dem Rathhause nur auf etwa 32 m genähert. Dieser 32 m breite Streifen soll mit doppelter Fahrbahn und einer mittleren gärtnerischen Anlage versehen werden, die in der Mitte durch einen Springbrunnen unterbrochen und an beiden Enden durch zwei pavillonartige Verkaufsballen für Blumen und Obst abgeschlossen ist. So wird die Geschlossenheit des neuen Marktplatzes noch einigermaassen gewahrt, wenn auch der Ausgang nach der Marktstrasse aus einer einflügeligen Thür zu einem zweiflügeligen Thor geworden ist.

Umgestaltung der Umgebung des Rathhauses und der Marktkirche zu Wiesbaden – Lageplan

Bei der Einschränkung des Vorsprunges musste natürlich auch die Passage fallen. Die Entscheidung darüber, ob ein Theil oder die ganze Baustelle stadtseitig bebaut werden wird, steht noch aus. Es steht aber zu erwarten, dass die Stadt mindestens einen Theil zurückbehält, um Verwaltungsräume zur Entlastung des alsbald ganz besetzten Rathhauses oder Räume zur Unterbringung von Sammlungen dort zu erbauen.

Neuerdings hat namentlich der letztere Gedanke an Gestalt gewonnen und es ist vorgeschlagen worden, die Fläche, auf der die durch den Neubau des Gerichtshauses im nächsten Jahre frei werdenden alten Gerichtsgebäude stehen, mit der dem Rathhaus gegenüber liegenden Fläche zu vereinigen und auf dem so gewonnenen Bauplatz von etwa 85 m Länge und 50 m mittlerer Breite einen Neubau für die in einem alten Gebäude an der Wilhelmstrasse jammervoll untergebrachten Sammlungen: die königl. Gemäldegallerie, die Sammlungen des Nass. Alterthumsvereins, die naturhistorischen Sammlungen des Nass. Vereins für Landeskunde und die Landesbibliothek zu errichten.

Der Marktplatz soll nach der Kirche zu mit freien gärtnerischen Anlagen abgeschlossen werden. An der hier leicht geschwungenen Begrenzungskante der eigentlichen Platzfläche ist die Aufstellung eines Marktbrunnens in Aussicht genommen.

Umgestaltung der Umgebung des Rathhauses und der Marktkirche zu Wiesbaden

Es ist ferner beabsichtigt, den Markt mit leicht transportablen Bedachungen zu versehen, die nur, wenn die Witterung es erfordert, zu den Verkaufsstunden aufgestellt und nach Beendigung derselben wieder abgelegt werden sollen. Zur Aufbewahrung dieser aus Eisen und Leinwand herzustellenden Bedachungen wird der Marktplatz theilweise unterkellert. In diesen Kellern würden ausserdem die nicht verkauften Marktwaaren (Gemüse, Früchte u. dergl.) aufzubewahren sein, die gegenwärtig von den Händlern in benachbarten Häusern untergestellt werden. Schliesslich sollen in denselben Aborte für die Marktbesucher angelegt werden. Die Kellerräume werden mit dem Marktplatz durch Treppen und Aufzüge verbunden. In den Anlagen an der Kirche wird ein Pavillon errichtet, in dem die Accisenverwaltung ihr Marktbüreau erhält. Die dort bereits bestehende Bedürfnissanstalt wird durch den Pavillon und entsprechende Anpflanzungen den Blicken angemessen entzogen.

Wenden wir uns nun zu dem nördlich und nordöstlich von der Marktkirche gelegenen Gebiet, so finden wir hier den Rest jener alten Gebäude, die mit Gärten, Holzlagerplätzen und dergl.

untermischt früher den ganzen inrede stehenden Stadttheil bedeckten und mit deren Beseitigung bei Erbauung der Marktkirche in den fünfziger Jahren begonnen wurde. Ein weiterer Theil fiel in den achtziger Jahren, um dem Rathhause Platz zu machen und der Rest jenes Gerümpels wird voraussichtlich vor Ablauf des Jahrhunderts, vielleicht schon im nächsten Jahre vom Erdboden verschwinden. In dem beigegebenen Lageplan sind diese heute noch vorhandenen alten Baulichkeiten mit punktirten Linien angegeben.

