Beim Grafen Leo Tolstoi

Von Olga Wohlbrück. Mit dem Erscheinen des letzten Romans von Tollstoi „Auferstehung“ ist der Name des großen russischen Dichterphilosophen wieder in den Mittelpunkt des litterarischen Interesses getreten.

Seit Jahren schon giebt es eine Tolstoilitteratur, wie es eine Nietzsche- und Ibsenlitteratur giebt, seit Jahren deuten und deuteln mehr oder minder verständnisvolle und geschickte Exegeten jeden Ausspruch dieser drei Führer unserer geistigen Bewegung, deren genialer Schöpfersinn neue Ideale geschaffen, neue Formeln gefunden, neue Wege gebahnt hat.

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Während sich aber bei Nietzsche und Ibsen das Interesse stets mehr ihren Werken als ihrer Person zuwendet und sich kaum mehr als anekdotisches Material aus ihrem Privatleben zusammenraffen läßt, das nur einzelnen Auserwählten zugänglich ist, bietet das persönliche Leben und Weben Tolstois das Bild eines sich vor dem Forum der ganzen Welt abwickelnden Schauspiels. Liegt das nun an seiner Thätigkeit, die sich auch außerhalb der Stille seines Arbeitzimmers in positiver Weise auf praktisches Gebiet weiterpflanzt; liegt es an einer souveränen Verachtung der „sehenden Menge“ oder an einem unabweislichen, wenn auch sich selbst uneingestandenen Bedürfnis nach persönlicher Gemeinschaft mit dieser Menge – wie dem auch sei: Tolstoi lebt im Winter in Moskau wie in einem Glaskasten, im Sommer in seinem Gutshaus von Jaßnaja Poljana wie in einer Kapelle, die stets für Pilger von nah und fern geöffnet ist.

Graf Tolstoi mit seinem Fahrrad
Graf Leo Tolstoi
Graf Tolstoi mit seiner Frau und seiner ältesten Tochter Tantjana

In Moskau bewohnt Tolstoi ein anspruchsloses hölzernes Haus, das einem seiner Söhne gehört und das sich allabendlich mit zahlreichen Gästen füllt. Der Eintretende wird von einem Diener gefragt, ob der Besuch dem Grafen oder der Gräfin gilt. Im ersteren Fall wird der Besuch nach einer vorherigen Anfrage durch einen großen Salon über eine enge schmale Treppe in das Arbeitzimmer geleitet.

Graf Leo Tolstoi an seinem Schreibtisch in Jaßnaja Poljana

Dieses Arbeitzimmer in Moskau ist ein ganz kleiner niedriger Raum mit sehr breiten Fenstern.

An einem dieser Fenster steht ein sehr kleiner und sehr einfacher Schreibtisch; ein breiter, altmodischer Diwan, ein paar Lehnsessel und ein Bücherschrank machen die ganze Einrichtung aus. Der Bücherschrank ist kaum zur Hälfte und auch nur mit Nachschlagewerken gefüllt, da Tolstoi seine Winterwohnung stets nur als Provisorium betrachtet und seine reichhaltige Bibliothek in seinem Gutshaus Jaßnaja Poljana untergebracht hat.

Am Tage hat selten jemand Zutritt zu Tolstoi. Die Gräfin Sophie Tolstoi wacht selbst ängstlich darüber, daß ihr Mann bei seiner Arbeit nicht gestört wird. Dafür giebt sich aber Tolstoi von drei Uhr ab, wenn die Glocke zum Mittagessen ruft, gern anregendem und heiterem Geplauder hin. Die Gräfin ist eine strenge und vorzügliche Hausfrau, in ihren Ideen durchaus unabhängis von ihrem Mann, sehr selbständig und unbefangen in der Aeußerung ihrer Meinung, aber stets bereit, ihre Handlungen den Wünschen ihres Gatten unterzuordnen.

Graf Leo Tolstoi mit seiner Familie auf seinem Gut Jaßnaja Poljana im Gouvernement Tula

Bei Tisch sitzt Tolstoi zwischen seiner Gattin und seiner ältesten Tochter Tatjana, die ihm eine große Gehilfin ist bei seinen Arbeiten. Er und seine zwei ältesten Töchter sind strenge Vegetarier zum größten Aergernis der Gräfin, die von der Zweckmäßigkeit dieser Ernährungsweise durchaus nicht zu überzeugen ist. Während also die übrigen Mitglieder der Familie und die auch zu Mittag niemals fehlenden Gäste „vernünftig“ essen, läßt Tolstoi sich in Gesellschaft seiner zwei Töchter die Haferschleimsuppe und verschiedene Gemüse vortrefflich schmecken.

