Münchner Kellerleben

Ist es noch nötig zu sagen, was der Münchner unter einem „Keller“ versteht ? Jenen tiefen Keller, den die Bassisten in ihrer Lieblingssolonummer preisen, ganz gewiß nicht, denn die Bräuwirtschaften, kurzweg Keller genannt, liegen nicht tief, sondern meistens hoch.

Es giebt ihrer die verschiedensten Arten; kleine, die ein begrenztes Stammpublikum haben und wo eine innige Fühlung zwischen den erbeingesessenen Gästen und den ehrwürdigen Kellnerinnen besteht, und andere wieder, so gigantisch groß, daß man alt und schwach wird, ehe man von einem Ende zum andern gelangt. Was dem flüchtigen Beobachter zuerst auffällt, ist der demokratische Zug, der hier, wie überall in München, die Physiognomie des Publikums beherrscht, aber wer das Kellerleben gründlicher studiert, findet doch gewisse Unterscheidungsmerkmale Da giebt es Wirtschaften, in denen der Beamte, der typische „Herr Rat“ dominiert, andere, wo der „kleine Mann“, der Handwerker und Arbeiter verkehrt, andere wiederum, die mit besonderer Vorliebe von der studierenden Jugend und den Fremden aufgesucht werden – nennt doch der Münchner Volkswitz einen der größten Biergärten den „Berliner Keller“, weil er von den Touristen, unter denen die norddeutschen Landsleute vorwiegen, gern besucht wird – und sogar solche, wo mit merkwürdiger Exklusivität Elemente verkehren, für die die Polizei ein starkes Interesse bekundet und wo jede Razzia meistens einen guten Fang ergiebt.

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„An schönen Sommertagen, wenn lau die Lüfte wehn“ und die Fiakergäule unter den sengenden Sonnenstrahlen noch melancholischer als sonst den Kopf hängen lassen, wälzt sich um die Zeit des Feierabends eine kleine Volkerwanderung vom Zentrum der Stadt nach der Peripherie, wo unter schattigen Bäumen kühlendes Naß sprudelt. Mit der Lauheit der Lüfte hat es nun freilich an der Isar seine eigene Bewandtnis, denn die Winde, die über die bayrische Hochebene streichen, sind keine säuselnden Zephyre, wie sie der Wald- und Wiesendichter liebt, sondern eigensinnige Burschen und allerhand Schabernack hold. Aber das ficht den Münchener nicht an, der ist wetterhart unter seinem Lodenrock und läßt sich von Abendkälte und Regenschauern nicht so leicht in die Flucht jagen, wenn der „Stoff“ nur gut und der ganze Keller „zünftig“ ist – der modernste Sprachgebrauch würde dafür „tadellos“ setzen.

Der Bierwagen ist angekommen

Anspruchsvolle Leute, die dem Komfort nicht gern entsagen, bleiben dem Keller besser fern, denn der mit grobem Kies bestreute Boden, die aus rohem Holz gefügten, ungedeckten, reichlich mit Gerstensaft getauften Tische und alle sonstigen Utensilien und Attribute sind in ihrer natürlichen Derbheit nicht geeignet, verfeinerte Geschmacksnerven angenehm zu kitzeln. Wer aber das Volksleben gern dort belauscht, wo es sich am zwanglosesten giebt, und Humor genug hat, um schlichten Sitten und urwüchsiger Frische die besten Seiten abzugewinnen, der findet hier seine Rechnung und kann interessante Studien machen.

Der Schaukelbaum

Bei der Wahl des Kellers ist für den echten Münchner, der das Problem von Kraft und Stoff auf seine Art und zu seiner vollsten Zufriedenheit gelöst hat, weniger die Frage des Komforts, als vielmehr die Bierfrage ausschlaggebend, und da platzen denn die Meinungen oft heftig genug aufeinander. Ameier schwärmt fürs X-Bräu, Bemeier nennt das ein „Gsöff“ und findet fürs U-Bräu zündende Worte edler Begeisterung, während Cemeier beides verwirft und mit dem schönen Brustton der Ueberzeugung zur Fahne des Z-Bräus schwört. Erst in zweiter Linie kommt die Essenfrage in Betracht, für sehr viele spielt sie überhaupt deshalb keine Rolle, weil sie sich die Atzung mitnehmen und vom Wirt höchstens das – Salzfaß requirieren. Wenn die Kellerküche auch nicht imstande ist, jenen Gaumen zu schmeicheln, die mit Ortolan de la Duchesse sozusagen groß geworden sind, so hat sie doch ihre unleugbaren Reize. Da findet man alle die bekannten Münchner Nationalgerichte, vor allem die – leider fast regelmäßig schon „gestrichene“ – Kalbshaxe, bei deren knusprigem, überwältigendem Anblick die ältesten Bierherzen vor freudiger Aufregung zittern, dann den unvermeidlichen Nierenbraten (ohne Niere!), Schweinsbraten und Gratbraten, auch Ripperl, Geselchtes, Lüngerl und Ganserl, von kalten Sachen die traditionelle Trias: Käse, Radi und harte Eier.

