Städtische Untergrundbahnen

1904, von Dr. Fr. Ranzow. Kaum irgendeine menschliche Einrichtung zeigt in unsern Zeiten ein so gewaltiges Wachstum wie die großen Handels- und Industriestädte der modernen Gesellschaft. Auch ihnen ist ihre innere Grenze gesteckt, und zwar in der Leistungsfähigkeit der großstädtischen Personentransportmittel.

Dies ist ein historischer Text, welcher nicht geändert wurde, um seine Authentizität nicht zu gefährden. Bitte beachten Sie, dass z. B. technische, wissenschaftliche oder juristische Aussagen überholt sein können. Farbige Bilder sind i. d. R. Beispielbilder oder nachcolorierte Bilder, welche ursprünglich in schwarz/weiß vorlagen. Bei diesen Bildern kann nicht von einer historisch korrekten Farbechtheit ausgegangen werden. Darüber hinaus gibt der Artikel die Sprache seiner Zeit wieder, unabhängig davon, ob diese heute als politisch oder inhaltlich korrekt eingestuft würde. Lokalgeschichte.de gibt die Texte (zu denen i. d. R. auch die Bildunterschriften gehören) unverändert wieder. Das bedeutet jedoch nicht, dass die darin erklärten Aussagen oder Ausdruckweisen von Lokalgeschichte.de inhaltlich geteilt werden.

Es gibt ein Maß der “wirtschaftlichen Entfernung”, über das hinaus ein Wachstum des bebauten Kreises und daher der Einwohnerzahl nicht mehr möglich ist, wobei als “wirtschaftliche Entfernung” die zu überwindende Strecke nicht ausgedrückt wird in Kilometer oder Meilen, sondern in Minuten und Pfennigen oder Cents usw. Zeit ist nirgend so sehr Geld wie in verkehrsreichen Großstädten mit ihrem nervösen “Minutengewissen”, und Geld ist – eben Geld! Wenn die Aufwendung an Zeit und Geld, die der Bewohner des Außenbezirks täglich opfern muß, um an seine Arbeitsstelle und zurück zu gelangen, einen gewissen Bruchteil seines Einkommens verschlingt, ist die Grenze des großstädtischen Wachstums erreicht.

Paris

Aber das Wachstum selbst schiebt die Grenze unaufhaltsam hinaus, so erfolgreich, daß selbst die riesenhafteste Stadt der Weltgeschichte, Groß London, mit seinen fast sieben Millionen Einwohnern noch immer weiter zu wachsen imstande ist wie jener berühmte “Barribal”: “Wann er ausg’wachs’n is, wachst er immer weiter.” Das Wunder wird erreicht durch Anpassung, und zwar in einem gewissen Grad bereits durch seelische Anpassung, indem nämlich die erträglich scheinende Minutenentfernung langsam größer wird, und durch allgemeine Anpassungen der Volkswirtschaft: Vorkürzung der Arbeitszeit, Zusammendrängung der Arbeitszeit (englische Tischzeit) und Lohnerhöhung, vor allem aber durch eine schnelle Entfaltung des städtischen Personentransports, da die täglich dichtere und zahlungskräftigere Bevölkerung immer vollkommenere und daher kostspieligere Einrichtungen dieser Art zu bauen und zu betreiben erlaubt.

Neuyork

Es ist nur ein Glück, daß die Technik in der gleichen Zeit genügend erstarkt ist, um von jener “Erlaubnis” auch Gebrauch machen zu können. Denn die Aufgaben, die die Vervollkommnung des Personentransports dem Ingenieur stellt, steigern sich ins Ungeheure – aus mehreren Gründen.

Eingang zur Station der Pariser Untergundbahn mitten auf dem Opernplatz

Zuerst nämlich wächst der großstädtische Verkehr viel stärker als die Bevölkerung.

