Toiletten Wiener Künstlerinnen

Kulissenschmerzen und Kammerkätzchenschelmereien verschwinden immer mehr von der Bühne! Altehrwürdige, verstaubte und längst wacklige Requisiten polterten in die Versenkung, und all der bunte, glitzernde Theaterflitter wanderte in die Garderobe, als das echte wahre Bild des Lebens, das moderne Drama, von der Rampe her zu uns sprach.

Erst da schloß sich das Auge verletzt vor der falschen Herrlichkeit der gläsernen Diamanten und grellfarbigen Kleiderfähnchen, erst da verlangten wir auch hier Wahrheit und echte Schönheit, echt trotz Schminke und Perücke. Und schneller noch als der Dekorationsmaler sich auf neue Ausstattungen besann, neue Lichteffekte studierte und verwertete, hatte sich die Mode, der Luxus der Situation bemächtigt. Allen voran schritten französische Bühnenkünstlerinnen, wie die Bernhardt, die Réjane, später die Demarsy, die d’Arcylle – ein Geniekorps des guten Geschmacks, das kühn und ohne sich um das Ach und O der Kolleginnen und aller großen Damen zu kümmern, für die Bühne nur gerade gut genug fand, was in der „Welt“ als das Beste galt. Paris, der kräftigste Nährboden für alle Modekulturen, bildete den Kleiderluxus auf der Bühne aus, und es ist dort dahin gekommen, daß an die Toiletten der Schauspielerinnen fast die gleichscharfe Sonde der Kritik gelegt wird wie an das Theaterstück. Die Toilettenkunst veredelt sich mehr und mehr zur Modellierkunst, sie meißelt sozusagen die Figur aus der Starrheit vorgeschriebener Formen heraus; sie ist ein wichtiger Hilfsfaktor bei der Ausgestaltung persönlicher Eigenart beim Studium allgemeiner Charakterveranlagung sowohl wie kleiner individueller Züge. Auch das Aeußere muß im Einklang mit dem Seelenleben stehen, sollen wir von der Wahrheit der Auffassung überzeugt werden.

Dies ist ein historischer Text, welcher nicht geändert wurde, um seine Authentizität nicht zu gefährden. Bitte beachten Sie, dass z. B. technische, wissenschaftliche oder juristische Aussagen überholt sein können. Farbige Bilder sind i. d. R. Beispielbilder oder nachcolorierte Bilder, welche ursprünglich in schwarz/weiß vorlagen. Bei diesen Bildern kann nicht von einer historisch korrekten Farbechtheit ausgegangen werden. Darüber hinaus gibt der Artikel die Sprache seiner Zeit wieder, unabhängig davon, ob diese heute als politisch oder inhaltlich korrekt eingestuft würde. Lokalgeschichte.de gibt die Texte (zu denen i. d. R. auch die Bildunterschriften gehören) unverändert wieder. Das bedeutet jedoch nicht, dass die darin erklärten Aussagen oder Ausdruckweisen von Lokalgeschichte.de inhaltlich geteilt werden.

Wie eine Künstlerin in dieser oder jener Rolle sich kleidet, ob schlicht vornehm, ob mit herausfordernder Eleganz oder einem Stich ins lächerliche, Groteske – das ist nicht Sache ihres guten oder schlechten Geschmacks, sondern das Resultat sehr ernster Studien. Eine Kameliendame oder Zaza werden einem andern Toilettenstil huldigen als eine Sylvia oder eine Nora. Man könnte demnach beinahe die Behauptung aufstellen: je raffinierter ein Kostüm, desto gewissenhafter ist die Trägerin in ihrer Kunst. So störend ein Bauernmädchen bei der Arbeit in seidenem Rock und gesticktem Mieder auf den Brettern wirkt, genau so unpassend erscheint eine Frau von gesellschaftlichem Rang und Einfluß in ungeschickt gewählten oder schlechtsitzenden Kleidern. Wer glaubte an Reichtum oder Adel der Gesinnung oder auch an die Bildung einer Frau, deren Kleidung vernachlässigt und deren Erscheinung der Pflege entbehrt! Im Leben wie auf der Bühne wollen wir nichts davon hören und verlangen jetzt, die Stoffe sollen gut, die Spitzen echt, der Schmuck modern sein, auch in der Welt des Scheins. Naturgemäß entfaltet sich der größte Toilettenaufwand in den großen Städten und in den großen Theatern – wenn nicht die „Tradition des Hauses“ einen dicken Strich durch die guten Absichten der Künstlerinnen macht. Paris, Wien – das Klein-Paris, wie es die Wiener gern nennen hören und Berlin sind wohl jetzt die Hauptzentren für die Toilettenkunst, und stehen Wiener Künstlerinnen auf Berliner Bühnen, so pflegen sie einen besonders hohen Trumph in dieser Richtung auszuspielen.

