Evangelische (Marien-) Kirche in St. Petersburg

Architekt Professor Victor Schröter. Schon auf der Wiener-Weltausstellung sowie neuerdings auf der diesjährigen internationalen Jubiläums-Kunstaustellung in Berlin hat der von Prof. Victor Schröter in St. Petersburg herrührende Entwurf der dortigen evangelischen Marienkirche zufolge seiner eigenartigen Anordnung soviel Interesse erregt, dass wir glauben, ihn nachträglich dem Leserkreise der Deutschen Bauzeitung vorführen zu sollen.

Die ältere Veröffentlichung desselben in der russischen Fachzeitschrift „Sodschi“ dürfte vermutlich nur zur Kenntniss weniger deutscher Architekten gekommen sein.

Jene eigenartige, für die Bedürfnisse des protestantischen Kultus so wohl geeignete Anordnung der Kirche ist übrigens zunächst nicht aus der Rücksicht auf diese Bedürfnisse hervorgegangen, wie man vielleicht glauben könnte, sondern hat sich nach den Mittheilungen des Architekten ans den Forderungen des Programms und der Baustelle ergeben. Da die letztere an der Kreuzung zweier, ziemlich enger Strassen liegt, so konnte der Thurm auf weitere Entfernung nur sichtbar gemacht werden, wenn man ihn auf die Ecke des Grundstücks stellte. Hier war aber bei der durch technische Momente bedingten, verhältnissmässig hohen Lage des Kirchenfussbodens kein Platz zur Anlage einer entsprechenden Freitreppe vorhanden. Es war also nicht möglich, hier den Haupteingang anzunehmen, sondern es musste das Innere des Thurms als Altarraum verwendet werden, an welchen Sakristei und Taufkapelle angeschlossen wurden. Was nun die Gestaltung des eigentlichen Kirchenraums betrifft, so lag es nahe, bei derselben von der Grundform eines mit den Grundstück-Grenzen parallelseitigen, zu der Thurmanlage diagonalen Quadrats auszugehen; denn einmal wurde hierbei die noch zur Aufnahme verschiedener anderer Gemeinde-Bauten bestimmte Baustelle am vortheilhaftesten ausgenutzt, andererseits konnte auf diese Weise eine möglichst grosse Zahl der Zuhörerplätze dem Altar und der Kanzel genähert werden. Die Abschrägung der dem Thurm gegenüber liegenden Quadrat-Ecke, an welcher in einem Ausbau die Portal- und Treppen-Anlage bezw. im Obergeschoss der Orgel-Raum angeordnet wurden, sowie die Anlage der Zuhörer-Empore, welche an den 3 dem Altar und der Kanzel gegenüber liegenden Seiten des auf diese Weise zu einem unregelmässigen Sechseck gewordenen inneren Kirchenraums sich vorbaut, ergaben sich bei der weiteren Ausgestaltung des Grundrisses von selbst.

Grundriss – 1 Haupteingang – 2 Nebeneingänge – 3 Frischluftkanäle – 4 Heissluft-Kanäle

Hervor zu heben ist inbetreff des letzteren nur noch die Anlage des Untergeschosses, welches wesentlich den Zwecken der bei der Bauart der Kirche und dem Petersburger Klima mit besonderer Sorgfalt zu behandelnden Heizung dient. Zwei grosse Luiftheizungs-Oefen, deren Schornsteine den Kern der beiden Treppenthürme bilden und auf diese Weise geschickt maskirt sind, dienen als Wärmespender. Die Luft Zuleitungs-Kanäle zu denselben sind so angeordnet, dass nach Bedürfniss entweder frische Luft von aussen entnommen oder die Luft aus dem Kircheninnern den Oefen zugeführt werden kann. Der Keller unter dem Hauptkirchenraume scheint im übrigen wesentlich für die Brennholz-Vorräthe bestimmt zu sein; er ist mit einer flachen Decke versehen, deren Balkenträger auf der rechtseitigen Hälfte des Grundrisses angedeutet sind. Unter der Sakristei liegt die zu dieser gehörige Vorhalle, unter Altar-Raum und Taufkapelle die vertiefte Todtenkapelle, unter der äussern Vorhalle ein kleines Archiv; die letztgenannten beiden Räume sind überwölbt.

Lageplan

Von der äusseren Erscheinung der über dem massiven Untergeschoss – vermuthlich zufolge der beschränkten Baumittel – lediglich in Fachwerk hergestellten Kirche giebt unsere Skizze ein ausreichendes Bild. Wohl nicht ohne Absicht ist in den gewählten Formen und Motiven eine unmittelbare Anlehnung an die national-russische Bauweise vermieden worden. Bei aller Schlichtheit entbehrt der Bau doch keineswegs einer gefälligen Wirkung und eines kirchlichen Gepräges. Inwieweit das letztere auch der Erscheinung des Innenraums zugesprochen werden kann, dürfte sich nur vor der Wirklichkeit beurtheilen lassen. Zudem ist der Begriff des „kirchlichen Gepräges“ ein so schwankender und von persönlicher Auffassung abhängiger, dass es bedenklich ist, ihn zum Gegenstande kritischer Erörterung zu machen.

Ev. Kirche in St. Petersburg

In jedem Falle sind die Vorzüge der Plananlage so augenfällige, dass für Kirchen, die unter ähnlichen örtlichen Bedingungen errichtet werden, die Wahl des gleichen Grundmotivs gewiss in Frage gezogen zu werden verdient.

Dieser Artikel erschien zuerst 1891 in der Deutschen Beuzeitung, er war gekennzeichnet mit “-F.-“