Ein erloschener Bühnenstern

Marie Geistinger

Marie Geistinger ist tot. Auf ihrem Gut Rastenfeld im Kärntnerland ist sie vor wenigen Tagen verschieden, die erste „Offenbachantin“ Deutschlands, die Frau, an der die Jahre spurlos vorübergegangen zu sein schienen bis ins späteste Alter.

Fast vier Jahrzehnte hindurch hat sie, die eine seltene Frische des Naturells dazu prädestinierte, siegreich die Jüngsten zu besiegen vermocht und als die Dejazet des deutschen Theaters Triumphe gefeiert, wie seit den Tagen Therese Krones keine zweite Vertreterin wienerischen Frohsinns. Am 26. Juli dieses Jahres waren es achtundsechzig Jahre, seit sie, ein Schauspielerkind, in Graz das Licht der Welt erblickte. Ein echtes Schauspielerkind!

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Wer sie vor mehreren Jahren anläßlich eines großen Wohltätigkeitsfestes in Wien noch als Lieder- und Coupletsängerin gehört, wer den Beifall vernommen, mit dem die Wiener ihrem einstigen Liebling zujubelten, der wird der noch immer stattlichen Erscheinung mit den schönen blauen Augen seine Bewunderung nicht versagt haben. Der Beifall, der sie umtoste, galt nicht nur dem allein, was sie, eine Greisin, wenn auch eine junge Greisin, den Hörern zu bieten vermochte. Er galt vor allem ihr als dem Symbol einer längstvergangenen, schönen, lustigeren Kunstepoche. Achtunddreißig Jahre sind es her, seit sie in berückender Schönheit die „Schöne Helena“ kreierte, die vorbildlich für alle Darstellerinnen wurde und bleiben wird. Sie wurde eine Königin der Operette, für die Offenbach, Lecocq, Strauß, Genée, Millöcker ihre verführerischsten Melodien schrieben, und denen sie mit ihrem glockenhellen Organ, dem Reiz ihrer Erscheinung, der Distinktion und Grazie, mit der ihre Pikanterie niemals die Grenzen des Aesthetischen überschritt, Sieg um Sieg errang. Die Vielseitigkeit ihres Talents veranlaßte sie, ihre Kunst an einer ernsten Rolle zu versuchen, der Anna Birkmaier in Anzengrubers „Pfarrer von Kirchfeld“, die sie zu einer der bedeutendsten Gestalten ihres Repertoires zu schaffen verstand. Nicht unerwähnt darf bleiben, daß ihr das Verdienst zukommt, die Werke Anzengrubers in den siebziger Jahren zum erstenmal in Deutschland zur Darstellung gebracht zu haben. Der erste Schritt ins „ernste Fach“ war getan, ihm folgte der zweite – vom Volksstück zum Schauspiel – und die „Schöne Helena“ verwandelte sich unter Laubes Leitung in die „Kameliendame“, in Adrienne Lecouvreur, in „Sappho“ und „Medea“ – die Muse Offenbachs war Tragödin geworden. Mit welchem außerordentlichen Erfolg, davon wissen noch manche zu erzählen, denen es bereits um die Glatze herbstelt, und die dennoch wieder jung werden bei der Erinnerung an jene Zeit.

Marie Geistinger
Marie Geistinger

Der Dollar ist ein mächtiger Magnet. Vier Jahre lang folgte Marie Geistinger seinen Lockungen, die sie geordneter künstlerischer Tätigkeit entrissen, und just als Adolf Wilbrandt sich mit dem Gedanken trug, sie für tragische Mutterrollen an das Burgtheater zu berufen, schiffte sie sich ein zur Reise in die Neue Welt, die ihre – zweite Jugend noch besser zu bezahlen verstand, als die Alte Welt die erste. In tollem Durcheinander wirbelte sie in allen ihren Glanzrollen der letzten fünfzehn Jahre an den Augen der entzückten Yankees vorüber. Sie kankanierte als „Schöne Helena“, sie erschütterte als „Medea“, sie berückte als „Großherzogin von Gerolstein“, um tags darauf als „Königin Elisabeth“ Stürme von Beifall zu ernten, die sie durch eine geniale Wiedergabe des „Bettelstudenten“ noch zu steigern wußte. Der ungeheure Erfolg, den sie durch die virtuose Beherrschung der grundverschiedensten Kunstgattungen erzielte, findet kein ebenbürtiges Beispiel in der Theatergeschichte des vergangenen Jahrhunderts. 1885 kehrte sie, mit Gold und Ehren reich beladen, in die Heimat zurück. Noch die junggebliebene, merkwürdige Frau, die der Jugend nicht das Scheidelied zu singen brauchte. Doch man spielt nicht ungestraft mit den Kobolden der Vergänglichkeit. Ein Augenleiden, von dem man behauptete, daß es den Wirkungen der Schminke seine Entstehung verdankte, zwang sie, der Bühne zu entsagen, im Vollglanz ihres Ruhms – mit fünfundfünfzig Jahren, die sich bei dieser seltsamen Frau wie die Hälfte ausnahmen. Daß dieses Augenleiden in einem Haarfärbemittel zu suchen war, dessen Gebrauch bereits eine in Deutschland sehr bekannte Tragödin fast durch den Verlust des Augenlichts bezahlt hätte, ahnten nur wenige. Es erschien ihnen selbstverständlich, daß die Schöne Helena ewige Schönheit besitzen müsse …

