Moderne Frühjahrstoiletten

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Hierzu 5 photographische Aufnahmen von Reutlinger, Paris.
Die Pariser Damenschneiderzunft, repräsentiert durch die Chiffonkönige, die in dem elegantesten Zentralviertel, in den Straßen de Rivoli, de la Pair, du Helder, auf den großen Boulevards, um die Oper und in benachbarten Verkehrsadern ihre Paläste aufgeschlagen haben, ist ausnahmslos von dem Ehrgeiz erfüllt „stilvolle“ Modelle zu liefern und zu zeigen, daß sie das Gebiet beherrscht, was man hier mit der Phrase „avoir du genre“ bezeichnet.

Mit dem Begriff „stilvoll“ verbindet der Damenschneider, der übrigens gegen die Bezeichnung „Tailleur“, wenn er sich nicht ausschließlich mit englischen „tailorgowns“ und Reitkleidern abgibt, Verwahrung einlegt und den Titel „couturier“ beansprucht, gewisse Erinnerungen an historische Kostümkunde, die sich aber der jeweiligen Mode anpassen und unterordnen, also die Eigenart des sogenannten historischen Stil vielfach den Ansprüchen des aktuellen Geschmacks opfern und so die Toiletten produzieren, die aus den verschiedensten Epochen die hübschesten Blüten einsammeln und zu dem häufig heterogenen, immer aber gefälligen Ganzen zusammenstellen, das eine der Hauptgrundlagen der Pariser Mode bildet. Ich will mit dem Vorstehenden durchaus nicht gesagt haben, daß es um die ernsthafte Kenntnis der Kostümkunde der Pariser Damenschneider nicht gut und zuverlässig bestellt sei; im Gegenteil: die Leute wissen auf diesem Gebiet sehr gut und sehr gründlich Bescheid; ihre Rekonstruierungen vergangener geschichtlicher Epochen sind Meisterleistungen.

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Man braucht nur Jane Hading in der Bergeralschen „Pompadour“ und die von ihr getragenen Kleiderschöpfungen Redferns gesehen haben, an denen auch nicht der kleinste Anachronismus aufzufinden war.

Kleiderkünstler, die von traditionsleidenschaftlichen Schauspielerinnen (ich erinnere nur an „Madame Sans-Géne“, an „Werther“ und die soeben erschienene „Montansier“), erzogen und ausgebildet sind, müssen notgedrungen von höchster Kompetenz auf dem Kostümgebiet sein. Ihre unnachahmlichen Leistungen tragen denn auch viel, manchmal alles zu dem allerdings meist vorübergehenden Erfolg von Stücken bei, deren Hauptreiz aus der historischen Raritätenkammer und aus den internationalen Garderoben der landläufigen Inspiratorinnen historischer Auffrischungen stammt. Solange der Schneider durch die Grenzen der Bühne auf bestimmte Seiten und Orte in seinen Schöpfungen beschränkt ist, legt er seiner Phantasie Zügel an. Sobald es sich aber um die Schaffung moderner Toiletten unter Anlehnung an irgendeinen „Stil“ handelt, sei dieser nun der Geschichte, der Literatur, der Völkerkunde entnommen, benutzt er alle möglichen Motive und Ideen. Mit dieser Unterordnung des so häufig angerufenen, sehr beliebten, aber duldsamen „Stils“ schafft die Pariser Mode die Toiletten, die „Genre“ haben, und die in diesem Frühjahr eine der wenigen auf dem Plan erscheinenden Neuheiten bilden.

Abb. 2 zeigt ein hochmodernes, ganz neues, soeben erschienenes Frühjahrskleid, in dem sich die Epochen „Pompadour“, also „Louis XV.“ mit der Anmut der Zeit des unglücklichen Königs Ludwig XVI, die eigentlich nach seiner Gemahlin „Marie Antoinette“ heißen müßte, zu einem gefälligen Ganzen vereinigen. Das Kleid besteht aus der leichten cremefarbenen „Louisine“, die eine phantasievoll ausgestaltete Seidenneuheit der Saison ist. Schmal und breitere Atlasstreifen, in Gruppen geordnet bedecken den Grundstoff, der außerdem mit Pompadourbuketts durchsetzt ist. Vorn offen, zeigt der langschleppende, mit zwei Rüschen à la vieille umrandete Rock ein Unterkleid aus volantiertem und gepufftem cremefarbenem Seidenmusselin. Ueber diesem Rockarrangement reinsten Pompadourgenres erhebt sich ein mäßig ausgeschnittene gefälteltes Mieder „Marie Antoinette“ aus Seide, über dem das vorn geschlungene Fichu aus cremefarbenem Seidenmusselin jeden Zweifel an der Originalepoche aufhebt, während die Spitzenengageantes der Ellbogenärmel wieder älterer Geburt sind. Der drapierte cremefarbene Seidengürtel und der linksseitig aufgeschlagene Strohhut, mit Spitzenbarbe und Feder garniert, geben der duftigen Toilette die wirksame neomoderne Note.

