Der Simplontunnel und der internationale Verkehr

Karte der Einflusszonen der Simplonbahn

Der Einfluß der mächtigen Alpenkette, die unsern Erdteil auf einer Länge von über 800 Kilometer in so verschieden artige Länder und Völker teilt, wird durch die Fortschritte der modernen Verkehrsmittel immer geringer.

Schon vor einem halben Jahrhundert wagte man es an der Semmeringbahn, der ältesten Alpenbahn (Wien-Gloggnitz-Mürzzuschlag-Triest), mit einer Lokomotive über die östlichen Ausläufer der Alpenkette zu fahren. Gegenwärtig nun geht der längste und gewaltigste Tunnel, der je unternommen wurde, seiner Vollendung entgegen. Diese neuste Alpenbahn soll sogar keine eigentliche Bergbahn mehr sein, da sie nicht mehr als 705 Meter Höhe ü. M. erreichen und überhaupt keine andauernden starken Steigungen aufweisen wird.

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Die früheren Alpenbahnen mußten beträchtliche Meereshöhen erklimmen (Brenner 1367 Meter; Mont-Cenis 1300 Meter; Gotthard 1100 Meter; Arlberg 1300 Meter ü. M.), damit nur die höchste Scheidewand durch einen verhältnismäßig kurzen Tunnel zu durchfahren war (Brenner kein Tunnel; Mont-Cenis 12 Kilometer-, Gotthard 15 Kilometer-, Arlberg 10 Kilometer-lange Tunnel). Der Drang unserer Zeit, rasch und auf kürzester Strecke zu fahren, hat jetzt eine bemerkenswerte Abwechslung gezeitigt: der Simplontunnel wird nahezu 20 Kilometer lang (genau 19 730 Meter), ohne daß die Zufahrtbahnen von Lawinen und gefährlichen Bergstürzen bedroht sein werden, weil sie sich sozusagen in der Ebene befinden; die einzige Strecke mit starkem Gefäll liegt an der unvermeidlichen hohen Stufe zwischen der schweizerischen Hochebene, bezw. dem Rhonetal (700 Meter ü. M) und der italienischen Poebene, bezw. dem Tocetal etwa 300 Meter ü. M.

Nicht weniger als 50 Jahre sind es her, seitdem von dem Simplondurchstich die Rede ist. Schon zu Beginn der fünfziger Jahre wurden die Konzessionen zu einer Eisenbahn vom Genfersee nach Italien durch den Simplon erworben.

Ein Blick auf die Karte der Schweizer Alpen zeigt, warum der Simplon diese Bevorzugung verdient. Das tief eingeschnittene Rhonetal liegt dem noch tiefer gelegenen italienischen Tocetal fast gegenüber. Jahrelang wurde jedoch die Entfernung für zu groß gehalten, als daß man es gewagt hätte, einen Tunnel auszuführen und jene leistungsfähige Eisenbahn herzustellen, wie man sie wünschte, und wie die Natur sie so vorteilhaft zu bieten schien.

Noch mehr aber ist es wohl politischen Einflüssen zuzuschreiben, daß dieser Alpendurchstich so lange nicht zustande kam. Frankreich konnte sich nicht entschließen, das Unternehmen finanziell zu begünstigen, weil man befürchtete, daß Marseille durch den Simplonverkehr, die Mont-Cenisbahn und die Bahnen im südöstlichen Teil des Landes überhaupt geschädigt werden könnten. Anderseits wurde von Deutschland gemeinsam mit den politischen Führern der mittel-schweizerischen Kantone in den siebziger Jahren der Bau der Gotthardbahn gefördert, was eine bedeutende Verzögerung des Baus der andern schweizerischen Alpenbahnen (Simplon- und Splügenbahn) zur Folge hatte.

Der beitriebstechnisch ungünstigere Gotthard liegt eben politisch viel vorteilhafter als die andern Wege, die nördlich nicht mitten in ein Land, sondern je zwischen zwei Länder münden.

Schließlich muß es aber noch als ein Glück angesehen werden, daß an dem Simplondurchstich nicht zu hastig begonnen und gepfuscht, sondern so lange gewartet wurde, bis die Tunnelbaukunst auf die Höhe gelangte, die es ermöglicht, daß die Technik die ungemein schwierige Aufgabe, die sich hier darbot, auch lösen konnte.

Bekanntlich hatte Ingenieur Brandt aus Hamburg schon während des Baues der Gotthardbahn seine Bohrmaschine erfunden und zur Geltung gebracht. Beim Bau der Arlbergbahn hatte sich diese Maschine ebenfalls bewährt. Eine weitere Vervollkommnung war aber noch notwendig, um die hohen Temperaturen zu mildern, die 2500 Meter tief unter der Erdkruste herrschen. Die Temperatur des Felsens erreichte bis 53,6 Grad C. und beträgt gegenwärtig an der nördlichen Angriffsstelle 49 Grad C. Die Lösung dieses Problems wurde im sogenannten Zweistollenbau (es werden nämlich zwei getrennte Tunnel – für jedes Gleis der doppelspurigen Bahn – gleichzeitig gebohrt und je weiter nur „vor Ort“ miteinander verbunden; Tunnel II dient fast ausschließlich als Luftzuleitungsröhre zur Angriffsstelle beider Stollen) gefunden, der es ermöglicht, einen mächtigen frischen Luftzug durch jede Angriffsstelle ziehen zu lassen, d. h, den angefangenen Tunnel selbst als Ventilationsrohr zu verwenden.

Karte der Einflusszonen der Simplonbahn
Karte der Einflusszonen der Simplonbahn

Gegenwärtig sind 95 Prozent der Tunnellänge gebohrt, und es ist zu erwarten, daß das mächtige Friedenswerk gegen Ende dieses Jahres vollendet sein wird.

