Fünfundzwanzig Jahre Berliner Ferienkolonien

1904 – Die Rückkehr der letzten Berliner Ferienkolonie in diesem Sommer war von besonderer Bedeutung. Sie bildete nicht nur den Abschluß des letzten Jahres, sondern zugleich den Abschluß einer fünfundzwanzigjährigen Wirksamkeit der Berliner Ferienkolonien.

Im Jahr 1878 wurde unter Anregung und tatkräftiger Förderung der Kaiserin Friedrich, der damaligen Kronprinzessin, ein Verein ins Leben gerufen unter dem Namen Berliner Verein für häusliche Gesundheitspflege”, der sich die Aufgabe stellte, in den Kreisen unserer ärmeren Bevölkerung eine Verbesserung der Lebensverhältnisse, vorzugsweise nach hygienischer Seite, zu erzielen. Unter Führung von Männern wie Staatssekretär Herzog, Staatsminister Dr. Falk vereinigte sich eine größere Anzahl volksfreundlicher Männer und Frauen, um die Förderung der Gesundheitspflege in den Familien durch Verbreitung wichtiger Kenntnisse und praktischer Veranstaltungen auf volkserziehlichem Gebiet zu fördern.

Besonderes Gewicht legte man auf die Mitarbeit tatkräftiger Frauen, die damals in dieser Weise in Berlin noch wenig beachtet war. Es konnte daher nicht ausbleiben, daß das Interesse der Frauen sich bei ihren Besuchen besonders den Kindern zuwenden mußte, die unter der Ungunst der Verhältnisse, schlechter Ernährung, Mangel an Luft und Licht am meisten zu leiden hatten. Man beschaffte ärztlichen Rat und Pflege, gründete Milchversorgungsanstalten, Kinderbewahranstalten und anderes. Diese Fürsorge betraf zunächst die Kinder des vorschulpflichtigen Alters. Den Schulkindern, die nur zu oft den geistigen Anforderungen nicht gewachsen waren, konnte man verhältnismäßig wenig beikommen, und doch tat es hier ganz besonders not, eingreifend zu helfen.

Mit großer Begeisterung schloß man sich überall der von Pfarrer Bion in Zürich ausgehenden Bewegung zugunsten der Ferienkolonien an. Im Frühjahr 1880 wurde daher beschlossen, ein besonderes Subkomitee des genannten Vereins zu bilden, das sich nur mit der Fürsorge für Ferienkolonien zu beschäftigen habe. Kaiser und Kaiserin Friedrich stellten den ersten größeren Beitrag zur Verfügung, während die Kaiserin inzwischen auch das Protektorat über den Verein wie über dessen neuen Zweig übernommen hatte. Eine weitere Sammlung ergab 8000 Mark, und sofort wurde im Sommer I880 mit der ersten Aussendung von los Kindern begonnen.

Die leitenden Grundsätze bei der Auswahl der Kinder, die in unwesentlich veränderter Form noch heute bestehen, waren; eine schwache, aber nicht direkt kranke Konstitution, Bedürftigkeit und Würdigkeit der Eltern, Fleiß und gutes Betragen des Kindes. Die Absicht war nicht eine Verwöhnung, eine Zerstreuung oder angenehme Abwechslung, sondern die gesundheitliche Behandlung krankhaft körperlicher Zustände unter der sorgfältigen Aufsicht eines Erwachsenen, zugleich aber auch die veredelnde Wirkung, die das Zusammenleben in geordneten Verhältnissen und das Bewußtsein liebevoller Sorgfalt notwendigerweise auf das kindliche Gemüt ausüben müssen.

Damit war von vornherein der Gestaltung von Ferienkolonien ihre Richtschnur gegeben. Wohl sollte an erster Stelle die gesundheitliche Hebung ins Auge gefaßt werden als realer Punkt, aber es lagen der Bewegung ideelle Gesichtspunkte zugrunde, die ein wichtiges ethisches Moment bildeten. Diese idealen Ziele neben den realen zu pflegen, haben die Berliner Ferienkolonien als einen vornehmsten Teil ihrer Aufgabe immer betrachtet. Der Erfolg hat bewiesen, wie die Seele des Kindes besonders empfänglich ist für neue Eindrücke, wenn es losgelöst von so vielem, was es bewußt oder unbewußt bedrückt, umgeben von Liebe und Fürsorge ist. Eine neue Welt geht ihm auf, wenn es von verständnisvollen Führern und Führerinnen in die Natur, ihr Werden und Leben eingeführt wird, wenn zum erstenmal die heilige Stille des Waldes, das Rauschen des Meeres es umgibt. Gegenseitige Hilfeleistungen, gemeinsame Spiele und Gesänge erhöhen das Gefühl der Freude und Zusammengehörigkeit, finden Vertrauen und Dankbarkeit.

Die Berliner Bevölkerung wendete den Ferienkolonien von Anfang an ihre Sympathie zu und hat an dieser festgehalten wie bei kaum einer andern Wohlfahrtseinrichtung. Mit Staunen nehmen wir die jährlich steigende Zahl von aus-gesandten Kindern und die aufgewendeten Summen wahr.

Ein Bild geben die nachstehend von fünf zu fünf Jahren angegebenen Zahlen:

Im Jahr 1880 108 Kinder, Kostenaufwand M. 6 821

„ „ 1884 481 „ „ „ 22 440

„ „ 1889 2065 „ „ „ 59 046

„ „ 1894 3076 „ „ „ 98 143

„ „ 1899 3448 „ „ „ 111 675

„ „ 1904 4760 „ „ etwa „ 170 000

Welche Summe von Arbeit in diesen Zahlen enthalten ist, liegt auf der Hand. Es war ein glücklicher Gedanke der Leiter des Komitees für Ferienkolonien, schon nach fünfjährigem Bestehn im Jahr 1885 eine Organisation zu schaffen, die eine Dezentralisation in sich schloß, die nach Bedarf erweitert werden konnte. Zunächst teilte man Berlin in fünfundzwanzig Bezirke, in jedem von ihnen setzte man ein dem Vorstand verantwortliches Komitee ein, das von der Zentrale aus seine Anweisungen erhielt. Nur zu bald häuften sich die Arbeiten für jedes dieser Bezirkskomitees derart, daß immer und immer wieder dezentralisiert werden mußte.

