Ein gastronomisches Dokument

Plauderei von Johannes Trojan. Vor mir liegt die Photographie einer Speise- und Weinkarte des Hoftraiteurs J. Jagor, Unter den Linden Nr. 23 in Berlin, vom Jahr 1825. Das Original befindet sich im Besitz der Weinhandlung Peter Joseph Valckenberg in Worms, Eigentümerin des Liebfrauenmilchweinguts, und ist von dem Urgroßvater des jetzigen Besitzers dieses Weinguts, der alljährlich zum Verkauf seiner Liebfrauenmilch nach Berlin reiste, von dort mitgenommen worden.

Jagor war im vormärzlichen Berlin, wie man das Berlin der Zeit vor 1848 nennt, etwa das, was nachher Borchardt, Hiller und Dressel wurden.

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Berlin hatte 1825 etwa 250 000 Einwohner, war also immerhin schon eine große Stadt und dazu Residenzstadt, der es nicht an Gourmets gefehlt haben wird, die zu Jagor gingen, um fein zu essen. Diese Speise- und Weinkarte aber ist interessant in mehr als einer Hinsicht. Zunächst ist ihr das Datum des Tages bereits aufgedruckt, und zwar das des 19. April 1825. Die Preise aber sind berechnet in Alt Courant, das heißt in Thalern und guten Groschen. Vier Gute waren gleich fünf Silbergroschen, also war ein Guter Groschen so viel wie 12 ½ Pfennig nach heutigem Geld.

Die Jagorsche Speisekarte weist keine sehr lange Reihe von Delikatessen auf. Zuerst zu nennen sind Austern, ohne Zweifel holsteinsche, das Dutzend zu 18 Gr. = 2 Mk. 25 Pf.

Das erscheint, wenn man bedenkt, daß damals der Wert des Geldes mindestens noch einmal so groß wie jetzt war, als ein recht hoher Preis, freilich aber kamen um jene Zeit die Austern noch nicht auf der Bahn von Hamburg nach Berlin, sondern mußten mit der Post versandt werden, und das verursachte natürlich, wenn die Beförderung, wie es bei Austern wünschenswert ist, recht rasch vor sich gehen sollte, bedeutend mehr Kosten. Von Austergerichten sind dann noch auf der Karte vermerkt: „Blanquet de volaille mit 2 Austern en Coquille“ zu 6 Gr. „6 Austern en Coquilles“ zu 9 Gr. Und „ 1 junges Huhn mit 3 Austern“ zu 9 Gr. „2 Kiwitzeier“ kosten 6 Gr., was auch als ein ziemlich hoher Preis anzusehen ist. Auch Wild ist nicht billig. Von solchem sind auf der Karte außer Reh verzeichnet: „1 Krammetsvogel“ à 4 Gr. Und „½ Rebhuhn“ à 9 Gr. Ferner findet sich „Ragout von Rebhühnern garné“ (so geschrieben) à 8 Gr. Für einen Krammetsvogel und für ein halbes Rebhuhn ist das sehr viel Geld. Uebrigens muß man wohl annehmen, daß es sich um konservierte Rebhühner und Krammetsvögel handelt, die im Herbst schon gebraten und dann in Fett eingelegt sind.

Berliner Speise- und Weinkarte aus dem Jahr 1825

Von anderm Vogelwild finden sich noch auf der Speisekarte „l kleine Becassine“ und „l Waldschnepfe“. Erstere kostet 7 Gr., letztere 1 Thlr. 4 Gr. Die Waldschnepfe ist das teuerste Gericht auf der ganzen Karte.

Unter den Gemüsen sind als Neues vom Jahr außer „Spinath mit Eiern“ (4 Gr.), „Morcheln mit saucisses“ (4 Gr.), „Mohrrüben mit Lachs“ (7 Gr.) und „Grüne Bohnen mit Omelett“ (8 Gr.) anzuführen. Es wurden also auch damals schon grüne Bohnen und Mohrrüben im Mistbeet für den Schlemmer gezogen. Spargel fehlen auf Jagors Karte, obwohl die Spargeltreiberei schon vor weit mehr als hundert Jahren bekannt war.

Unter den übrigen Speisen und Zuspeisen des Jagorschen Restaurants, die am 19. April 1825 zu haben waren, ist mir nichts Besonderes aufgefallen.

Sehr interessant ist die Jagorsche Weinkarte, auf der sich in auffallender Weise der Wechsel der Mode auf dem Gebiet des Weintrinkens kundgiebt. Sie umfaßt „Feine Franz-Weine“, „Rhein-, Stein und Mosel-Weine“ und „Dessert-Weine“. Unter den französischen Weinen befinden sich drei rote Bordeauxweine, vier Weißweine, vier Burgunderweine, eine Sorte Champagner, dann weißer und roter „Hermitages“, eine von alter seit her berühmte Weinmarke zu 2 Thlr. die Flasche, und „Perrey“, der ebensoviel kostet. Von den Rot- und Weißweinen sind „Bordeaux“ und „Graves“ Tischweine zu ½ Thlr. die Flasche. Der teuerste Bordeaux ist „Chäteau Lafité“ (so geschrieben) zu 2 Thlr; unter den Weißweinen kosten Haut Sauternes von 1807 und dieselbe Marke von 1819 1 ½ Thlr.; auch die Burgunder gehen nicht über ½ Thlr, und der Preis des Champagners beträgt 2 Thlr. für die Flasche. Deutsche Champagner oder Sekte gab es damals noch nicht. Von den französischen Weinen wurden die Weißweine vielfach den roten vorgezogen, und diese Vorliebe für weiße französische Weine erstreckte sich noch bis in meine Zeit hinein. Ich hörte noch in Mecklenburg sagen: „Der richtige Trinker (oder „Süper“ vielmehr, wie man dort sagte) fängt erst mit Weißwein an.“ Längst sind die französischen Weißweine altmodisch geworden, und ebenso ist es den Burgunderweinen ergangen, die einst so sehr bei uns beliebt waren. Mit dem Aufhören ihrer Beliebtheit sind dann wohl auch die prächtigen Burgundernasen seltener geworden.

