Im Reich des roten Zettels

1904 – Ein Gang durch die Reparaturwerkstatt der Eisenbahn von A. Oskar Klaußmann.

Das rollende Material der Eisenbahn, Lokomotiven und Wagen, wird von der Privatindustrie aus besonderen Fabriken geliefert. Durch den Betrieb wird viel Material verschlissen, und sowohl Lokomotiven wie Wagen werden reparaturbedürftig. Solange Eisenbahngesellschaften bestehen, haben sie für die Reparatur des rollenden Materials eigene Werkstätten besessen, und auch die preußische Staatsbahn verfügt über Anstalten dieser Art, die zum Teil einen riesenhaften Umfang haben.

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Größere derartige Anlagen befinden sich in Breslau, Leinhausen, Witten, Nippes und in Berlin. Die in unsern Bildern dargestellte Eisenbahnhauptwerkstatt in Tempelhof bei Berlin beschäftigt rund 1400 Arbeiter, sie ist deshalb besonders interessant, weil sie Lokomotiven und Spezialwagen für die von Berlin ausgehenden internationalen und rasch laufenden Schnellzüge zu reparieren hat.

Wird ein Last· oder Personenwagen defekt, so wird er mit einem roten Zettel beklebt, der besagt, daß dieser Wagen vorläufig nicht zu benutzen ist, sondern nach der Reparaturwerkstatt dirigiert werden muß. Wird eine Lokomotive defekt, so meldet dies die betreffende Station telegraphisch oder telephonisch der Reparaturwerkstatt an, um zu fragen, ob dort Platz ist.

Die Reparaturwerkstätten zerfallen in zwei Abteilungen mit verschiedenen Betrieben, nämlich in die Reparaturabteilung für Lokomotiven und in die für Wagen.

Wenden wir uns der ersteren Abteilung zu. Wir betreten eine riesenhafte Halle, eine wahre Zyklopenwerkstatt, von der die untenst. Abb. nur einen sehr kleinen Teil darstellt. Wir sehen auf dem Bild eine Anzahl Lokomotiven, die mittels der im Vordergrund deutlich erkennbaren Schiebebühne auf Quergleise geschoben und zum Teil von ihren Untergestellen abgehoben sind. Die in der Mitte stehende Lokomotive ist nur zur Außenrevision da, sie befindet sich daher auf ihrem Untergestell. Die rechts und links von ihr stehenden Lokomotiven aber sind von den Untergestellen abgehoben und auf sogenannte Hebeböcke gesetzt worden, die sich elektrisch antreiben, das heißt, in die Höhe bringen lassen.

Reparaturwerkstatt für Lokomotiven

Die Abbildung zeigt uns den elektrischen Kran, mit dem eine moderne Riesenlokomotive von ihrem Untergestell abgehoben worden ist. Im Vordergrund des Bildes sehen wir das Untergestell. Nur ein leises Klirren ist vernehmbar, wenn die Elektrizität die Zahnräder des an der Decke befindlichen elektrischen Krans in Umdrehung versetzt, und langsam wie von unsichtbaren Händen wird der riesige Oberteil der Lokomotive durch die Ketten von dem Untergestell emporgehoben.

