Im Luftschiff über die Alpen

Die letzten 6 Momentphotographien sind von Ed. Spelterini vom Luftballon aus aufgenommen. Das Interesse für die Luftschiffahrt hat in den letzten Jahren in allen Schichten der Bevölkerung ganz außerordentlich zugenommen.

Zunächst erregen die Riesenballons, dazu erbaut, nicht mehr willenlos dem Spiel des Windes überlassen zu sein, sondern die Luft in willkürlich gewählter Richtung zu durchkreuzen, die Aufmerksamkeit und bringen die Menschen von selbst dazu, bei der Erörterung der Aussichten solcher Luftschiffe dem Gegenstand selbst näherzutreten. Gespannt erwartet man augenblicklich den Beginn der Versuche mit dem fast 12 000 Kubikmeter großen Ballon des Grafen von Zeppelin, der sich im Juni oder Juli dieses Jahre zum erstenmal in die Lüfte erheben soll. Das Verdienst aber, weiteren Kreisen den Genuß einer Ballonfahrt zugänglich gemacht haben, gebührt unstreitig den wenigen in Deutschland vorhandenen Vereinen zur Förderung der Luftschiffahrt. Männer der Wissenshaft und praktische Luftschiffer haben sich zusammengeschlossen, um in Verbindung mit der Erforschung der höheren Schichten unserer Atmosphäre einen gesunden Ballonsport zu entwickeln und dadurch neue Freunde der Luftschiffahrt zuzuführen.

Luftschiffer Ed. Spelterini

Wenn nun auch schon viele die Gelegenheit zur Ausführung einer Freifahrt mit Freuden benutzen, so würde doch wahrscheinlich der Andrang weit größer sein, wenn nicht immer noch, auch bei den Gebildeten, der Glaube herrschte, daß solche Aufliege mit vielen Gefahren verknüpft seien und daß man sich glücklich schätzen müsse, wenn man wieder heil in den Schoß der Mutter Erde zurückgekehrt sei. Es ist wahr, noch vor wenigen Jahren, als die technischen Einrichtungen eines Freiballons noch nicht so vervollkommnet waren wie heute, bot eine Landung immerhin gewisse Gefahren, und häufig zog der eine oder andere Fahrer sich – meist allerdings kleinere – Verletzungen dabei zu. Heute aber haben wir in der Reißvorrichtung eine Einrichtung, die es ermöglicht, bei der Landung den Ballon in wenigen Sekunden von der Spitze bis zum Aequator aufzureißen und dadurch das Gas mit einem Mal entweichen zu lassen. Die nicht ungefährlichen Schleiffahrten, bei denen der Ballon durch die Gewalt des Windes in rasender Schnelligkeit über das Feld getrieben und der Korb, in dem die Luftschiffer Platz genommen haben, auf der Erde nachgeschleift wurde, kommen nicht mehr vor, weil der Wind bei dem Ballon keine genügende Angriffsfläche mehr vorfindet.

Aufstieg des Ballons

Den vielen nun, die nicht Gelegenheit haben, eine Ballonfahrt zu unternehmen, wollen wir hier an der Hand einiger aus dem Luftballon aufgenommener Photographien zeigen, wie sich unsere Erde von oben ausnimmt. Die Bilder stammen von dem Luftschifferkapitän Spelterini, der durch seine wissenschaftliche Fahrt über die Alpen mit dem Ballon Vega weiteren Kreisen in Erinnerung sein dürfte.

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Es interessiert wohl, einige wenige Worte über das Photographieren aus dem Ballon zu hören.

Vorweg sei bemerkt, daß die Reproduktionen von Ballonphotographien, bei denen doch immer Entfernungen von mehreren hundert oder tausend Metern in Betracht kommen und auf denen infolgedessen die auf der Er de befindlichen Gegenstände in entsprechender Kleinheit erscheinen müssen, nie so gut werden können wie die Negative selbst.

Im Luftschiff über die Alpen – 700 m über der Ausstellung von Thun

Beim Photographieren aus der Höhe ist man immer auf Momentaufnahmen angewiesen, da auch ein Fesselballon sich äußerst selten in absoluter Ruhe befindet. Stativkameras sind schwer verwendbar, da ihr Gebrauch im Ballon ãußerst umständlich ist. Am besten braucht man Handkameras, die wenig Raum wegnehmen und eine große Beweglichkeit gestatten. Bedingung ist bei ihnen aber, daß sie für Platten eingerichtet sind, da man mit Films selten scharfe Bilder erzielt. Bei den Platten sind es wieder die farbenempfindlichen, die am brauchbarsten sind, da diese bei den namentlich in Sommer auf der Erde lagernden Dunstschichten die einzelnen Gegenstände am schärfsten wiedergeben. Besonderer Wert muß auf das Objektiv gelegt werden; es würde zu weit führen, die vielen Anforderungen aufzuzählen, die an eine Linse gestellt werden, mit der aus einem Ballon photographiert werden soll. Man verwendet am besten entweder den Steinheilschen Orthostigmat oder die Goerzschen Doppelanastigmate; mit diesen erreicht man einerseits bei verhältnismäßig großer Lichtstärke ein möglichst großes Bildfeld mit genügender Schärfe, andererseits eine ganz genaue zentrale Perspektive. Als Verschluß ist jeder Momentverschluß brauchbar, gut hat sich u. a. ein Anschützscher bewährt, bei dem die einzelnen Teile der Platte nacheinander belichtet werden, so daß das unvermeidliche Bewegen des Apparats während des Exponierens nicht viel schadet.

