Zu den winterlichen Großstadtbildern der Weihnachtszeit, die mit jedem Jahr als Begleiterscheinung des herannahenden Festes aufzutauchen pflegen, gehören jene Spielzeugausstellungen auf dem Straßenpflaster, die abend- bei schwankenden Laternenlicht wie ein Stück kindlicher Märchenwelt neben dem Vorübergehenden auftauchen.
Auf dem grauen Asphalt stehen oder rollen oder tanzen die sonderbarsten blechernen Figuren mit schnarrendem Mechanismus, die wie kleine Armeen dicht an den großen Verkehrsadern aufgereiht sind, vom Anpreisen der Verkäufer und dem Rasseln der Straßenbahnen unaufhörlich übertönt. Ueber diesen primitiven Verkaufsständen liegt etwas von der Poesie kleinstädtischer Jahrmärkte man denkt unwillkürlich an „Pole Poppenspäler“ oder an Andersens Märchen, in denen auch die Zinnsoldaten und kleine Schäferinnen so unvermutet anfangen zu tanzen und herumzukreiseln. Wie lauter winzige Lebewesen schnurren sie an einem vorüber – und selbst der Eiligste wirft einen verlorenen Blick auf das sonderbare Gemisch von Blech und Phantasie, auf diese billige kleine Welt, in der sich sogar die Zeitgeschichte spiegeln und die Errungenschaften der Technik und Industrie.
Unaufhörlich kreisen hier die Automobile um die Rutschbahnen und die Taxameterdroschken um die kleinen Dampfer – und der japanische Soldat tanzt gleichberechtigt neben dem Berliner Schutzmann über das Pflaster – das Bedürfnis nach dem Aktuellen, das überhaupt in Weltstädten eine größere Rolle spielt als in den kleinen Nestern abseits vom Weg, wird auch der jüngsten Jugend Berlins wie etwas Selbstverständliches zugebilligt – die große Politik schlägt ihre kleinen Wellen bis hierher und der dreijährige Junge, dessen Händchen sich noch erfolglos bemühen, einen Kreisel richtig in Bewegung zu setzen, spricht doch schon wie von einem nahen Verwandten von den Augenblicksgrößen, die irgendein Zufall oder ein Schicksal zu momentaner Berühmtheit aufgeputscht hat, und die als buntes Spielzeug sehr überzeugend in sein kleines Dasein treten.
Aber nicht nur in dies Straßenspielzeug, das unter freiem Himmel angeboten wird – auch in die großen, vornehmen Läden dringen solche Reflexe der Zeitgeschichte, ins harmlos Heitere der kindlichen Anschauung übersetzt. Japan, diese große Fundgrube der Ueberraschungen, liefert auch hier unendlichen Stoff. Seine Pagoden und Kirschbäume steigen seltsam und exotisch aus den Baukästen empor, und der magere, schlitzäugige Krieger handhabt kunstgerecht das europäische Gewehr. Und das Gelbe Meer, auf dem russische und japanische Dampfer kämpfen, ist der jüngsten Generation heut zutage so gebräuchlich, ein so ganz natürlicher Begriff, als wenn es mindestens bei Köpenick läge.
Port Arthur, dieser so tragisch gewordene Name, ist im Augenblick das Ideal der Weihnachtsfestung, und der Russe, der zu Pferd mit dem Gegner kämpft, steht höher im Kurs als Preußens ganze Kavallerie. Die Spielzeugindustrie, die ebenso auf der Jagd nach neuen, verschmitzten Tricks ist wie alle Gebiete der Konfektion, schwelgt geradezu in asiatischen Motiven.
Der Leuchtturm, der aus fernen Meeren steigt, das Torpedoboot mit seiner seltsamen fast unwahrscheinlichen Konstruktion, der vermummte Taucher, der den Schrecken der Wassertiefen nachspürt – all diese aufregenden Dinge und Erscheinungen drängen sich in den großen Läden als erfrischender Kontrast zwischen die her gebrachten, altgewohnten Kinderstubenideale, die neben ihnen wie Eingeborene neben Exoten erscheinen.
Zwischen dem Geschwader von Wladiwostok, über den langen Schiffgespenstern der Torpedos lächeln die reizendsten Puppen immer noch, Idealgeschöpfe in Wachs, deren Locken goldig und weich wie wirkliche Kinderlocken über raffinierte Spitzenkleider rieseln – von denen einige sogar nicht einmal stereotyp, sondern ganz individuell lächeln – Kinder einer verfeinerten Kultur, die sie sind.