Einen wesentlichen Anstoss, die wenig erfreulichen Zustände an diesem hervorragenden Punkte der Stadtmitte, gegenüber dem Königlichen Schlosse und der Wilhelms-Heilanstalt, der hochherzigen Stiftung des Kaiser Wilhelm I., sowie in unmittelbarer Nähe der Marktkirche (evangel. Hauptkirche) und des Rathhauses zu beseitigen, giebt jetzt der Neubau einer höheren Töchterschule; denn dieser kann nicht wohl anders als möglichst in der Mitte der Stadt in Aussicht genommen werden und hier ist nur noch diese eine ausreichend grosse Baustelle verfügbar. Das hier zu errichtende Gebäude wird sich nicht wie das zwischen den freien Plätzen liegende Rathhaus in mächtiger Baumasse mit einer breit entwickelten Hauptfront einfügen dürfen, sondern die Rücksicht auf die Erhaltung des Schlossplatzes in entsprechender Ausdehnung nöthigt, den Neubau mehr als Wandung des Platzes zu behandeln. Aus dieser Erwägung ist die eigenartige Form mit dem einspringenden rechten Winkel entstanden. Dieselbe hat übrigens zu einer durchaus zweckmässigen Grundrissanordnung geführt, indem der Haupteingang und die Haupttreppe in die Spitze des rechten Winkels gelegt worden sind. Von hier aus durchzieht die beiden Flügel je ein Korridor, die den Verkehr zu den Schulräumen vermitteln. Im II. Obergeschoss des dem Wilhelmstift gegenüberliegenden Flügelendes ist die Aula untergebracht, um hier einen kräftigen und hervorragenden Abschluss des Gebäudes zu erzielen; während der andere Flügel sich ziemlich dicht an die Marktkirche anlehnt und mit derselben durch eine überdeckte Thorfahrt verbunden ist. In das Erdgeschoss sind auf der einspringenden Seite, dem Schlossplatze zu, Arkaden eingebaut, die einestheils dem Platze zur Zierde gereichen sollen, aber auch den praktischen Zweck haben, den Schülerinnen bei schlechtem Wetter als trockene Wandelbahn zu dienen. In der Spitze des Winkels kommt die dort befindliche Treppe als Thurm zum äusseren Ausdruck.

Die umstehende perspektivische Ansichtskizze giebt ein flüchtiges Bild der zukünftigen Platzwirkung. An der verlängerten Delaspéestrasse ist ein Dienstwohngebäude für den Direktor und den Pedell der Töchterschule geplant.

Nach Verlegung des Marktverkehrs auf den neuen Marktplatz wird der Schlossplatz mit gärtnerischen Anlagen versehen werden; vielleicht findet auch eines der Denkmale, die demnächst hier errichtet werden sollen, dort seine Aufstellung. In dem Lageplan ist dies berücksichtigt und eine Stelle in der Mittelaxe der Marktkirche hierfür in Aussicht genommen. Da dies Denkmal somit wesentlich aus der Platzmitte, dem Rathhaus zu, verschoben wäre, so ist in der Diagonalaxe vor dem Töchterschulneubau als weiterer Schmuck der Platzfläche ein Springbrunnen vorgesehen.

Allem Anscheine nach wird alsbald mit der Durchführung dieser Pläne vorgegangen werden. Die einleitenden Schritte hierzu sind bereits gethan und man ist dem ganzen Plane in den maassgebenden Kreisen wie in der Bürgerschaft wohlgesinnt, so dass voraussichtlich in wenigen Jahren die Stadt Wiesbaden in ihrem Zentrum eine mit einer Reihe hervorragender Monumentalbauten und prächtigen Privatbauten umstellte Platzgruppe besitzen wird, die sich in ihrer malerischen Gestaltung und in dem Wechsel ihrer Bilder ähnlichen Anlagen des Mittelalters und der Renaissance würdig an die Seite stellen darf.

Wir freuen uns, mittheilen zu können, dass mittlerweile in der Sitzung der Stadtverordneten vom 26. Juni d. J. der fragliche Entwurf zum Neubau der Töchterschule genehmigt und damit die Ausführung des schönen Plans, durch welchen Wiesbaden einen monumentalen Platz ersten Ranges erhält, gesichert ist, D. Red.

Wiesbaden im Mai 1896. Felix Genzmer.

Dieser Artikel erschien zuerst am 15.07.1896 in der Deutsche Bauzeitung.