Unsere Abbildungen zeigen uns die beiden Stars von der schönen, blauen Donau, die jetzt in der Kaiserstadt Berlin für ein Weilchen zu Haus sind, in einfachen Kostümen und in prunkvollen Roben, je nach dem Charakter der Rolle. Helene Odilon und Annie Dirkens bringen den guten Ruf des Wiener Geschmacks und der Wiener Schneiderkunst wieder einmal zur schönsten Geltung.

Weich und flüssig sind die Linien des Promenadenkleides aus weißem Seidenmusselin mit gelblichen Guipüremedaillons, Festons und Kanten, lose das Jäckchen, mit shawlartig und in eine geknüpfte Schleife endenden Vorderteilen, breitem Matrosenkragen und weiten halblangen Daletotärmeln, unter denen die fest um das Handgelenk schließenden Taillenärmel mit vollen Plissees bis tief auf die Hände herabfallen (Abb. 1). Auf dem welligen Haar ruht der breitkrempige, innen mit rotem Sammet aufgeschlagene Strohhut, der mit hellem Seidenstoff und mattrosa Blumen sehr voll, aber doch nicht überladen garniert ist.

1. Helene Odilon im Promenadenkostüm. Weisses Seidenmusselinkleid mit gelblicher Guipürespite Bolerojackchen mit breitem Kragen und weiten halblangen Aermeln
2. Annie Dirkens im Strassenkostüm. Hellblaues Linonkleid mit Ziernähten und Schoßjäckchen
3. Sommerkleid mit gepufften Unterärmeln

Die Toiletten, in denen Annie Baronin Hammerstein-Dirkens uns hier im Bilde entgegentritt, erscheinen von beinahe puritanischer Einfachheit. Aber es scheint nur so. Die Visitentoilette aus mattblauem Linon mit Zwischennähten (Abb. 2), die das ganze Kleid mitsamt der Jacke in einzelne Streifen zerteilen, darf als ein kleines Meisterwerk der Schneiderkunst gelten, wenn man weiß, wie sich solche Zwischennähte verzerren und dadurch der guten Form des Rockes gefährlich werden, zumal wenn er, wie hier, etwas schleppig aufliegt. Auch hier sehen wir ein Jäckchen, aber weder in strenger Bolero- noch in Figaroform; auch hier verzieren Spitzen die Aufschläge und das Achselstück des Aermels, alles nach einem Muster und doch weit von jeder Schablone entfernt.

Die Bluse in Abb. 3 ist nicht viel anders als so viele, die man täglich sieht – und doch wie schmiegsam im Stoff, wie originell in der Form des Aermels, der gerade wie bei Abb. 1 eine wirkliche Neuheit repräsentiert, freilich nicht ohne an sehr alte Modelle, an die Spitzenmanschetten der Hofkavaliere Ludwigs XIV, zu erinnern. Der glatte Rock mit seitlich aufgesetzten Faltenbahnen, deren Ansatz ein Spitzenornament deckt, das pfiffige Chinesenhütchen aus grobem Reisstroh, einzig mit zwei Adlerfedern besteckt alles scheinbar nicht neu und doch so noch nicht dagewesen!

