Taubstummenunterricht

Auf eine überaus erfreuliche Entwicklung im 19. Jahrhundert kann auch die Taubstummenbildungssache zurückblicken. Während sich diese im Ausgang des 18. Jahrhunderts noch in den ersten Anfängen befand, bestehen zur Zeit allein in Deutschland 94 Taubstummenanstalten, in denen ungefähr 7000 Kinder unterrichtet werden.

Der Abbè de l’Epée war der Begründer der ersten Taubstummenanstalt in Frankreich, die er 1770 in Paris eröffnete. In Deutschland wurde die erste Taubstummenanstalt 8 Jahr später, nämlich 1778, von Samuel Heinicke in Leipzig errichtet. Die von de l’Epée erfundene Methode, später die französische Methode genannt, kannte nur den Unterricht der Taubstummen durch die Gebärde und in der Schriftsprache. Erst Samuel Heinicke, seiner Zeit Lehrer in Eppendorf bei Hamburg, gab den Taubstummen die Lautsprache, durch die sie mit ihren hörenden Mitmenschen verkehren können. Diese Unterrichtsmethode heißt im Gegensatz zu der französischen die deutsche Methode.

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Eine der jüngsten deutschen Taubstummenanstalten ist die städtische Taubstummenschule in Berlin, die kürzlich ihr 25 jähriges Jubiläum feiern konnte. Sie zählt zur Zeit 155 Zöglinge, Knaben und Mädchen, die in 14 Klassen unterrichtet werden. Außer dem Direktor Albert Gutzmann wirken an der Schule 11 wissenschaftliche Lehrer und 3 Lehrerinnen, außerdem 3 technische Lehrkräfte.

In der Taubstummenschule – Uebungen in der Vorbildungsklasse

Um die Unterrichtsmethode richtig zu verstehen, muß man sich das Wesen der Taubstummheit vergegenwärtigen.

Der Taubstumme lernt nicht auf natürlichem Wege sprechen, weil er taub ist; seine Sprachorgane, der Atmungsapparat, das Stimminstrument, die Artikulationswerkzeuge sind normal, aber sie gelangen nicht zur lautsprachlichen Funktion, weil das Gehör fehlt; die Leitungsbahn zum Klang· oder Perzeptionszentrum ist nicht intakt. Es gilt nun nach der deutschen Methode, die Lautsprache auf unterrichtlichem Wege zu entwickeln, ohne das Gehör, allein durch den Gesichts- und den Gefühlssinn.

In der Taubstummenschule – Uebungen im Artikulieren

Die menschliche Lautsprache besteht in ihrer mechanischen Bildung aus Stellungen und Bewegungen der Organe; diese muß der Taubstumme durchs Auge, anfangs durchs Gefühl auffassen und nachbilden lernen. Darauf gründet sich seine Lautsprache und sein Ablesen des Gesprochenen vom Mund anderer Menschen; die Selbstkontrolle seiner Lautsprache kann er nur durch den Muskelsinn ausüben.

Jedes Kind wird vor seiner Aufnahme in die Taubstummenschule vom Direktor einer Prüfung unterzogen, durch die festgestellt wird, ob es zur Aufnahme in die Taubstummenanstalt geeignet ist, d. h. ob es taubstumm, aber geistig gesund ist, so daß seine Bildungsfähigkeit in der Taubstummenschule vorausgesetzt werden kann.

In der Taubstummenschule – Uebungen im Ablesen bei verdecktem Munde

Die erste Arbeit der Taubstummenschule hat sich darauf zu richten, die Kinder erst aus einem gewissen Rückstand, in dem sie sich meist in geistiger, körperlicher und sprachlicher Beziehung befinden, herauszubringen, vor allem aus dem sprachlichen. Darum steht im Mittelpunkt der ganzen ersten Schulzeit des taubstummen Kindes der „Artikulationsunterricht“. Die Zahl der Schüler in einer Taubstummenschulklasse ist deshalb wesentlich beschränkt; über zehn wird nicht gern gegangen. Damit die Kinder sich im Fortgang des Unterrichts auch gegenseitig vom Mund ablesen können, sitzen sie nicht hintereinander an Subsellien, sondern an kleinen Pulten im Halbkreis; vor der Oeffnung des Kreises steht das Pult des Lehrers. Mit den Sprechübungen wird sogleich Schreiben und Lesen verbunden.

Am Schluß des ersten Schuljahrs sprechen die taubstummen Kinder schon kleine Sätzchen; dann folgen die weiteren Benennungen von Dingen, Eigenschaften und Thätigkeiten u. s. w. und ihre Anwendung in Sätzen. Die Einübung der Frageformen, Befehle, Bitten u. s. w. leitet über zur Umgangssprache; außerdem lesen die Kinder Schreib- und Druckschrift und schreiben wie die hörenden Kinder gleichen Schulalters. Allmählich treten dann die einzelnen Disziplinen der Volksschule auf, natürlich mit Ausnahme des Gesanges.

In der Taubstummenschule – Sprechübung mittels Hörrohrs bei partieller Taubheit

Die Veranschaulichung geschieht durch Gegenstände in natura, durch Bilder und Modelle, durch Mimik und Aktion, niemals durch Gebärde. Die Gebärde, wie sie erwachsene Taubstumme im Verkehr untereinander häufig gebrauchen, ist vom Schulunterricht, der den Taubstummen für den Verkehr mit der hörenden und redenden Gesellschaft, in die ihn später sein Beruf stellt, ausbilden will, ganz ausgeschlossen.

Das „Ablesen“ des Gesprochenen vom Mund und aus der Gesichtsfläche, worauf unsere Taubstummen im Verkehr mit Hörenden angewiesen sind, beruht auf der äußeren, sichtbaren Sprachphysiologie, die sehr verschieden zum Ausdruck kommt. Darin liegt auch der Grund, daß der Taubstumme Personen, mit denen er viel lautsprachlich verkehrt, z. B. seinen Lehrern, fließend abliest, während es mit andern oft nicht recht von statten gehen will.

In der Taubstummenschule – Anschauungsunterricht

Dem Ablesen wird neuerdings ganz besondere Pflege gewidmet, wie unser erstes Bild veranschaulicht. In der ersten Klasse ist „Elternstunde“. Der Direktor zeigt den Anwesenden, wie es sehr wohl möglich ist, von vorn, von der Seite, ja selbst bei verdecktem Mund abzulesen. Dies ist deshalb wichtig, weil man irrtümlich glaubt, es sei immer unbedingt nötig, daß der Taubstumme die Lippen sehen müsse, um zu verstehen, und unbeachtet läßt, daß auch Kontraktion der Backenmuskulatur und die Unterkieferstellung in vielen Fällen zum Erkennen des Gesprochenen ausreichen.

Dieser Artikel erschien zuerst 1900 in Die Woche.