Heute bestehn für ganz Berlin 248 solcher Komitees.

Ihre Arbeit beginnt im Februar oder März, sobald dem Vorsitzenden der Komitees die für jedes Haus polizeilich abgestempelte Kiste zur Haussammlung eingehändigt ist. Dann treten die Mitglieder meist persönlich in den Dienst der Sache, indem sie diese Listen in die Häuser ihres Stadtbezirks tragen.

Die persönliche Arbeit ist gerade hierbei die Hauptsache, sonst wäre es wohl kaum möglich, ohne große Unkosten jährlich an 10· bis 50 000 Mark zusammenzubringen, die Mittel herbeizuschaffen, die den Grundstock der Ausgaben jeden Jahres bilden. Ist die Zeit der Anmeldung der Kinder gekommen, die wochenlang an allen Anschlagsäulen bekannt gemacht wird, so haben sich Eltern oder Vormünder an das zu ihrem Bezirk gehörige Lokalkomitee zu wenden. Hier erhalten sie einen Bogen, der ausgefüllt zurückgebracht werden muß.

Dann ist die Recherche in bezug auf Würdigkeit und Bedürftigkeit zu machen. Ist diese festgestellt, so wird der Bogen verschlossen, an einen der zunächst wohnenden Herren Aerzte geschickt, die Mutter mit dem Kind zu einer angegebenen Zeit hinbestellt. 245 unserer Berliner Aerzte haben sich freiwillig in den Dienst der Sache gestellt und untersuchen in wenigen Wochen 12 – 14 000 angemeldete Kinder. Die Grundsätze für eine Aufnahme sind einheitlich geregelt. Es dürfen nur solche Kinder ausgewählt werden, denen einerseits eine Erholung dringend nötig ist, die aber anderseits nicht so krank sind, daß sie das Zusammenleben in einer Kolonie nicht vertragen können oder gar stören könnten.

Wenn nun das Lokalkomitee seine Bogen mit dem Resultat der Untersuchung von den Aerzten zurückerhalten, so wird auf Grund der Atteste, nach Maßgabe der vom Zentralvorstand überwiesenen Plätze, in einer Sitzung der Mitglieder die Auswahl getroffen. Das ist eine schwierige Aufgabe, denn meist kann nur ein Drittel der wünschenswerten Anforderungen erfüllt werden; schweren Herzens muß manches Lokalkomitee das der Wohltat bedürftige Kind dennoch zurückweisen. Die Vermehrung der Mittel ist daher für Berlin eine dringende Notwendigkeit. Eine ziemlich bedeutende Zahl von Kindern, die sich mit dem wachsenden Vertrauen, das sich die Ferienkolonien erwarben, jährlich vermehrte, wird gegen Erstattung der vollen Kosten von Behörden, Vereinen, Gesellschaften oder Privatpersonen dem Verein zur Pflege und Fürsorge übergeben.

Eine weitgehende Gliederung, die nach und nach eingetreten ist, macht es möglich, jedes Kind an den seinem Zustand angemessensten Platz zu bringen. Es werden einzelne Kinderheilstätten benutzt für die vom Arzt als kränklich bezeichneten Kinder. Zwei eigene, aufs zweckmäßigste eingerichtete Heime dienen recht schwächlichen Kindern; viele kommen in Sol- oder Seebäder, ja in den letzten beiden Jahren konnte durch eine Verbindung mit der Kinderheilstätte Hohenlychen vom Roten Kreuz auch solchen Kindern mit beginnender Lungenaffektion, die früher oft ausgeschlossen bleiben mußten, eine besondere Fürsorge verschafft werden.

Die Landkolonien, die dem schwächlichen und in der Genesung begriffenen Kind Erholung und Kräftigung für die ferneren Anforderungen ihres oft schweren Lebens bringen sollen, müssen freilich neben all den übrigen aus der Notwendigkeit sich ergebenden Einrichtungen die Hauptsache des Vereins bleiben, weil sie in besonderer Weise vorbeugend wirken sollen.

Das Jahr 1901 bedeutete für die Berliner Ferienkolonien einen wesentlichen Abschnitt. Mit Zustimmung des Vorstandes des Vereins für häusliche Gesundheitspflege löste sich das bis dahin bestandene Komitee für Ferien dieses Vereins auf und gründete einen selbständigen Verein unter dem Namen “Berliner Verein für Ferienkolonien”. Der große Umfang, den die Organisation der Ferienkolonien angenommen hatte, forderte gebieterisch eine größere Selbstständigkeit auch nach außen hin. Die Trennung von dem Mutterverein vollzog sich in freundschaftlichster Weise, noch heute wirken beide Vereine, die gemeinsame Ziele, Hebung der Volksgesundheit verfolgen, vielfach zusammen.

Wenn es dem Berliner Verein für Ferienkolonien gelungen ist, unter der stetig wachsenden Hilfe unserer Mitbürger an 60 000 bedürftige Kinder mit einem Kostenaufwand von etwa zwei Millionen Mark in den fünfundzwanzig Jahren helfen zu können, so darf er wohl mit Freude und Dank auf die verflossenen Jahre zurückblicken.

Dieser Artikel von Luise Jessen erschien zuerst 1904 in „Die Woche“.