4. Gesellschafttoilette aus flitterbesetztem Tüll
5. Große Damentoilette mit Spangenkorsage (Helene Odilon)
6. Empfangskleid aus broschierter Seide (Annie Dirkens)

Neben diesen „einfachen“ Toiletten, die für Visiten, für den Rennplatz und Fahrten in offenen Wagen gleich passend sind, sehen wir in Abb. 4 u. 5 Helene Odilon in Roben großen Stils. Ein schleppiges Tüllgewand von lichter Farbe, darüber ein farbiger, an den Seiten offener Ueberwurf im Empiregeschmack, schillernd von irisierenden Pailletten mit reicher Metallstickerei um den Ausschnitt der Taille und Perlenbehängen auf den langen Spitzenstoffärmeln, trägt ein fast antikes Gepräge (Abb. 4), gehört scheinbar nicht in den Rahmen der heutigen Mode und ist doch in jeder Hinsicht ein „dernier cri!“

Wie aber nennt sich das Gewebe der Abendtoilette in Abb. 5? Vereinigt sich Malerei und Stickerei hier zu einem ganz überraschenden Effekt, oder gebührt das Lob, etwas ganz Eigenartiges hervorgezaubert zu haben, dem Webstuhl? Zweige mit plastischen Blätterranken und Blüten streben vom Saum in die Höhe, wachsen aus den Spitzen- und Tüllwogen hervor, die ringsherum den Abschluß des langen und sich unten stark erweiternden Rockes bilden. Und wie läßt sich die Korsage beschreiben, wie erklären, daß die zwei faltenlosen, vom Gürtel nicht festgehaltenen Vorderteile auch wieder an sich nichts anderes sind als das diesmal dekolletierte Jäckchen, ein Jäckchen ohne Aermel, wenn nicht die schmalen Stoffpatten, an die die dunklen Sammetbandarmspangen ansetzen, als solche gelten sollen ? Toiletten, die wie diese über dem Tagesgeschmack stehen, können so recht als Prüfsteine ebenso für den Schönheitsbegriff der Künstlerin wie für die Routine der Hand, die sie geschaffen, gelten.

Ruhig und gediegen in Form und in der Farbe steht neben der ebenbeschriebenen die Empfangstoilette von Frau Annie Dirkens in Abbildung 6. Zunächst fällt die Prinzeßform auf, die wohl gewählt wurde, um das Damastmuster des silbergrauen schweren Seidenstoffs so wenig wie möglich zu unterbrechen. Breite Zwischensätze, auf beiden Seiten stark bogenförmig, wertvolle venetianische Spitzen teilen die vor deren Rockbahnen in einzelne, nach oben spitz zulaufende Felder, ohne dadurch die Richtung der schräg aufsteigenden Streifen zu ändern. Die gleichen Zwischensätze decken Taille und Aermel, hier und da von Stoffbändern überschnitten.

Diese sechs Toiletten, auf gut Glück aus dein Garderobenschatz der beiden Künstlerinnen herausgegriffen, zeigen nicht nur den beinah sprichwoörtlichen Wiener Schick, sie beweisen auch, wie das, was im gewöhnlichen Leben für geschmackvoll und künstlerisch gilt, seinen Weg entweder von der Bühne her nimmt oder wieder dorthin zurückführt. So stehen Bühne und Welt, Theater und Gesellschaft in beständiger und unaufhörlicher Wechselwirkung.

Eleonora Duse und Jane Hading, Agnes Sorma und ihre verschiedenen Rivalinnen sind mit ihren Theatertoiletten ebenso tonangebend geworden wie die obenerwähnten Wienerinnen. Wie sie weinen und lachen – das erschüttert oder erheitert im Augenblick und für den Augenblick. Die Kleider aber, die in dieser oder jener Rolle Aufsehen erregten, leben länger im Andenken fort; sorgt doch heutzutage die Photographie dafür, die vergängliche Pracht und Herrlichkeit, die ja auch ein Ruhmesblättchen im Lorbeerkranz des Mimen sind, vor dem Vergessenwerden zu bewahren.

Dieser Artikel von Traute Dockhorn erschien zuerst 1900 in Die Woche.