Im Luftschiff über die Alpen – 1200 m über der Stadt Thun an dem Aarefluss

Wir sehen zuerst den Aufstieg eines Freiballons. Der Ballon ist glatt aufgestiegen, und die Fahrer senden unter den Zurufen der Zuschauer einen Abschiedsgruß zur Erde. Wie oft haben sie wohl vor der Auffahrt die stereotype, ohne Ueberlegung gestellte Frage, wohin sie fahren wollen, mit einem Achselzucken beantworten müssen! Nicht einmal die genaue Richtung können sie mit Bestimmtheit angeben, da sehr häufig in der Höhe ein ganz anderer Wind herrscht als unten auf der Erde.

Darin liegt eben auch ein gewisser Reiz beim Ballonfahren, daß man bei der Abfahrt nicht wissen und bestimmen kann, wo man landen wird.

Im Luftschiff über die Alpen (4200 m hoch) – über einem Wolkenmeer

Herrlich sind die Naturgenüsse während der Fahrt; es ist unmöglich, mit Worten wiederzugeben, welch erhabene Gefühle den Menschen hoch oben über der Erde freischwebend in weltentrückter Stille beseelen. Nur dumpf tönt das Stimmengewirr größerer Ortschaften an das Ohr des Luftschiffers; an dem Zusammenlaufen vieler schwarzer Punkte auf der Erde, alias Menschen, sieht er, daß der plötzlich am Himmel erscheinende Ballon den Gegenstand der Bewunderung bildet.

Eine besondere Aufmerksamkeit wird dem Luftschiff seitens der Tauben gezollt, die ängstlich und furchtsam, dicht zusammengedrängt, über den Dächern hin- und herflattern, da sie in dem Riesenflieger einen Raubvogel vermuten, der es auf sie oder ihre zarte Brut abgesehen hat.

Im Luftschiff über die Alpen (4500 m hoch) – über den Teufelsbergen (Diablerets) in den Freiburger Alpen

Wir sehen auf unsern Bildern, wie mit zunehmender Höhe die Häuser immer kleiner werden, wie stolz aus dem Häusermeer die himmelanstrebenden Bauten der Gotteshäuser emporragen; wenn der Straßenlärm für das Ohr des Luftschiffers vollkommen verstummt ist, mahnt ihn das eherne Geläut ihrer Glocken daran, daß er auf die Erde gehört und nicht vermessen in zu große Höhen dringen darf, wo die zu dünne Atmosphäre ein Atmen auf gewöhnlichem Wege nicht mehr gestattet.

Wir erkennen aus einer Höhe von 1200 Metern noch das Zifferblatt der Uhr an der Thuner Kirche, mit einem Fernglas sehen wir, daß es gerade!e 12 Uhr ist. Wie Silberfäden nehmen sich die Arme der Aare aus, die die Stadt durchfließt. Auf den beiden Brücken und auf dem freien Platz im Vordergrund sehen wir Menschen und Fahrzeuge dahineilen.

Im Luftschiff über die Alpen (1200 m hoch) – über der Genfer Aussstellung mit ihrem Fesselballon

Deutlich markieren sich im Hintergrund rechts die einzelnen Felder durch ihre Furchen und wechselnden Saaten. Deutlich schimmert in der Ferne in bläulichem Dunst das Gebirge; schweben wir erst über ihm, so verliert es an Massigkeit, die Höhen scheinen aus der Vogelperspektive flach und niedrig zu sein. Wir sehen es den Teufelsbergen (Diablerets) in den Freiburger Alpen, die gerade aus unserer Höhe von 4500 Metern durch ein Wolkenloch sichtbar werden, nicht an, daß sie über 3200 Meter hoch sind. Ein eigener Anblick ist es, wie die Wolken in zerrissenen Gebilden unter uns dahineilen.

Wild zerklüftet liegen die Waadtländer Berge zwischen Rhone und Aare unter uns, in der Ferne zeigt sich links der Tour de Mayen. Da taucht ein See unter uns auf; es ist der Lac de Neuchatel, den wir uns aus einer Höhe von 4500 Metern ansehen. Die Pracht, die der Anblick eines Sees dem Auge bietet, ist leider auf einem Bild nicht gut wiederzugeben. Wir sehen noch das Rhonethal mit dem Fels von Tourlillen im Vordergrund und die Ausstellung am Quai des Eaux Vives am Genfer See, in der ein Fesselballon den Besuchern gegen einiges Entgelt einen Begriff von der Schönheit einer Ballonfahrt zu geben versucht.

Im Luftschiff über die Alpen (1500 m hoch) – Aufnahme von Thun beim Abstieg des Ballons

Wir können unsern Lesern nur raten, wenn irgendmöglich, durch eine Fahrt sich zu überzeugen, daß die Pracht, die er von oben schaut, wirklich so großartig ist. Die Gefahren einer Luftschiffahrt braucht er nicht zu scheuen, denn sie sind, wie gesagt, heute nur noch gering.

Dieser Artikel erschien zuerst 1900 in Die Woche.