Noch zweimal lockte es sie aus ihren stillen Bergen nach den Stätten ihrer einstigen Triumphe zurück, doch waren es Töne der Elegie, die sich in die Willkommsgrüße mengten – die Zauberin hatte der Zeit ihren Tribut gezollt. Und mit schmerzlichster Wehmut mag diese Frau, die nahezu ein halbes Jahrhundert die bewundertste Königin im Reich der Kunst gewesen, an Raimunds holdseliges Liedchen der „Jugend “ gedacht haben, das auch sie in jenen Tagen geträllert, da Wien noch den Ruf genoß, die lustigste Stadt auf dem Erdenrund zu sein; „Brüderlein fein, Brüderlein fein, einmal muß geschieden sein“ …

Und sie schied. Wie schwer ihr das Scheiden wurde, ihr, die niemals den Kontakt mit dem Theater verlor, davon geben Hunderte von Briefen Zeugnis, die im Besitz ihres Hausarztes sind, in dessen Behandlung sie sich seit länger als dreißig Jahren befunden. Das Theater und die Lust am Leben bilden die Quintessenz dieser originellen Korrespondenz. „Wenn ich nur meinen Lebensmut wieder bekäme, die Aussicht hätte ich doch, noch länger zu leben. Ich lebe ja so gern!“ – „Wie schade, daß ich nicht mehr spiele! Gott, warum kann ich nicht so fünfundzwanzig Jahre wegputzen! Das Leben ist ja so kurz! – „Ach, es wird immer arger beim Theater, und ich danke Gott, daß ich nicht mehr dabei bin, denn zu meiner Zeit wurden doch noch anständigere Stücke gegeben! Die Helena ist ja im Vergleich zum jetzigen Genre nur ein Stück, fürs Nonnenkloster passend.“ – Die ewig Junge, von der ihr treuer ärztlicher Berater behauptet, daß sie eine Natur voll bewundernswerter Energie gewesen, die niemals ihren Lebensmut verlor, spricht aus diesen Worten. Ruhig, bestimmt, ja selbst von einer gewissen Unnahbarkeit im Privatleben, die seltsam mit dem prickelnden Uebermut kontrastierte, der ihre Rollen im Genre der Schustersfrau in „Drei Paar Schuh“ oder als „Falsche Pepita“ auszeichnete, hat die Geistinger, im Gegensatz zu andern Bühnengrößen, eigentlich niemals auf anderm Gebiet als dem der Bühne Erfolgen nachgestrebt. Das Theater blieb die einzige große Liebe ihres Lebens, der sie nur einmal untreu wurde, um – nur sehr vorübergehend – als Vierundvierzigjährige die Gattin des um siebzehn Jahre jüngeren Schauspielers Kormann zu werden, von dem sie sich bald darauf trennte. Es war das einzige Extempore ihrer Bühnenlaufbahn. – Als Einsiedlerin hat sie auf ihrem einsamen Gut, zwischen Bergen und Wäldern, ihre letzten Lebensjahre dahingelebt, in ihrem Herzen den unverwundenen Schmerz, alt geworden zu sein, wirklich alt, um sich doch so jung zu fühlen und in diesem wehmütigen, aussichtslosen Kampf sich unterliegen zu sehen.

Das alte lustige Wien, in dem der Wiener Walzer als schönste lustige Blume zwischen Wiener Pflastersteinen erwuchs, ist tot. Mit Marie Geistinger schwindet auch eine der letzten Größen aus jener Zeit, in der die Seele der Wienerstadt von den Lippen der Schönen Helena in alle Welt flatterte …

Dieser Artikel von J. Lorm erschien zuerst in Die Woche 40/1903.