Mit der Eisenbahn durch die Luft

Je stärker sich die Menschen auf einzelnen Punkten der Welt zusammendrängen, um so größer wird das Bedürfnis, die für ihren Unterhalt notwendigen Dinge aus immer weiteren Entfernungen herbeizuholen, um so größer aber wird auch die Belastung des Bodens durch häusliche oder gewerbliche Anlagen. Ebenso wächst mehr und mehr das Erfordern nach rasch arbeitenden und stets billigeren Verkehrseinrichtungen zur Heranschaffung der Guter nach den Wohnzentren.

Fast stets liegen aber hier der Wille des Menschen und die Natur in einem Kampf miteinander, der den Menschengeist zu immer höheren Anstrengungen anspornt, ihn zu immer kühneren Gedanken führt. – Setzt der Weg auf der Erde der Bewegung der Gütermengen zu große Schwierigkeiten entgegen, so führt er um so leichter durch die Luft.

Ein Teil der Drahtseilbahnstrecke von Chilecito nach den Famatima-Minen.

Eine der stolzesten Errungenschaften in dieser Beziehung ist unstreitig die Eisenbahn. Aber auch sie wird erst in Jahrhunderten zu dem Ausbildungsgrad kommen, daß man sie vollkommen nennen kann. Schon der Umstand, daß sie sich dem Gelände anpassen muß, ist ein großes Hindernis für ihre freie Entwicklung. – Die gerade Linie ist der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten; dieser Satz, den die Eisenbahn möglichst verwirklichen soll, kann fast nie Anwendung finden auf Bahnen, die mit ihren Schienen an dem Boden haften. Der Gedanke, die Eisenbahn vom Boden loszulösen, sie gewissermaßen in die Luft zu verlegen, wird zwar zum Teil in die Tat umgesetzt, indem die gröbsten Hindernisse durch Brücken und Viadukte überbaut werden, aber die ganze Laufbahn, das ganze Gleise vom Boden unabhängig zu machen, es hoch über Berg und Tal, über Wälder, Schluchten und Ströme in die Luft zu spannen und auf dieser nun wirklich von der Erde losgelösten Bahn Menschen und Güter zu befördern, dies gelang erst vor knapp 30 Jahren. Ein deutscher Ingenieur Adolf Bleichert in Leipzig, war es, der eine technisch vollkommene Lösung fand, die so viele vergeblich gesucht hatten. Heute dürfte es kaum ein Land geben, vom höchstkultivierten Westen Europas Westen Europas bis nach Neu Seeland oder bis tief ins innerste Afrika hinein, in dem Drahtseilbahnen noch ganz fehlen ; vielfach sind sie sogar die Vorläufer der Eisenbahnen geworden oder dienten dazu, diese ganz zu ersetzen, boten wohl gar die einzige Möglichkeit, einer Gegend, die den Schieneneisenbahnen unzugänglich war, überhaupt erst Verbindung mit der Außenwelt zu geben. Vom höchsten Norden bis zur Südgrenze der bewohnten Welt spannen die Bleichertschen Drahtseilbahnen ihre stählernen Laufbahnen durch die Lüfte, über die höchsten Bergspitzen der südamerikanischen Anden und tief unter der Erde in den Bergwerken, in denen die Steinkohle ihrem Beruf als Kraftspenderin entgegenschläft, rollen die Wagen Bleichert’scher Drahtseilbahnen in unendlicher Folge.

Unsere Bilder zeigen Teile einer Drahtseilbahn, die zu den kühnsten Ingenieurleistungen der Welt überhaupt gehört. Da, wo die argentinische Eisenbahn bei Chilecito vor der unüberwindlichen Mauer der Cordilleren Halt machen muß, beginnt die Bleichert’sche Seilbahn, die über 35 Kilometer lang in einem Zuge die ungeheure Höhe von 4650 Metern erklimmt, um dort aus in ewigem Eise starrenden Fernen, aus den Famatima Minen, wertvolle Kupfererze zu holen, um die dort von aller Welt abgeschlossenen Menschen in Verbindung mit dem bewohnten Lande zu erhalten. Ueber kilometerbreite Schluchten führt die Bahn, deren Wagen mehr als 300 Meter über der Talsohle dahinschweben. Zum erstenmal ist es, daß Menschen in dieser ungeheuren Höhe, auf Spannweiten, die mit anderen Mitteln zu überbrücken unmöglich, solche für unüberwindlich gehaltene natürliche Hindernisse bewältigen.

Aber nicht nur solchen großartigen Leistungen dienen die Bleichert’schen Bahnen, auch für die kleinsten Förderungen und für ebenes Gelände bieten sie ein Hilfsmittel von unerreichter Einfachheit und Leistungsfähigkeit.

Gerade in ihrer großen Anpassungsfähigkeit liegt die Hauptbedeutung des Bleichert’schen Systems, das sich in knapp 3 Jahrzehnten die ganze Welt erobert hat. Aus den Werkstätten der von dem Erfinder gegründeten Firma Adolf Bleichert & Co., Leipzig-Gohlis, und von ihren Konzessionären sind seit ihrer Gründung im Jahre 1873 annähernd 2000 Anlagen erstellt worden, unter denen sich nicht allein die höchste Maschinenanlage der Welt, sondern auch die Bahnanlagen befinden, die auf unserer Erde dem Nordpol und dem Südpol am nächsten liegen. Von dem Umfang dieses Betriebes, der zu unsern größten technischen Firmen zählt, kann man sich einen Begriff machen, wenn man erwägt, daß das Haus Bleichert allein etwa 250 Beamte, darunter etwa 200 Ingenieure und technische Angestellte, beschäftigt.

Dieser Artikel erschien erstmal 1904 in Die Woche. Die Bilder wurden nachcoloriert.