Ein Besuch im Blindenheim

„Und die Blinden werden sehen!“ Wird das altberühmte Wort noch einmal zur Wahrheit werden? In Paris hat Dr. Dussand einen Kinematographen erfunden der den Blinden den den Ersatz bieten soll für das fehlende Augenlicht.

Reliefdarstellungen auf einer beweglichen Zinkplatte der Blinde mit tastenden Fingern folgen und dadurch die Bewegung fühlen, die wir sehen, z. B. einen Vogel im Fluge, eine Eisenbahn in der Fahrt u. s. w. Unser Bild zeigt den Erfinder, wie er seinen Apparat erklärt.

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Im allgemeinen hat man von von dem Leben des Blinden eine falsche Vorstellung. Das Gefühl der Beklemmung, das den Besucher eines Blindenheims zunächst beschleicht, weicht bald der Freude, wenn er wahrnimmt, wie eifrig und erfolgreich die blinden Kinder lernen, wie fröhlich sie spielen, wie emsig und geschickt die erwachsenen Blinden ihre Hände zu gewerblicher Arbeit rühren, wie seelenvoll sie singen, wie sicher und gewandt sie sich bewegen, wie traulich und behaglich sie sich ihr eigenes Heim zu gestalten wissen.

Ein Kinematograph für Blinde – Der Erfinder Dr. Dussand und sein Apparat

Die Bilder, die wir heute bringen, geben einige Eindrücke wieder, die bei einem Gange durch die Königliche Blindenanstalt in Steglitz bei Berlin empfangen haben.

Blinde Knaben beim Modellieren

Diese Anstalt ist keine Heil- oder Pflegeanstalt sondern eine Erziehungs- und Ausbildungsstätte für Blinde, gegründet auf Befehl König Friedrich Wilhelms III. durch Prof. Dr. Zeune 1806 in Berlin; sie ist das älteste derartige Institut im Deutschen Reich und unter den 16 Blindenheimen des preußischen Staates die einzige königliche Anstalt.

Im Frauenheim der Blindenanstalt – Blinde Arbeiterinnen beim Bürstenbinden

Als die alten Räume in der Wilhelmstraße zu Berlin nicht mehr genügten, wurde die Anstalt 1877 nach Steglitz verlegt. Hier in Steglitz konnte sich die Anstalt den Aufgaben der Neuzeit gemäß entwickeln, so daß die Zahl ihrer Schützlinge sich bald verdoppelte und die Ziele immer höher gesteckt wurden. Gegenwärtig nimmt sie blinde Kinder schon im zarten Alter von fünf Jahren auf und führt auch erwachsene Blinde noch zur Erwerbsfähigkeit.

Im Unterrichtszimmer der Blindenanstalt – Uebungen der Kinder in der tastbaren Punktschrift

Die ausgedehnten baulichen Anlagen sind von einem ansehnlichen Park umschlossen mit Turn- und Spielplätzen, Ruhebänken und gedeckten Wandelgängen, die sich an die geräumige Turnhalle anschließen.

In den Gartenanlagen der Blindenanstalt – Blinde Handwerker beim Korbflechten

Der frühe Eintritt der Kinder in die Anstalt, und zwar in die Vorschule, ist deshalb so wichtig, weil die Blindheit auf die gesamte Entwicklung des Menschen hemmend einwirkt und die Kleinen durch längere Vernachlässigung oder Verzärtelung in der Familie häufig eine Beeinträchtigung ihrer Bildungsfähigkeit erfahren. In dieser zweiklassigen Vorschule spielen daher Fröbelarbeiten und Tastunterricht die Hauptrolle, um von Anfang an die Feinfühligkeit und Geschicklichkeit der Hände zu fördern, mit denen der Blinde sehen und schaffen lernen soll. Ist so die Ausbildung vom ersten Tage an auf das Praktische gerichtet. so wird doch nichts versäumt, den Geist zu erhellen und das Gemüt zu erheben. Denn die geschulte Intelligenz muß dem Blinden das fehlende Auge ersetzen helfen.

Vom 10. Lebensjahr ab ist den Zöglingen die Hauptanstalt zugänglich in fünf aufsteigenden Schulklassen, einer Hilfsklasse für schwache Schüler, einer Nebenklasse für Späterblindete, einer Fortbildungsklasse und in mannigfachem Abteilungsunterricht, namentlich für Musik. Außerdem finden wir Werkstätten zur Ausbildung in der Flechterei, Korbmacherei, Bürstenbinderei und Seilerei; auch wird Unterricht im Klavierstimmen erteilt.

In den Werkstätten der Blindenanstalt – Blinde Seiler bei der Arbeit

In einer Klasse sehen wir die Kinder mit der Uebung, in der tastbaren Punktschrift, der Erfindung des französischen Blindenlehreres Louis Braille, beschäftigt, die sie beiläufig lesen und auf einer sinnreich eingerichteten Tafel verhältnissmäßig schnell schreiben (Abb.). Daneben befindet sich ein Modellierzimmer, in dem die verschiedensten aus Thon oder Wachs geformten Gegenstände Zeugnis ablegen von der Handgeschicklichkeit der Zöglinge. (Abb.).

Bei dem fürsorglichen Streben wird die Anstalt in kräftigster Weise unterstützt durch den vor vierzehn Jahren gegründeten „Verein zur Beförderung der wirtschaftlichen Selbständigkeit der Blinden“. Vorsitzender ist der Chef des Kaiserl. Zivilkabinetts Lucanus, Geschäftsführer Matthies, Direktor der Blindenanstalt.

In den Werkstätten der Blindenanstalt – Ein Blick in die Tischlerei

Der Verein hat an der Grenze des Anstaltsgebietes zwei Blindenheime errichtet, ein Männerheim und ein Frauenheim. Ersteres dienst hauptsächlich als Durchgangsstätte zur weiteren Vervollkommnung der blinden Handwerker, die dort ihre Gesellenzeit zubringen, ehe sie zum selbständigem Geschäftsbetrieb in der Provinz sich niederlassen. Das Frauenheim ist zum dauernden Aufenthalt blinder Arbeiterinnen bestimmt, von denen die meisten in der Bürstenbinderei und Stuhlflechterei beschäftigt werden. (Abb.). Alle sind auf den Ertrag ihrer Arbeit angewiesen, in der sie bei ihrem reichen Innenleben Glück und Trost finden.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Ausgabe 14/1901 von Die Woche.