Ostereier

Der liebe, gute Osterhase! Nun hat auch er sich der „modernen Richtung“ angeschlossen! Tapfer erfüllt er seine schweren Pflichten im Sezessionsstil und à l’empire, nichts Künstlerisches bleibt ihm fremd!

Er arbeitet in den Porzellanmanufakturen mit farbenprächtigen neuen Lasuren; er hantiert in der Werkstätte des Goldschmieds mit leuchtenden Emaillen und blitzenden Edelsteinen; er begeistert den Maler, leichte und weiche Gouachebildchen auf mattfarbige Seide hinzuzaubern; er führt die Nadel der Stickerin, die mit seidenen Fäden viele zarte Ostergrüße in Sammet und Spitzen verwebt; er schlägt den größten Nutzen aus den technischen Fortschritten der Papierindustrie, die für ihn die schönsten und lustigsten Attrappen formt – aber er hockt auch noch ganz altmodisch beim Zuckerbäcker, läßt sich mit Schokolade und Kandis behandeln und seine Eier mit den buntesten Schnörkeln verzieren oder ihnen ein kleines Monocle einsetzen, durch das man üppig blühende Landschaften bewundern kann. Er schafft für die Verwöhnten wie für die Anspruchslosen; für solche, die zum „gnadenbringenden Fest“ eine kostbare Gabe spenden wollen, und für all die fröhlichen Kinderherzen und kleinen Leckermäuler, die in den verborgensten Schlupfwinkeln emsig forschen, ob auch das Häschen bei ihnen Station gemacht und seine Visitenkarte abgegeben.

„Hoher Sinn liegt oft im kind’schen Spiel!“ Dies häufig angeführte Wort könnte wohl über der ganzen Ostereierfabrikation als Devise stehen. Was einst in heidnischer Zeit als Symbol des Frũhlings, des neuerwachenden Lebens geweiht wurde, das hat sich durch Jahrhunderte immer bestimmter zu einem lieben Brauch herangebildet. Wieviel Bände und wieviel Maschinen beschäftigt jetzt der Betrieb großer Fabriken Deutschlands, die jahraus, jahrein nichts anderes als Milliarden von Ostereiern herstellen, die dann in aller Herren Länder wandern, um alte und junge Herzen zu erfreuen.

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Dieser Artikel erschien zuerst im Jahr 1900 in Die Woche, er war gekennzeichnet mit “C. D.”