Welchen Einfluß der Simplontunnel auf den Verkehr aus übensoll, wird schon seit Jahren auseinandergesetzt und berechnet. Doch diese Art von Berechnungen bildet keineswegs eine mathematische Wissenschaft, und sichere Schlüsse lassen sich im voraus durchaus nicht ziehen.

So wurden zum Beispiel die vor Eröffnung der Gotthardbahn aufgestellten Berechnungen stark, aber in ganz anderer Weise, als erwartet, übertroffen. Die Experten hatten die kilometrischen Einnahmen der Gotthardbahn auf 48 000 Frank geschätzt. Zwölf Jahre nach Eröffnung des Betriebes betrugen die Einnahmen schon 60 000 Frank und erreichten im vergangenen Jahr 80 000 Frank. Ferner wurde festgestellt, daß die Güter vom Hafen Genua, von dem man sich für die Gotthardbahn so viel versprochen hatte, nur im Verhältnis von fünf bis höchstens neun Prozent über den Gotthard nach Deutschland befördert werden: von 1000 Wagenladungen ab Genua gelangen nur etwa 50 durch die Alpen via Gotthard.

Es ist also am besten, wenn man nicht so viel Gewicht auf die italienischen Seehäfen legt, zumal die westlichen und nördlichen Seestädte auch dank der Binnenschiffahrt eine verhältnismäßig ausgedehntere Einflußzone besitzen.

Man geht daher entschieden zu weit, wenn man sich den Simplon als eine transeuropäische Bahn denkt, wie es einige französische Schriftsteller tun, und sich durch Programme wie: „Nantes-Brindisi“ oder gar „Calais-Saloniki“ verlocken läßt. Die Frachtdifferenz zugunsten der Seefahrt via Gibraltar ist für den Gütertransport so groß, daß man aus solchen Hoffnungen unmöglich gesunde Schlüsse ziehen darf.

Wie weit soll sich denn der Einfluß des neuen Durchstichs fühlbar machen?

Es muß hier zur Klärung der ganzen Frage der Personenverkehr vom Güterverkehr unterschieden werden. Der Güterverkehr bildet im allgemeinen den größeren Teil der Einnahmen einer Bahn, weshalb die Berechnungen auch hauptsächlich auf den Güterverkehr, somit auf die kürzesten Transportweiten bezw. auf die billigsten Betriebskosten gestützt werden müssen. Es sei hier erwähnt, daß der Personenverkehr der Gotthardbahn im Jahr 1903 das hohe Verhältnis von 40 Prozent der Gesamteinnahmen aufweist.

Für den Personenverkehr ist die Grundlage anders, da die kürzesten Fahrzeiten, die besten Verbindungen und die Annehmlichkeiten der Reise fast ausschließlich den Ausschlag geben. Man sieht sofort ein, wie hier für die Konkurrenz ein weiteres Feld offen vorliegt.

Darum sind nur die sogenannten Einflußzonen für den Güterverkehr mit einiger Sicherheit zu ermitteln. Aus den für die Simplonbahn angestellten Berechnungen (vgl. Robert Bernhardt; „Die schweizerischen Ostalpenbahnen“, Zürich 1903) geht hervor, daß z. B. in bezug auf den Hafen Genua die Einflußzone des Simplontunnels, d. h. jene Plätze, die am billigsten durch den Simplontunnel von Genua aus erreicht werden können, durch zwei gradlinige Züge Genf-Bologna und Bern-Brüssel begrenzt werden. Für Mailand, Venedig und Ancona erstreckt sich der Sektor nach Westen bis nahezu Lyon-Nantes (s. die schraffierte Fläche auf der Karte).

Für fast alle Plätze Italiens teilen sich die Gotthard- und die Simplonroute in den Güterverkehr ziemlich gleichmäßig nach dem Zug Bern-Belfort-Nancy-Méziéres-Brüssel-Vlissingen.

Die westliche Grenze des Einflußsektors des Simplontunnels, mit andern Worten dessen Teilungslinie mit der Einflußzone des Mont-Cenistunnels variiert dagegen, und es öffnet sich der Sektor nach Westen für die östlichen Städte Italiens; er schließt sich dagegen für den westlichen Teil, von wo aus Frankreich durch den Mont-Cenis leichter erreichbar ist.

England stößt sowieso an den Simplonsektor an, kommt aber nur für den Schnellverkehr – sowie auch jedenfalls für den Personenverkehr – nach Italien in Betracht.

Zusammenfassend, kann folgendes von dem Einfluß des Simplondurchstichs auf den Weltverkehr behauptet werden; für den Personenverkehr wird er hauptsächlich und von Anfang an den Reisenden aus England, Ost und Nordfrankreich (Paris und Le Havre, somit Amerika inbegriffen) sowie aus der Westschweiz den kürzesten Weg nach Italien bieten.

Für den Güterverkehr wird er nur den Transitgüterverkehr Nord- und Mittelfrankreichs mit Italien und umgekehrt ableiten. In welchem Maß und wie bald dies geschehen wird, hängt von dem Bau, beziehungsweise der Verbesserung günstiger Zufahrten ins Rhonetal ab.

Als sicher läßt sich behaupten, daß sich der Verkehr reger und stets zunehmend gestalten, und daß dieses Meisterwerk der modernen Technik ein bleibendes, nützliches Denkmal des vergangenen Eisenbahnjahrhunderts und des beginnenden Friedensjahrhunderts sein wird.

Dieser Artikel erschien zuerst in Die Woche 17/1904, er war gekennzeichnet mit „Ingenieur Elskes“.