Bedeutsam für das gesamte Frauenleben ist die Eröffnung der ersten deutschen Frauenhochschule, die in den letzten Oktobertagen dieses Jahres in Leipzig stattfindet. Eine Frauenhochschule! Der Titel mag manchem befremdlich erscheinen, und es liegt nahe, daß die Frauenhochschule vielfach als eine weibliche Universität angesehen wird, eine Nachschöpfung der bestehenden Universitäten, wie die Mädchengymnasien den Knabengymnasien nachgebildet sind. Die Frauenhochschule ist aber durchaus keine Nachahmung, sondern eine Anstalt, die als erste dem Mutterberuf der Frau die wissenschaftliche Weihe geben will, eine Anstalt, die durchaus der weiblichen Sonderart Rechnung trägt, die der gebildeten Frau jenes Wissen vermitteln will, das sie den Forderungen unserer Kultur und des geistigen Lebens unserer Nation entsprechend zur Ausübung ihres innersten, heiligsten Berufes, dem der Mutter, befähigt.
Berufsbildung der Frau und Mütterlichkeit sind heute zwei Schlagworte, die viel gebraucht werden; Worte, die man aber immer trennt. Die Frauenhochschule vereint beide, sie will die Frau zur Ausübung ihres Mutterberufes vorbereiten, berücksichtigt dabei aber auch die praktische Erwerbsfrage. Das Wort Mütterlichkeit ist hier im weitesten Sinne erfaßt; die mütterlich-erziehlichen Eigenschaften der Frau sollen nicht allein der eigenen Familie zugute kommen, Staat und Gemeinden brauchen dringend kluge, warmherzige, das Leben und die Umwelt verstehende Frauen als Helferinnen auf den verschiedensten Gebieten der sozialen Wohlfahrtspflege. Die Mütterlichleit der Frau muß etwas von der Sonne an sich haben, die mit ihren Strahlen enge Winkel und weite Länder erhellt und wärmt.
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Eine abgeschlossene Töchterschulbildung, so gut unsere Mädchenschulen auch schon geworden sind, ein wenig Naschen da und dort genügt für die Ansprüche unserer vielgestaltigen Zeit nicht mehr; die Jugend wird immer grübelnder, unruhiger, immer weniger bleiben schon dem Kinde die Einfachheit der Gefühle, Ansprüche und Anschauungen gewahrt und immer mehr wird von der Mutter ein geistiges Verstehen und Mitgehen gefordert. Die Jugend von heute begnügt sich nicht mehr damit, die Mutter nur um ihres Mutterseins willen zu verehren; eine Mutter, die die Interessen ihrer Kinder nicht zu teilen vermag, wird bald genug innerlich vereinsamen und fühlen, daß ihre Kinder ihr entgleiten. Der Studienplan der ersten Frauenhochschule umfaßt daher auch die verschiedensten Wissensgebiete, Philosophie, Geschichte, Kunst- und Literaturgeschichte, Naturwissenschaften, Sozialwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Stellung der Frau in Arbeit und Recht, vor allem aber auch Pädagogik, Kinderpsychologie, Säuglingspflege, praktische Übungen im Kindergarten, Einführung in die moderne Wohlfahrtspflege und Gesundheitslehre. Die Hörerinnen der Frauenhochschule sollen keine seichte Eintagsbildung erhalten, sondern sie sollen zu ernster Gedankenarbeit angeregt werden und im Eindringen in das Seelenleben des Kindes, in der Erkenntnis von der Wichtigkeit körperlicher und geistiger Pflege des heranwachsenden Geschlechts das Bewußtsein von der Verantwortlichkeit des Mutterberufes erhalten; zugleich sollen sie die Aufgaben erkennen lernen, die sie in Staat und Gemeinde zu erfüllen haben. Vorgesehen sind ferner Studienkurse für zukünftige Lehrerinnen der pädagogischen Facher an Kindergartenseminaren, Frauenschulen und ähnlichen Lehranstalten.
Dozenten an der Frauenhochschule sind zum größten Teil Professoren der Leipziger Universität, und in dem Kuratorium und Ehrenvorstand stehen Namen von weit über Deutschlands Grenzen hinaus tönendem Klang, so Karl Lamprecht, Karl Bücher, Marie v. Ebner-Eschenbach, Rudolf Eucken, Riccarda Huch, Adolf von Strümpell, Wilhelm Wundt u. v. a.
Das stattliche Gebaude der neuen Hochschule, das unser Bild zeigt, ist die Stiftung eines Leipziger Musikverlegers, es ist durchweg künstlerisch vornehm eingerichtet und birgt in seinem Innern, der Eigenart der Anstalt entsprechend, nicht allein große Vortragssäle, eine Bibliothek, sondern auch einen geräumigen Volkskindergarten, dessen Wände in heiterer Malerei bunte Märchen- und Kinderbilder schmücken. Die Schaffung der Frauenhochschule ist aber die Lebensarbeit einer Frau, die in tiefem Verstehen das erkannte, was ihrem Geschlecht bei allen errungenen Freiheiten und Fortschritten fehlte, und die in stiller unermüdlicher Arbeit ein langes Leben hindurch für ihre Idee lebte und wirkte. Frau Henriette Goldschmidt (Leipzig) gehörte zu jenen mutigen Frauen, die als die ersten Führerinnen der Frauenbewegung auftraten. So eifrig und treu Frau Henriette Goldschmidt auch immer zur Frauenbewegung hielt und in Wort und Schrift die Ideen verfocht, so suchte sie sich doch bald ein eigenes, ihrer Individualität entsprechendes Arbeitsgebiet, und sie fand es im Anschluß an die Lehren Friedrich Fröbels, dieses Pädagogen, der lange bevor „Kunst und Spiel im Leben des Kindes“ zum Schlagwort wurden, die tiefe Bedeutung des Spiels erkannte. Ehe selbst die Frauen noch die Forderung einer vertieften Bildung aufzustellen wagten, sprach Friedrich Fröbel es aus, daß die Frauen um ihrer menschheitspflegenden Bestimmung willen zu ganz gleicher geistiger Höhe wie das männliche Geschlecht zu erheben seien. Dieses Wort nahm Frau Henriette Goldschmidt auf, es wurde zum Leitwort ihres Lebens im Verein mit einem anderen, das sie selbst sprach: „Der Erziehungsberuf ist der Kulturberuf der Frau“; aus diesen Worten mauerte sie, ihrer Idee und ihrem innersten Wesen getreu, den Grundstein zu der Frauenhochschule. Die neue Bildungsanstalt steht fest gegründet und stattlich da, bereit, vorbildlich zu wirken, bereit, den Frauen, den Kindern sowie den kommenden Generationen und somit dem Vaterland zu dienen. Eine Kulturmission erfüllt diese Frauenhochschule, und ihr Segen wird im Lauf der Jahre offenbar werden.
Josephine Siebe.
Dieser Artikel erschien zuerst in Reclams Universum Weltrundschau vom 02.-08.10.1911.