Hochgezogene Lokomotive

Auf dem nächsten Bild sehen wir im geöffneten Kesselteil der Lokomotiven siebartige Flächen, besonders deutlich auf der Lokomotive links. Es sind das die Stirnflächen der sogenannten Siederohre, die den Lokomotivenkessel in seiner ganzen Länge durchziehen. Die Siederohre sind aus Eisen hergestellt, fünf bis sechs Meter lang und in den Oeffnungen der beiden Stirnflächen durch Umbördeln befestigt. In Wirklichkeit müßten diese Siederohre Flammrohre heißen, denn sie sind von Wasser umspült, während die Flammen aus der Feuerkiste, also aus dem Teil der Lokomotive, in dem das Heizungsfeuer brennt, in die Siederohre hineinschlagen, das umgebende Wasser sehr rasch erhitzen und dadurch in Dampf verwandeln. Bei der inneren Revision der Lokomotiven werden die Siederohre sämtlich aus den Kesseln heraus gezogen und nach der Siederohrschmiede gebracht, in die unser nebenstehendes Bild einen Einblick gewährt. Da die Siederohre von Wasser umspült sind, setzt sich an ihrer Außenseite Kesselstein an. Dieser wird auf einer Drehbank, die deutlich im Vordergrund links sichtbar ist, durch schräg gestellte Walzen abgeputzt. In der Mitte des Bildes sehen wir eine große Anzahl von Siederohren, die bereits von Kesselstein befreit sind, senkrecht aufgestellt. Naturgemäß werden die Siederohre an den Enden, dort wo sie in der Kesselwand befestigt sind, am meisten abgenützt. Sind diese Enden sehr dünn oder rissig geworden, so müssen sie abgeschnitten werden. Natürlich muß man das Rohr dann wieder durch Verlängerung auf die frühere Längenausdehnung bringen, und zwar geschieht dies dadurch, daß man ein Stück anschweißt oder, wie man sagt, das Rohr “vorschuht”. An dem Herdfeuer in der Mitte des Bildes sehen wir einen Arbeiter beschäftigt, ein Rohr vorzuschuhen. Die auf diese Weise reparierten Rohre müssen einer ganz besonders sorgfältigen Prüfung unterzogen werden. Dies geschieht auf einer hydraulischen Maschine (rechts auf dem Bild sichtbar). Hier werden die vorgeschuhten Siederohre auf 20 Atmosphären Wasserdruck geprüft, und vor allem werden die Schweißstellen, da wo das alte und das neue Stück Rohr zusammengefügt sind, bei der Druckprobe auf ihre Festigkeit und Sicherheit beobachtet.

Die Siederohrschmiede

Die kleineren äußeren Teile der Lokomotive werden durch den Gebrauch außerordentlich schmutzig. Lokomotivführer und Heizer halten die Lokomotive, die sie ständig benützen, nicht nur aus dienstlichem Zwang, sondern auch aus einem gewissen “Sportgefühl” heraus so sauber wie nur möglich. Die kleineren Teile des Untergestells sind aber nicht überall zugänglich und können daher nur gereinigt werden, wenn sie nach der Werkstatt kommen. Verharztes Schmieröl und Staub haben diese Federn, Schrauben, Platten, Buchsen, Ventile und Rohre mit einer Schmutzkruste überzogen, die allen Anstrengungen gewöhnlicher mechanischer Reinigung spottet. Es ist daher in der Werkstatt eine besondere Küche eingerichtet worden, die wohl auch für die Hausfrauen Interesse hat und in die untenst. Abb. hineinführt. Es stehen hier vier gewaltige Kessel, von denen nur zwei auf dem Bild sichtbar sind. In diesen werden die kleineren Teile der Lokomotiven und Wagen von dem ihnen anhaftenden Schmutz durch Kochen in Sodalauge gereinigt. Das “Lokomotiven oder Wagenklein” kommt, nachdem es einige Stunden mit Dampf in der Sodalauge gekocht worden ist, schon in ganz ansehnlichem Zustand aus dem Kessel heraus, wird dann aber noch einer sorgfältigen mechanischen Reinigung und genauen Untersuchung unterzogen.

Die sogenannte Lokomotivenküche für die Reinigung der kleineren Maschienenteile

An Lokomotiven und Wagen sind bei der Reparatur und Revision Teile zu ergänzen, die fertig von den Fabriken bezogen werden können. Es sind dies; Puffer, Federn, Räder, Achsen. Gewisse Teile der Lokomotiven und Wagen aber, die außerhalb der gewöhnlichen Maße liegen, oder die nicht ohne weiteres in den Fabriken, in dessen das rollende Material neu hergestellt wurde, sich vorrätig finden, müssen so schnell wie möglich neu gegossen oder geschmiedet werden, und die Privatfabriken haben nicht immer Zeit, solche Aufträge sofort auszuführen. Die Reparaturwerkstatt ist deshalb mit einer eigenen Eisen- und Gelbgießerei ausgestattet, mit einem Schmelzofen, in dem Eisen durch Gebläsemaschinen geschmolzen wird. Sie hat eine Gießerei für Eisen und Stahl, eine Gießerei für Rotguß und Messing, eine Dreherei, eine Schmiede eine Tischlerei und Holzbearbeitungsanstalt, eine Prüfungsstelle, die das Rohmaterial auf seine Güte und Leistungsfähigkeit mit besonderen Maschinen prüft, und endlich gewaltige Lager von Eisen aller Art, von Kupfer, Blei, Antimon (zum Ausfüllen der Achslager), Kupferröhren, Glas, Plüsch, Polstermaterial, Gummi und Leder.