Krüglwaschen am Brunnen

Die Bedienung liegt, wie überall in Bayern, in den Händen des zarten Geschlechts. Ueber die Kellnerinnen ließe sich manches sagen – doch das ist ein weites Feld. Es giebt junge und es giebt alte. Wem an prompter Bedienung liegt, der halte sich an möglichst alte und möglichst „wüste“ (d. h. minderschöne) aber man muß sie gut behandeln, denn es sind empfindsame Wesen, und wenn man sie kränkt, werden sie zu Hyänen, worüber in Friedrich Schillers Lied von der Glocke Näheres nachzulesen ist. Am allerbesten wird bedient, wer sich selbst bedient. Man geht zur Schenke, nimmt aus dem Spülbottich einen wuchtigen Maßkrug, spült ihn aus und schließt sich dem langen Zug an, der vor dem Heiligtum des Schenkkellners Queu bildet. Man wartet geduldig, bis man an die Reihe kommt, läßt sich den Krug vollschenken, zahlt und hat nun unbeschränkte Genußfreiheit.

An der Schenke

Wenn ich sage: Krug vollschenken, so möchte ich damit nur den Wunsch bezeichnen, der den Durstenden beseelt, nicht aber die Thatsache. Denn das Wort „Vollschenken“ kommt im Lexikon eines Münchner Schenkkellners nicht vor; „drei Quarteln“ in einen Literkrug, das ist so das Höchste. Ja, die Herren Schenkkellner!

Sie lösen das schwierige Problem, wie man aus einem Hektoliter 125 Liter herausschlägt, mit spielender Leichtigkeit. Das Publikum fügt sich, wenn auch murrend, in diesen geheiligten Brauch, und selten nur findet sich ein Beherzter, der dem stiernackigen Herrn mit den kunstvoll in die Stirn geklebten Sechserlocken den Bierfehdehandschuh hinschleudert. Dann giebt es, zum Gaudium des ganzen Kellers, ein homerisches Geschimpfe mit reichlichen Verbalinjurien von wahrhaft gargantuanischer Drastik. Hin und wieder wird auch mal ein Schenkkellner wegen Betrugs bestraft, und nachher – bleibt es beim alten.

Am Büffet. Im Hintergrund die Küche

Jeder Bierehrliche weiß, daß das Münchner Bier, an der Quelle getrunken, von vorzüglicher und leicht bekömmlicher Qualität ist; man kann ein gehöriges Quantum davon vertragen, zumal wenn man ihm ein kongeniales Essen mit auf den Weg giebt. Das schlägt ins Ressort der Wirtin. Auf den einfacheren Kellern, wo noch die gute alte Sitte gilt, steht die Wirtin gewöhnlich ein gutgepolstertes Frauchen mit einem dreistöckigen Kinn – selbst am Speisenschrank und leitet den Betrieb, kaltblütig und umsichtig, wie ein Feldherr in der Schlacht. Mit ruhiger Gemessenheit, hier anfeuernd, dort besänftigend tönt durch die Brandung des Stimmengewirrs ihr einschmeichelnder Alt: „Resi, was is mit dem Herrn Direktor seine Schweinshaxen ? In drei Minuten ist Ihr Hirn fertig, Herr von Meier! Mögen s an Salat zu Ihre Hammelnieren, Herr Nachbar? Jessas, sie da hinten, drucken S’ doch net so!“

Musik erfreut des Menschen Herz, deshalb kann es nicht wundernehmen, daß überall in München, wo die Gambrinusquelle lebhaft sprudelt, lustige Weisen locken.

Nachmittage im Garten

In den feineren Kellerwirtschaften hört man gute Militärmusik. in den einfachen waltet die ewig „verstärkte Hauskapelle“ ihres Amtes und leistet besonders mit den dynamischen Effekten der großen Pauke ein Erkleckliches. Wenn dann die altbekannten Bocklieder und Ländler erklingen, z. B. „Guten Morgen, Herr Fischer“, oder „Was braucht denn der Bauer an Huat“, werden die Refrains aus tausend frischen Kehlen mitgesungen.

Harmlose Fröhlichkeit – so ist es recht, denn wer wollte sich dem schalkhaften Tiefsinn jenes oberbayrischen G’stanzerl verschließen, das da sagt:

„Der Mensch muß a Freud haben,
Und a Freud muß der Menschen haben,
Denn wenn der Mensch ka’ Freud hat,
Was hat nacha der Mensch?“

Dieser Artikel von Victor Ottmann erschien zuerst am 09.08.1902 in Die Woche.