Eine Großstadt ist ja nicht ein Wesen für sich, sondern dienendes Glied eines ungemein viel größeren Gemeinwesens, dessen politische, wirtschaftliche, künstlerische, wissenschaftliche, humanitäre Interessen hier in einem Punkt zusammentreffen; und es ist ohne weiteres ersichtlich, daß alle diese Interessen um so vielfältiger und feiner verästelt und verwoben sein werden, je größer Staat und Hauptstadt sind. Ferner vereinheitlicht sich der großstädtische Verkehr notgedrungen, gerade je mehr alle Geschäfte arbeitsteilig ineinandergreifen, in bezug auf seine äußere Ordnung:; Geschäftsanfang und Geschäftsschluß werden durch den Verkehr selbst immer einheitlicher fixiert, und das stellt die großstädtischen Personentransportanstalten vor die schwere Aufgabe, dem überschwellenden Ansturm weniger Stunden, man dürfte fast sagen Minuten, zu genügen. Das sind die “rush-times” vor Geschäftsanfang und nach Geschäftsschluß, auf die die Leistung der ganzen Anstalt zugeschnitten sein muß, während alle andern Stunden des Tags unverhältnismäßig viel schwächere Ansprüche stellen.

Fertig – Abfahren

Je größer die Stadt wird, und je mehr, “im Quadrat ihres Wachstums”, ihre Verkehrsbedürfnisse anschwellen, um so schwieriger wird nun aber in noch höherem Verhältnis die Aufgabe der Technik – aus dem klaren Grund, weil einfachere Einrichtungen die nötige Leistungsfähigkeit nicht mehr haben. Bis zu einer Bevölkerungsziffer von ungefähr einer Million kommt die Großstadt mit Flachbahnen, Straßenbahnen im Niveau, aus und vermag dem Verkehr noch eine Zeitlang notdürftig zu genügen, wenn sie durch Einführung elektrischer Kraft an Stelle des Pferdezuges die Schnelligkeit der Fortbewegung, die Zugfolge und die Fassungskraft der einzelnen Züge vermehrt. Aber bald ist diese Grenze überschritten, und Hochbahnen werden dringend erforderlich, die größere Geschwindigkeit und vor allem längere Zuge zulassen. Das geht bis zu einer Bevölkerungsziffer von ungefähr zwei bis zweieinhalb Millionen, je nach der Besiedlungsdichtigkeit der Hauptverkehrsadern, die wieder von der zulässigen Höhe der einzelnen Häuser abhängig ist. Denn natürlich entfällt auf eine Straße von lauter “Wolkenkratzern” ein viel intensiverer Verkehr als auf eine Straße mit niederen Häusern. Aber gleichviel wann: für jede Großstadt kommt einmal der Augenblick, wo die weitere Ausdehnung des Hochbahnnetzes über ihren Straßen, wenn nicht aus technischen, so doch aus ästhetischen und hygienischen Gründen unmöglich wird.

Die Neuyorker Untergrundbahn – Durchgang zum Bahnsteig

Dann heißt es gebieterisch: “Drunter durch! Nicht drüber weg!” Und dann kann die Technik ihre neue Aufgabe nur durch Wunderwerke lösen, neben denen selbst ein modernes Kriegsschiff, eine Bogenbrücke und ein amerikanisches Stahlwerk sich wie mechanische Spielereien ausnehmen. Denn der Untergrund einer Großstadt stellt dem Bau einer Bahn nicht nur alle die Schwierigkeiten entgegen, die ein Tunnelbau im Gebirge zu überwinden hat: harten Fels, weichenden Ton und schwimmenden Sand, unterirdische Quellen und Grundwasser, sondern auch noch die ungeheuersten Hemmnisse ganz eigener Art.