Ich komme zu den Rhein-, Mosel- und Steinweinen. Weit mehr hier noch als bei den französischen macht es sich geltend, daß ein andersdenkendes Geschlecht von Zechern aufgekommen. Jetzt kann man sich keine Weinkarte denken ohne eine lange Reihe von Mosel- und Saarweinen, auf dieser alten Jagorschen Karte aber kommt unter zwanzig deutschen Weinen nur ein einziger Moselwein vor, und zwar ohne besonderen Namen als „22er Mosel-Abstich“ zu ½ Thlr. die Flasche. Der Moselwein war sozusagen noch nicht entdeckt worden. Wenn man übrigens auf dieser Weinkarte noch vier Elfern begegnet, zwei Rheinweinen darunter, einem Steinwein und einem Leistenwein, dann wird einem ganz wehmütig zu Mut, und das Wasser läuft einem im Mund zusammen. O daß man nicht damals schon gelebt hat! Das steht jedoch felsenfest, daß etwas so Gutes wie in dem großen Kometenjahr 1811 nachher nicht wieder gewachsen ist. Es giebt noch Elfer. Vor kurzer Zeit fand in Berlin eine Versteigerung Wilhelmischer Flaschenweine statt, zu denen auch 60 Flaschen Rüdesheimer von 1811 aus den Kellereien Napoleons I. gehörten. Von diesem Wein habe ich vor ein paar Jahren noch getrunken, fand ihn aber doch schon zu sehr gealtert. Dagegen muß er 1825 noch von vortrefflichem Geschmack gewesen sein. Es ist auf der Jagorschen Weinkarte ein noch älterer Wein als der Elfer nämlich ein Hof-Leistenwein von 1785, zu finden, der wohl damals mehr seiner Seltenheit als seines guten Geschmack wegen geschätzt worden ist. Die Preise der deutschen Weine steigen bei Jagor bis zu 5 Thlr. für die Flasche und sind im allgemeinen mäßig. Für 93er Rheingauer Weine aus guten Tagen wird jetzt mehr als noch einmal so viel, als damals der teuerste Wein kostete, bezahlt.

Es finden sich bei den deutschen Weinen der Karte zwei unter eigentümlichen Benennungen vor: ein „Cressenwein“ von 1811 zu 2 Thlr. und ein „gefrorener Steinwein“ zu demselben Preis. Was „Cressenwein“ ist habe ich nicht erfahren können, obwohl ich bei den Weinkennern Berlins und des Rheinlandes auf und ab gefragt habe. Darin nur stimmten alle überein, daß an eine Beimischung von Kresse zu dem Wein nicht gedacht werden könne. Was dagegen unter gefrorenem Wein zu verstehen ist, wurde von mir ermittelt. Gefrorener Wein ist Wein, aus dem man einen Teil des Wassers hat ausfrieren lassen, eine früher beliebte Methode, den Alkoholgehalt und Extraktgehalt des Weines zu verstärken. setzt man Wein in flachen Schalen dem Frost aus, so friert zuerst das Wasser das man dann als dünne Eisschicht abhebt. Ein wesentlich verstärkter Wein bleibt übrig, ohne daß er an sonstigen Eigenschaften verloren hat. So kommt es auch vor, daß bei strengerem Frost das Wasser in überreifen Weintrauben gefriert, wenn man sie wie es am Rhein früher hie und da in besonders günstigen Jahren geschah, bis in den Winter hinein hängen lässt. Wenn dann beim Keltern das Eis vorsichtig entfernt wird, so giebt das Uebrigbleibende einen „gefrorenen Wein“ oder „Eiswein“, wie ein solcher noch im Jahr 1890 in Hattenheim hergestellt worden ist.

Unter den Jagorschen Dessertweinen spielen die Muskatweine, die auch mit der Zeit altmodisch geworden sind, noch eine bedeutende Rolle. Von andern starken Weinen ist schon Kap Konstantia zu finden. Der teuerste Wein dieser Rubrik und überhaupt unter allen Weinen der Karte ist neben dem Schloß Johannesberger Ausbruch von Mumm ein alter Tokayer zu 5 Thlr.

Das ist die Jagorsche Speise- und Weinkarte von 1825, die verziert ist mit einem Bildchen, das Bacchus auf einem Faß thronend zwischen Ceres und Diana mit ihren Attributen darstellt. so bildet eine solche Karte die einer zufällig einsteckt, und die durch günstigen Zufall aufbewahrt geblieben ist, einen kleinen Beitrag Kulturgeschichte vergangener Zeiten. Manche Bemerkung läßt sich darüber machen, manches sich dabei denken. Ueber was für Dinge sich die wohl unterhalten haben die am 19. April 1825 bei Jagor in Berlin beisammen saßen, schmausten und zechten?

Dieser Artikel erschien zuerst am 19.07.1902.