Aber daß allzu vollkommene Schönheit langweilig werden kann, scheinen heutzutage auch die Kinder schon zu wissen. Sie verlangen auch an den Puppen neue Tricks – Puppen in japanischer Tracht, schlitzäugig, mit einem feinen Lächeln um die schmalen Lippen, Geishas mit Goldschmuck im Haar – kleine Puppenmänner mit korrekten Paletots und Jockeimützen – Puppenehepaare, die Automobile besitzen und ganz tadellos dafür angezogen sind mit Schutzbrillen und Mützenkappen.
Wer durch die großen Spielwarenläden wandert, bekommt das Gefühl, als hätte sich die kindliche Phantasie heute gar nicht mehr anzustrengen; wie man gewisse Sachen früher in unwahrscheinlichen Träumen sah, so stehen sie jetzt in Wirklichkeit fertig in den Fächern – und der erwachsene Mensch, der an das Spielzeug zurückdenkt, das einst seine Seligkeit gewesen, der kommt sich dann plötzlich retrospektiv rührend bescheiden vor! Er denkt an die unanatomischen Puppenbälger von einst, an denen er mit der ganzen Zärtlichkeit erster Gefühle gehangen, an die mit Häcksel gefüllten Ungeheuer, an die Wasserköpfe aus Porzellan, die derb und roh bemalt waren und runde Augen hatten, schwarz wie Heidelbeeren oder Stiefelknöpfe, an die Soldaten, die wie kleine Karikaturen in den Holzschachteln lagen mit roten Franzosenröcken und den Farben preußischer Uniformen, die immer den großen Krieg von Siebzig wieder ausfochten und vom ewigen Nimbus der beiden Zauberformeln Gravelotte und Sedan glorreich umstrahlt waren.
Nun steht das Weihnachtsspielzeug unter dem Zeichen asiatischer Invasion – und vom Spielzeug führt der Weg zu den Attrappen, jenen suggestiven Gegenständen, die so oft mit Schokolade gefüllt sind, und die sehr kleinen Kindern den Standpunkt zu verschieben pflegen und sie zu falscher Logik verleiten. Das verwöhnte Kind des zwanzigsten Jahrhunderts sieht nur zu oft das Spielzeug unter dem Gesichtswinkel der Altrappe an und ist manchmal schwer enttäuscht, wenn es einen Hund geschenkt bekommt, dem der Kopf nicht abzudrehen ist, oder einen Osterhasen, dem bei näherer Besichtigung keine Schokolade entrollt – ja, wenn du ihm einen blechernen Schutzmann von dem Straßenpflaster kaufst, wird es ihm hoffnungsfreudig den Kopf abzureißen suchen im Glauben an einen süßen Inhalt. Es kennt gefüllte Taxameter, gefüllte Wickelkinder, gefüllte Automobile, gefüllte Japaner – kein Wunder, wenn es sich im ersten Lebensoptimismus die ganze Welt in ähnlicher Weise recht angenehm gefüllt vorstellt.
Es wird soviel heutzutage von der Kunst im Leben des Kindes geredet – man sollte auch einmal in allem Ernst daran denken, von der allzu vielen Schokolade im Leben des Kindes zu reden.
Lieber mehr Kunst und weniger Schokolade! Das wäre besser.
Diese Attrappen haben etwas Nichtssagendes, während ein gutes und vernünftiges Kinderspiel zeug seinen erziehlichen Wert hat und – sobald es Zeitereignissen seine Entstehung verdankt schon die kleinsten Besitzer politisch und geographisch ein wenig zu bilden vermag. Sie lernen so in ihrer Weise etwas von der großen Welt und ihrem Geschehen, das im Spielzeug einen der Kindesseele angepaßten sinnfälligen Ausdruck gefunden hat.
Welchem Kind, das halbwegs „geweckt“ ist, wie man zu sagen pflegt, drängen sich nicht unzählige Fragen von den Lippen, wenn die kleine Eisenbahn durchs Zimmer rollt, wenn das buntbewimpelte Kriegsschiff sich auf den Fluten in der Badewanne schaufelt? Hierbei hat man die beste Gelegenheit, die erwachenden Neigungen des Kindes zu beobachten und weiterzuentwickeln.
Dieser Artikel erschien zuerst 1904 in Die Woche.