4. Frühjahrskleid aus gemustertem leichtem Taffet. Atelier Martial u. Armand
4. Frühjahrskleid aus gemustertem leichtem Taffet. Atelier Martial u. Armand
1. Leichtes Kleid aus mattgrauem Leinenstoff. Atelier Martial u. Armand. - Phot. Reutlinger, Paris
1. Leichtes Kleid aus mattgrauem Leinenstoff. Atelier Martial u. Armand. – Phot. Reutlinger, Paris
5. Köstüm aus mattrotem Tuch für kühle Tage. Atelier Wallés
5. Köstüm aus mattrotem Tuch für kühle Tage. Atelier Wallés

Das Kleid auf Abb. 4 rühmt sich keines besonderen Stils, hat aber den Vorzug, ein sehr hübsches Exemplar der jetzigen Frühjahrsmode zu sein. Der in kleinen weißen und braunen Karos gemusterte leichte Taffet ist in einem glatten, mit zwei gebrannten Volants und mit Knöpfengruppen garnierten Rock geordnet. Die Faltenbluse mit volantierter Kragengarnierung öffnet sich ein wenig am Hals und läßt ein Chemisett aus weißem Musselin sehen. Brauner Taffet, in Musselinenden krawattiert auslaufend, stellt die moderne Halsausschnittumgebung her und legt sich als drapierter Gürtel um die Taille. Die Ellbogenbausche der Aermel enden in zwei offene Manschettenvolants, mit brauner Taffetschleife gehalten.

Die Toilette auf Abb. 1 stellt in ihrem mattgrauen widerstandsfähigen Leinenstoff, einer Art englischen Leders, schon ein ganz sommerliches Kostüm dar, an dem sich die getollten (gebrannten) Volants am Rock und als Aermelgarnierung wiederholen. Die halblangen Armbekleidungen, die an der Frühjahrsmode vorherrschen, scheinen die Mode der knopflosen langen schwedischen Handschuhe nach sich ziehen zu wollen; jedenfalls ist zu hoffen, daß überhaupt und allgemein nun wieder die Hände bekleidet werden, da die Wirkung des Sonnenbrandes auf die durch die aktuelle Aermelmethode bloßbleibenden Unterarmre selbst die leidenschaftlichsten Anhängerinnen der mit der Weltausstellung 1900 eingeführten unbehandschuhten, ringbeladenen Hände davon zurückbringen dürfte.

2. (l) Hochmodernes Frühjahrskleid aus cremefarbiger Louisine. Atelier Rouff. 3. (r) Kleid aus mattrosa Leinenstoff über rosa Seide. Atelier Redfern
2. (l) Hochmodernes Frühjahrskleid aus cremefarbiger Louisine. Atelier Rouff. 3. (r) Kleid aus mattrosa Leinenstoff über rosa Seide. Atelier Redfern

Schon an die zukünftigen „Garden Parties“ mahnt das mit englischer Stickerei auf dem Grundstoff selbst gezierte Kleid (Abb. 3), das aus mattrosa Leinenbatist über rosa Seide gearbeitet und auf Rock und ausgeschnittenem Mieder dreifach volantiert ist. Das moderne Volantarrangement, das eine ganz besondere Neuheit der diesjährigen Saison darstellt, wiederholt sich an den kurzen, durch drei Volants gebildeten Aermeln. Der aus dem runden Ausschnitt hervorragende Hals ist mit einem Fichu aus rosa Seidenmusselin verhüllt.

Für kühlere Tage paßt das Kleid aus feinem mattrotem Tuch auf Abb. 5. Der Rock ist in Blenden gelegt; sein Arrangement wie das des Mieders bringen die moderne Gruppenteilung der Garnierungen zur Anschauung. Rotes, schmales Seidenband, teilweise mit dunkelroten Samttupfen durchsetzt, legt sich in regelmäßig eckigen Figuren auf den zwischen den Blenden den Rock halbierenden glatten Raum, steigt in den gleichen Figuren vorn schürzenartig empor und garniert die breiten Ueberfallklappen der Bauschärmel, die sich über langen, engen Gipüremanschetten dehnen. Gipüre bildet die blusenartige Unterlage des noch einmal die dauerhafte Boleroform auffrischenden Mieders; hier leiht der Bolero seine Gestalt dem an seine Stelle tretenden Kragenarrangement, das, wie schon an dieser Stelle verschiedentlich erwähnt, mit seinen vorn als Diminutivstola auslaufenden Krawattenenden kaum an einem Frühjahrskleid fehlt.

Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 16/1904, er war gekennzeichnet mit „Clementine“.