Wir machen zuerst der großen Schmiede einen Besuch, die ebenso wie alle andern Räumlichkeiten der Reparaturwerkstatt einen außerordentlich reinlichen und netten Eindruck macht. An den Wänden stehen dreißig Schmiedefeuer, zwei Federnglühöfen und ein Schweißofen, deren Gebläse ein Ventilator liefert. In der Mitte der gewaltigen Halle stehen fünf Dampfhämmer verschiedener Größe, außerdem eine riesige hydraulische Presse zur Formgebung großer Stücke. Sie kann nach Belieben mit 100, 200 und 350 Tons Wirkung arbeiten. Gegenüber dieser hydraulischen Presse steht eine ebenfalls hydraulisch getriebene Maschine zur Prüfung von Federn für Wagen und Lokomotiven. Mit Hilfe einer hydraulischen Pumpe wird die an ihren Enden befestigte Feder vertikal in die Hohe gedrückt und auf ihre Tragfähigkeit geprüft. Jede Feder wird auf dieser Presse vor ihrer Benutzung weit über ihre Beanspruchung im Betrieb untersucht.

Ein gewaltiger Raum ist die Holzbearbeitungswerkstätte, die sich von vielen andern Einrichtungen dieser Art durch ihre Sauberkeit, Helligkeit und die gute Luft unterscheidet. An jeder Holzbearbeitungsmaschine befindet sich nämlich ein Saugapparat, der die Hobel- und Sägespäne, die sich bei der Arbeit bilden, absaugt und durch ein Rohr, das unter dem Fußboden liegt, nach außen abführt. Der große, draußen stehende Exhaustor hält den Raum möglichst staubfrei. Kreissägen, Bandsägen, Fräsen, originelle Poliermaschinen, eine sehr interessante Stemmaschine, Hobel- und Schleifmaschinen dienen zur Bearbeitung des Holzes.

Die Tapezierwerkstätte hat natürlich nur Reparaturen vorzunehmen. Es handelt sich um das Aufpolstern von Sitzen, um das Anfertigen und Anbringen von Vorhängen und Gardinen, während die Sattlerei Reparaturen an Lederriemen, an Faltenbälgen der Harmonikazüge usw. besorgt.

Auch Räder und Achsen und sogenannte Radsätze, das heißt Räder, die durch eine Achse bereits verbunden sind, bezieht die Reparaturwerkstatt von der Privatindustrie. Sie muß aber imstande sein, auch einzelne Räder bei Wagen und Lokomotiven sowie Achsen und ganze Radsätze selbst zu reparieren. Zu diesem Zweck ist eine besondere Räderschmiede eingerichtet, ein gewaltiger, sehr sauber gehaltener Raum, in dem der Menschengeist Maschinen von kolossaler Wirkung und Leistungsfähigkeit aufgestellt hat. Untenstehende Abbildung zeigt uns einen Teil dieser Schmiede, und zwar die hydraulische Presse, die mit Riesenkraft die Räder auf die Achse preßt. Wir sehen in die Maschine eine Lokomotivenachse, und zwar die sogenannte Treibachse eingespannt und können es im linken Teil des Bildes genau verfolgen, wie das Rad auf die Achse gepreßt wird. Die Kraft, die auf die Eisenteile wirkt und die 60 000 Kilogramm auf den Quadratzentimeter beträgt, muß um so fürchterlicher sein, als dieses Aufpressen im kalten Zustand erfolgt. Die Achse muß dabei auf jeden Millimeter Durchmesser einen Druck von 300 Kilogramm aushalten.

Die Räderschmiede

Ist die Lokomotive alt geworden, so daß sie trotz aller Reparaturen nicht mehr mit Sicherheit im Betrieb verwendet werden kann, wird sie ausrangiert. Es erfolgt dies nach einem Gebrauch von 30 bis 35 Jahren.