Der Schalter einer Pariser Stadtbahnstation

Der Grund und Boden, aus dem eine solche moderne Großstadt emporragt, ist nicht mehr Natur, sondern ein höchst verwickeltes Kunstprodukt oder besser: Organ und Träger von Organen des riesigen Supraorganismus darüber. Er ist das Fundament der stolzen Bauten, die ins Licht ragen, und birgt all die Adern und Nerven, die sie mit Lebenskraft versorgen, und die Gedärme, die ihre Ausscheidungen abführen:; die Röhrenleitungen für Gas, Wasser, Kanalisation und Rohrpost, die Kabel der elektrischen Licht und Kraftversorgung usw. Je größer die Stadt, je dichter ihr Verkehr, um so enger liegen die Maschen dieses unterirdischen Netzes im Boden. Hier hat der Ingenieur seinen Weg zu finden mit viel größerer Vorsicht als selbst der Chirurg, dessen Messer in die Tiefen des Organismus dringt.

Der Verkehr auf der Neuyorker Stadtbahn

Denn hinter dem Wundarzt her arbeitet die Heilkraft der Natur, die jeden nicht allzu schweren Schaden binnen kurzem repariert: aber der Ingenieur der Untergrundbahn darf das Fundament keines Hauses auf der Oberfläche auch nur erschüttern, und ragte es dreißig Stockwerke auf; er darf keine Gas- und Wasserleitung auch nur undicht werden lassen, darf den Verkehr der Außenwelt nicht empfindlich stören und muß gleichzeitig allen Tücken des natürlichen Objekts zu begegnen wissen, ob er nun im harten Fels arbeitet oder im Schwimmsand, ob unter dem Pflaster einer Geschäftsstraße oder unter dem Bett eine Stromes, wie der Themse oder des Hudson.

Elektrischer Signalapparat

London, die Riesenstadt, hat zuerst das Bedürfnis nach Untergrundbahnen gehabt und die ersten Linien im Erdenschoß gebaut, schon zu einer Zeit, wo der Genius der Elektrizität noch nicht in den Dienst des Menschen gebannt war. Auf seinen unterirdischen Dampfeisenbahnen beförderte es schon 1898 nicht weniger als 140 Millionen Passagiere. Seitdem hat es auch seinen elektrischen “Underground”. Paris erfreut sich seit dem Jahr der Zentenarausstellung seines Metropolitain und hat jetzt die dritte Linie durch die zentralen Stadtteile, über Oper und Börse, vollendet. Berlin muß, bis die Untergrundbahn vom Potsdamer Tor in die Innenstadt endlich gegen den Widerstand der Straßenbahngesellschaft durchgesetzt sein wird,seine Verkehrsmisere in den Hauptadern dulden und freut sich im Genuß seiner kurzen Untergrundstrecke vom Nollendorfplatz bis zum “Knie” auf eine bessere Zukunft.

Aber den Weltrekord hält augenblicklich und wahrscheinlich auf lange Zeit hinaus der riesige Vorort des “Landes der unbegrenzten Möglichkeiten”, Neuyork, mit seinem über alle Maßen gesteigerten Verkehr in der aus Wolkenkratzern zusammengesetzten City auf dem Manhattan Island.

Auf der Fahrt durch die Tube

Es hat sich in vier Jahren mit einem Aufwand von 140 Millionen Mark durch die Arbeit eines Heeres von 10 000 Arbeitern die längste und komfortabelste Tunnelbahn der Welt geschaffen, viergleisig ausgebaut, mit je zwei Gleisen für Fern und Lokalverkehr, ein Wunderwerk genialen Entwurfs, finanzieller Kühnheit und subtiler Technik. England kann mit Recht stolz darauf sein, daß einer seiner Söhne, der Schotte John Macdonald, der leitende Ingenieur des Riesenwerkes gewesen ist, der mit unbeugsamer Energie alle Schwierigkeiten überwand, die Natur, Kultur und die Eigenwilligkeit der amerikanischen Gewerkschaften seinem Plan entgegentürmten.

Dieser Artikel erschien zuerst 1904 in Die Woche.