Nach Tisch macht Tolstoi öfters Besuche. Der bis zu den Knieenden reichende, um den Gürtel angekrauste Schafpelz, die runde, tief über die Ohren niederfallende Mütze geben ihm gänzlich das Aussehen eines Bauern, und nur an dem eigentümlich tiefen Blick seiner unter buschigen weißen Brauen hervorblitzenden Augen sowie an dem feinen ironischen Lächeln, das manchmal über seine Lippen huscht, kann ein Vorübergehender stutzig werden und den berühmten Mann erkennen.

Des Dichters Wohnhaus in Jaßnaja Poljana

So gastfrei und beinah wahllos aber Tolstoi sein Haus den Besuchern öffnet, so sehr vermeidet er es, sich an öffentlichen Orten zu zeigen. Das Theater besucht Tolstoi selten, und dann sichert er sich immer einen möglichst unauffälligen Platz. Die Schauspielkunst, wie sie im großen Ganzen ausgeübt wird, befriedigt ihn nicht; auch die Darstellung seiner eigenen Stücke „Die Macht der Finsternis“ und „Die Früchte der Aufklärung“ hat ihn eher deprimiert als gefreut. „Die Schauspieler geben sich alle so sehr viel Mühe, natürlich zu sein auf der Bühne. Das müßten sie nicht. Ich habe mir die Leute in der „Macht der Finsternis“ ganz anders gedacht, als wie ich sie dann von der Bühne herab sah.“

Tolstoi liebt es, des Abends bei sich im Arbeitzimmer seinen Intimen Stellen aus neuen Büchern und Zeitschriften vorzulesen und sich, daran anknüpfend, in lebhafte Diskussionen einzulassen. Es ist ein gewinnender Zug von ihm, daß er einem jungen Studenten bei einer Diskussion ebensoviel Aufmerksamkeit schenkt wie einem ergrauten Universitätsprofessor. Er verträgt Widerspruch, verlangt nur unbedingte Ehrlichkeit. Jede Heuchelei, jede Halbheit sind ihm durchaus zuwider.

Tolstoi ist ein feiner Musikkenner und Musikliebhaber, und die improvisierten musikalischen Abende sind nichts Seltenes in seinem Haus. Im Notfall setzt er sich auch selbst noch ans Klavier und übernimmt eine Begleitung.

Interessant z. B. ist die Entstehung seiner „Kreutzersonate.“ Eine Künstlerin spielte einmal Beethovens Kreutzersonate im Haus Tolstois und machte durch ihr Spiel einen so großen Eindruck auf den Hausherrn, daß er sich voll tiefer Bewegung an den berühmten Maler Rjepin (dem Rußland mit die besten Tolstoibilder verdankt) wandte und ausrief: „Wir wollen auch eine Kreutzersonate schaffen, ich mit der Feder, Sie mit dem Pinsel, und A. (ein bekannter Schauspieler) soll die Erzählung von der Bühne herab, auf der Ihr Bild stehen wird, vorlesen.“

Der Gutsherr von Jaßnaja Poljana auf einem Spazierritt

Ueberhaupt schöpft Tolstoi die Anregung zu seinen Werken aus unmittelbarer Wirklichkeit. So ist die „Macht der Finsternis“ inhaltlich von Anfang bis zu Ende einer Gerichtsverhandlung entnommen, die seiner Zeit in Tula großes Aufsehen machte. Der tragische Schluß von „Anna Karenia“ ist ebenfalls infolge einer wirklichen Begebenheit entstanden. Tolstoi wollte ursprünglich den Roman versöhnlich ausklingen lassen, als plötzlich eine junge Frau seiner Nachbarschaft, die in ähnlicher Lage wie Anna Karenina war, den Tod auf den Eisenbahnschienen suchte. In seinen Arbeiten ist Tolstoi von strengster Gewissenhaftigkeit. Fünf-, sechsmal werden seine Manuskripte abgeschrieben, und es kommt vor, daß er einzelne Kapitel zehnmal umschreibt, ehe er sich entschließt, die Arbeit aus der Hand zu geben. Die Korrekturen sind den Setzern eine wahre Qual, denn auf den schmalen Feldern der Abzüge drängen sich neue Sätze und Worte, abermalige Ausstreichungen, Abänderungen. Die letzte Korrektur weist noch ebenso viel Spuren einer rastlosen Feile auf wie die erste. Jede Zeile von ihm ist ihm mehr entrissen worden, als daß er sie gutwillig dem Druck überlassen hat.