Auf dem Lokomotivenkirchhof

Das obere Bild führt uns auf den Platz, der die ausrangierten Maschinen aufnimmt, und der durch den Baumsschlag, von dem er umgeben ist, den Eindruck eines “Lokomotivenkirchhofs” macht. Die alten Maschinen mit ihren zerschlagenen Fenstern, bedeckt von Rost, erregen fast das Mitleid des Beschauers. Vor 30 Jahren kosteten diese Maschinen das Stück 21000 Taler, und man hielt sie für Wunderwerke der Technik. Heute bekommt man die größte und beste vierachsige Schnellzugslokomotive von fast doppeltem Gewicht schon für 72 000 Mark. Die Lokomotiven aber, die hier auf den Kirchhof gebracht sind, finden noch keine Ruhe. Es kommen Händler, Spezialisten, die mit alten Lokomotiven handeln, um diese Veteranen des Verkehrs für 3000 bis 3500 Mark das Stück aufzukaufen. Von den Händlern werden die Lokomotiven “abgewrackt”; einzelne Teile, wie zum Beispiel die Kessel, finden noch bei stationären kleinen Maschinen Verwendung, wertvolleres Material, wie Kupfer und Stahl, wird losgerissen und verkauft, die Eisenteile werden zerschlagen und zum Einschmelzen an die Eisenhütten und Werkstätten verkauft.

Wenden wir uns nunmehr der Wagenreparaturabteilung zu. Es kommen naturgemäß viel mehr Eisenbahnwagen als Lokomotiven in die Anstalt, und die Güterwagen, die beim Beladen viel mehr in Anspruch genommen sind und auch weniger stark konstruiert werden als die Personenwagen, bilden wiederum die Ueberzahl. In riesenhaften Hallen werden die Personenwagen repariert.

Unsere Abbildung führt uns in eine dieser großen Hallen und zeigt uns außer andern Gefährten einen Personenwagen III. Klasse, der von den Achsen abgehoben worden ist, damit er in allen seinen Teilen auf das sorgfältigste nachgesehen und repariert wird. Die Güterwagen, sowohl die gedeckten als die offenen, werden meist in großen, offenen Schuppen, die im Freien stehen, repariert.

Reparaturwerkstätte für Personenwagen

Die Kasten sämtlicher Wagen werden mit Hilfe von Hebeböcken, die teils elektrisch, teils von Hand angetrieben werden, von den Wagengestellen hochgehoben. Das Reparieren geht sehr schnell, denn ein Wagen ist immer einer ganzen Arbeiterrotte überwiesen.

Das untenstehende Bild liefert uns einen schlagenden Beweis dafür, wie im Eisenbahnbetrieb nicht nur der Komfort für die Reisenden, sondern auch die Formen der Eisenbahnwagen sich verändert haben.

Ein neuer D-Zugwagen und ein alter Personenwagen III. Klasse

“Alte und neue Zeit” könnte man dieses Bild nennen, an dem durch liebenswürdiges Entgegenkommen der Verwaltung der Reparaturwerkstatt, und um das Bild zu ermöglichen, ein neuer vierachsiger D. Zugwagen und ein alte zweiachsiger Personenwagen III. Klasse mittels der Schiebebühnen nebeneinander auf ein Gleis gebracht wurden.

Wie stattlich sieht der vierachsige D. Wagen aus, und welchen tristen Eindruck macht der jetzt ausgemusterte Wagen III. Klasse. Als er aber vor 35 Jahren in den Dienst gestellt wurde, galt er nach damaligen Begriffen für ein Muster von praktischer Einrichtung, ja von Eleganz.

Wie bereits angeführt, fällt überall in den Werkstätten die außerordentliche Sauberkeit auf, ebenso die Reinheit der Luft. Das Institut gibt sich aber außerdem noch alle Mühe, eine wirkliche Musteranstalt zu sein, und hat deshalb für die Arbeiter eine ganze Reihe von Wohlfahrtseinrichtungen getroffen, die mit großen Kosten und lediglich im Interesse der Angestellten erhalten werden.

Fast 1400 Arbeiter unter der Aufsicht von 60 Beamten sind in dem großen Etablissement tätig, in dem man auf Schritt und Tritt immer wieder auf die Spuren größter Ordnung und Disziplin und mustergültiger Einrichtungen stößt.

Dieser Artikel erschien zuerst 1904 in Die Woche.