Ein Milizheer mit modernen Kriegsmitteln

Der stete Kampf mit den gefährlichen Mächten des Hochgebirges, die Erinnerung an eine glorreiche Vergangenheit, ein tief- und festwurzelnder Hang zum Kriegshandwerk machen den Schweizer zum geborenen Soldaten.

Die geographische Lage der Eidgenossenschaft zwischen vier Großstaaten im Verein mit der verhältnismäßig geringen, sich kaum vermehrenden Bevölkerungszahl weisen der Schweiz bei kriegerischen Verwicklungen von selbst die Defensive zu. Das Ziel der Schweizer Politik und des Heerwesens wird es daher sein, das Vaterland gegen einen eindringenden Feind zu schützen und die in jahrhundertelangem Ringen erworbene, schon lange unangetastete nationale Freiheit zu wahren.

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Die Natur selbst ist bei solchen Zielen ein mächtiger Bundesgenosse. Die schneegekrönten Alpengipfel, die tiefeingeschnittenen Thäler und Schluchten, die schier unersteiglichen Felswände, die schmalen, nur dem Eingeweihten zugänglichen Saumpfade, all die tausendfältigen Schwierigkeiten, die ein Hochgebirge, wie die Alpen, der menschlichen Kraft entgegensetzt, kommen dem mit dem Land vertrauten Verteidiger in erster Linie zu gute.

1. Aufnahmestellung und Unterkunftsbaracken auf der östlichen Seite des Gotthardgebiets

In klarer Erkenntnis dieser Thatsache hat die Schweizer Heeresverwaltung im Herzen des Landes, beim Gotthard, die schon von der Natur außerordentlich starke Stellung durch die Kunst zu verstärken und auszunutzen versucht. Von den steilen Bergkämmen beherrscht eine Anzahl von Befestigungen die Schluchten, Halden und Thäler ringsum. Stets befindet sich eine Besatzung in dieser Zentralfestung, überdies sichern die rasch zu alarmierenden „Thalwehren“ vor einer Ueberrumpelung: ein Zeichen, und sämtliche waffenfähige Männer der umliegenden Ortschaften greifen zu den Waffen und begeben sich nach den Sammelplätzen; einige Stunden nach dem Alarm stehen die Mannschaften marschbereit.

Durch alljährliche Uebungen wird dafür gesorgt, daß die Truppen, denen die Verteidigung der Gotthardbefestigungen obliegt, mit dem Kriegshandwerk vertraut werden und sich mit den besonderen Geländeschwierigkeiten bekannt machen. Unsere Bilder 1 bis 4 führen uns Episoden aus den Manövern der Festungstruppen vor Augen.

2. Festungstruppen auf dem Uebungsmarsch im Hochgebirge
3. Vorbereitete Aufnahmestellung und Unterkunftsbaracken auf den Pässen des Gotthardgebiets
4. Festungsartillerie bei Andermatt

In der Schweiz kennt man sehr wohl die Mängel, die dem Milizsystem anhaften. Man ist sich bewußt, daß man einem Mann in ein- bis zweimonatiger Ausbildungszeit nicht ebensoviel beibringen kann, als wenn er zwei bis drei Jahre fortlaufend weitergebildet wird, wie es bei den stehenden Heeren geschieht.

Das zwar kleine, aber außerordentlich tüchtige Schweizer Instruktionskorps verfolgt aufmerksam die Fortschritte bei andern Armeen und steht durchaus auf der Höhe der Zeit. Die Eidgenössischen Offiziere wissen sehr wohl, daß ihre Truppe, was die Gründlichkeit der Ausbildung betrifft, hinter der der Nachbarstaaten zurückstehen muß. Es werden daher auch einzelne Stimmen laut, die eine Vermehrung der „Schulen“, das heißt der Uebungen, verlangen.

Mit Hinblick auf die rein defensive Rolle der Armee glaubt man aber, im allgemeinen mit einem „Weniger an Zeit“ auszukommen, und sucht den Ausfall an Gründlichkeit in der Ausbildung durch Anwendung aller der Hilfsmittel wettzumachen, mit denen die moderne Technik die Heeresverwaltungen bereichert hat.

5. Optischer Telegraph der Gotthardtruppen
6. Maximschützenabteilung auf dem Gotthard

Die Infanterie ist mit einem modernen Gewehr ausgerüstet, während die Feldartillerie im Begriff ist, ein vortreffliches Geschütz einzuführen. Schon seit einigen Jahren führt die „Ballonkompagnie“ ein Kriegsmittel, den Fesselballon, mit, dessen Wichtigkeit für die Aufklärung erst unlängst im südafrikanischen Krieg wieder hervorgetreten ist. Daß auch das Fahrrad und das Automobil Verwendung finden, braucht danach kaum noch erwähnt zu werden.

Besondere Aufmerksamkeit wendet man aber in der Schweiz den Hilfsmitteln zu, die bei den besonderen Geländeverhältnissen des Hochgebirges von Wichtigkeit sind. Dahin gehört in erster Linie der optische Telegraph, der es ermöglicht, auf weite Entfernung Mitteilungen zu versenden. Gerade die Uebermittlung von Nachrichten ist es, die im Gebirge oft große Schwierigkeiten macht, wo zwischen „Luftlinie“ und wirklich zu durchlaufendem Weg bedeutende Unterschiede bestehen. Die klare Gebirgsluft begünstigt die Anwendung dieses Apparats, dessen Eignung für den Kriegsgebrauch gleichfalls der Krieg in Südafrika dargethan hatte. Unsere Bilder 5 und 7 führen uns Abteilungen der Gotthardtruppen beim Uebermitteln optischer Telegramme vor.

7. Uebermitteln optischer Telegramme

Eine andere Errungenschaft der neueren Waffentechnik, die Maschinengewehre, haben gleichfalls besondere Bedeutung für den Kampf im Hochgebirge (Abb. 6). Sie lassen sich nach Stellen bringen, die für ein Feldgeschütz unerreichbar waren, und vereinigen in sich eine bedeutende Feuerkraft bei nur geringer Sichtbarkeit, so daß sie zum Sperren von Thälern, zur Beherrschung wichtiger Punkte, zur Verwendung da, wo nur wenig Platz zur Frontentwicklung vorhanden ist, wie geschaffen scheinen. Der starke Munitionsverbrauch und die immerhin noch etwas empfindliche Einrichtung des Verschlusses sind die Nachteile dieses sonst so wichtigen neuen Vernichtungsmittels modern ausgestatteter Heere.

So sorgt die Schweizer Armeeverwaltung in kluger Voraussicht, daß der Wehrmann mit modernster Bewaffnung und Ausrüstung zum Schutz des Vaterlandes bereitsteht, denn selbst die tapferste Armee kann nur schwer einen Mangel ihrer Kriegsmittel wettmachen.

Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 50/1902.