Die Gräfin Sophie ist wohl die strengste Beurteilerin seiner Werke, und bei aller nachsichtigen Herablassung, die Tolstoi für die Frauen im allgemeinen an den Tag legt, fügt er sich häufig dem klugen Urteil seiner Gattin. So hat er eine Novelle, die den Beifall der Gräfin nicht finden konnte, ruhig bei Seite gelegt und ist durch keinen Zuspruch zu bewegen, sie in Druck zu geben. Aber auch sonst liebt es Tolstoi, seine neuen Werke, bevor er sie dem Druck übergiebt, im intimen Kreise vorzulesen, wobei er jede ihm gemachte Einwendung in Erwägung zieht und dementsprechend weitere Aenderungen vornimmt. In der Hoffnung, manches naivbelehrende Wort zu hören, las Tolstoi sein Drama „Die Macht der Finsternis“ einem Kreis von Bauern vor, aber diese Vorlesung gab ihm nichts als ein Gefühl peinlichster Verwunderung; denn bei den erschütterndsten Scenen, die er selbst nicht lesen konnte, ohne daß ihm die Thränen in die Augen stiegen, lachten die Bauern hin und wieder laut auf.

Noch zwangloser als in Moskau rollt sich das Leben in seinem großen Gutshaus in Jaßnaja Poljana ab. Schon am frühen Morgen, wenn die zahlreiche Familie und die nie fehlenden Gäste um den Frühstücktisch versammelt sind, erschallt das große Speisezimmer von fröhlichem Lachen, anregenden leidenschaftlichen Diskussionen. Tolstoi, ein Glas Thee in der Hand, steht oft eine ganze Stunde an der Thür, auf dem Sprunge das Zimmer zu verlassen und an seine Arbeit zu gehen, und immer wieder zurückgehalten durch eine neu aufgeworfene Frage, an deren Erörterung er teilnehmen muß. Dieser Platz an der Thür wird im Haus die „verzauberte Stelle“ genannt, und Tolstoi muß oftmals seine ganze Willenskraft zusammennehmen, um dieser Stelle zu entfliehen.

Noch stiller und freudiger als in Moskau sind seine Arbeitstunden in Jaßnaja Poljana in seinem kühlen Arbeitzimmer mit dem ungestrichenen Boden, das früher eine Vorratskammer war und an dessen von der gewölbten Decke herabhängenden Ringen, von denen ehedem geräucherte Schinken und Würste herabhingen, der große Russe jetzt seine gymnastischen Uebungen macht. Sense, Schaufel, Säge und andere Utensilien eines rechtschaffenen Bauern lehnen und hängen an den Wänden und zeugen von den Sommerliebhabereien des berühmten Schriftstellers. Tolstoi räumt Leibesübungen in seiner Hygiene einen großen Platz ein, und neben der beschwerlichen Arbeit eines Landmann huldigt er jedem Sport – außer der Jagd – mit dem Feuer eines Jünglings und dem Geschick eines routinierten Sportsman. Er schwimmt und reitet vorzüglich, ist ein passionierter Lawntennisspieler und ein unermüdlicher Radler.

Graf Leo Tolstoi mit seiner Familie beim Lawn Tennis

Unweit vom Gutshaus steht ein großer, von einer Bank umgebener Baum: „der Baum der Armen“, wie er genannt wird. Da finden sich zweimal täglich alle ein, die irgendein Anliegen an Tolstoi haben: sei es Rat, sei es Hilfe oder auch nur eine Auskunft von ihm verlangen. Die Gräfin, die, wie sich der Kutscher des Hauses ausdrückt, „furchtbar streng“ auf Ordnung sieht, hat es durchgesetzt, daß all diese Audienzen unter freiem Himmel stattfinden, da die gräfliche Familie sonst förmlichem Ueberlaufen ausgesetzt ist.

Das Lesen der einlaufenden Briefe nimmt nicht den geringsten Teil der arbeitsfreien Zeit in Anspruch. Viermal täglich wird die Post von verschiedenen Stationen abgeholt, und jedesmal bringt sie zahllose Briefe und Depeschen aus allen Weltteilen, von denen einzelne flüchtig durchgesehen, andere laut vorgelesen werden. Die beiden Töchter fungieren als Sekretärinnen, sichten und ordnen die Briefe und beantworten sie nach ihrer Reihenfolge.

Daß trotz dieser steten weiblichen Mitarbeiterschaft Tolstois Meinung über die Frau und ihre Stellung zum Mann für die Frauen wenig günstig ist, bleibt ja immerhin merkwürdig und läßt sich allenfalls nur dadurch erklären, daß seine philosophisch-asketische Theorie im Weibe nur ein notwendiges Uebel sieht, das man mit Nachsicht und Ergebung zu ertragen hat.

Dieser Artikel erschien zuerst 1900 in Die Woche.